Wen kümmert schon Europa?
Über das öffentliche Meinungsbild zur Europäischen Union und ihren Wahlen
Ann-Kathrin ReinlDaniela Braun
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Wie steht es um die öffentliche Unterstützung der EU? Wie beeinflussen internationale Krisen das politische Vertrauen? Und wie werden die Institutionen der EU wahrgenommen? Ein Überblick anlässlich der Europawahlen 2024.
Am Interner Link: 9. Juni 2024 findet in Deutschland die zehnte Direktwahl des Europäischen Parlaments statt. Diese Wahl könnte die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament weiter zugunsten der Fraktionen des rechten Parteienspektrums verschieben. So liegen in aktuellen Umfragen rechtspopulistische und euroskeptische Parteien in vielen Ländern der Gemeinschaft besonders hoch im Kurs und könnten in neun EU-Mitgliedsstaaten gar die stärkste sowie in weiteren neun Mitgliedsstaaten die zweit- oder drittstärkste politische Kraft bilden.
Doch bedeutet dies auch, dass sich die Bürger*innen der Gemeinschaft nicht für die Europäische Union (EU) interessieren oder deren politische Institutionen gar ablehnen? Um diese Fragen eingehender zu beleuchten, nimmt der vorliegende Beitrag das öffentliche Meinungsbild zur EU genauer unter die Lupe und diskutiert dabei sowohl historische Trends als auch aktuelle politische Maßnahmen.
Öffentliche Unterstützung der Europäischen Union
Die erste Vorläuferorganisation der heutigen EU, die Interner Link: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), wurde im Jahr 1951 durch den Pariser Vertrag gegründet. Diese Organisation, damals bestehend aus sechs westeuropäischen Staaten, verfolgte im Wesentlichen zwei Ziele. Erstens sollte durch eine institutionalisierte Kooperation ihrer Mitgliedsstaaten der Frieden innerhalb Europas gewahrt werden und dies sollte, zweitens, durch grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Handel geschehen. Im Laufe der Zeit erweiterte sich diese anfänglich (auf Kohle und Stahl) begrenzte Zusammenarbeit auf eine Vielzahl weiterer Wirtschaftssektoren und Politikbereiche.
Die öffentliche Meinung gegenüber der Union gestaltete sich insbesondere in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung weitestgehend positiv. In der wissenschaftlichen Literatur bezeichnet man diese Zeit auch als eine Ära allgemeiner Zustimmung (Interner Link: „permissive consensus“). Dieser Trend änderte sich jedoch mit dem Interner Link: Vertrag von Maastricht, welcher im Jahr 1992 unterzeichnet wurde. Im Zuge dieses Vertrags, der unter anderem die Gründung der EU mit sich brachte, wurden der Gemeinschaft neben den bereits erlangten Kompetenzen im Wirtschaftsbereich weitreichende Zuständigkeiten in anderen Politikbereichen übertragen. Diese politische Neuausrichtung blieb seitens der EU-Bevölkerung nicht ungeachtet. Im Nachgang der Unterzeichnung des Vertrags ließ sich ein Interner Link: Rückgang in der öffentlichen Zustimmung zur EU verzeichnen, welcher als „post-Maastricht blues“ bekannt ist, und den Auftakt des öffentlichen Dissens über Europa („constraining dissensus“) markiert. Diese Skepsis gegenüber der europäischen Integration intensivierte sich erneut im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte.
Der Einfluss internationaler Krisen auf das politische Vertrauen
Abbildung 1 gewährt Einblick in die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur EU von 2004 – zwölf Jahre nach Maastricht und vor dem Ausbruch der Europäischen Staatsschuldenkrise – bis 2021 – ein Jahr nach Ausbruch der Covid-19 Pandemie. Genauer gesagt bildet die Grafik das über Umfragedaten erfasste öffentliche politische Vertrauen in die EU (allgemein) sowie in das Europäische Parlament (EP) und die Europäische Kommission (EK) ab. Es zeigt sich, dass alle drei Formen des gemessenen politischen Vertrauens ein ähnliches Muster aufweisen. Vor Ausbruch der globalen Finanz- und Europäischen Staatsschuldenkrise war das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen überdurchschnittlich hoch. Ab 2011 nahm das allgemeine Vertrauen in die EU dann erstmals einen unterdurchschnittlichen Wert an. Weniger als 50 Prozent der Befragten gab in dieser Zeit an, der EU noch zu vertrauen. Dieser Trend erholt sich auch nicht in den Jahren steigender Migrationszahlen, sondern erstmalig wieder 2017, dem Jahr nach dem Interner Link: Brexit-Referendum.
Diese „Erholung“ ab 2017 könnte auf eine Vielzahl von Ursachen zurückzuführen sein. So könnte das erneut ansteigende Vertrauen darin begründet sein, dass bereits einige Zeit seit den größeren Krisenereignissen vergangen war und die Wirtschaft sich in vielen Ländern der EU wieder erholte. Es könnte jedoch auch damit zusammenhängen, dass der geplante Ausstritt des Vereinten Königreichs aus der Gemeinschaft nicht planmäßig verlief und andauernde Brexit-Verhandlungen sowie eine abnehmende Wirtschaftsleistung das Land lähmten – eine Entwicklung, die seitens der EU-Bevölkerung nicht unbeobachtet blieb und die gar zu einem Rückgang an Austrittswünschen in der restlichen Gemeinschaft führte.
Im Jahr 2020 – das Jahr des Pandemiebeginns – erlebte das allgemeine Vertrauen in die EU, und etwas weniger auch das Vertrauen in die angeführten EU-Institutionen, einen erneuten Dämpfer. Eine mögliche Ursache hierfür könnte sein, dass die EU kurz nach Ausbruch der Pandemie nur wenige Befugnisse im Gesundheitsbereich besaß und nationale Alleingänge in dieser Zeit dominierten. Diese anfängliche Uneinigkeit wich jedoch schnell einem gemeinschaftlichen Handeln der EU-Staaten. Bereits im Sommer 2020, nur wenige Monate nach Pandemiebeginn, einigten sich die Mitgliedsstaaten auf das größte Konjunkturpaket der EU-Geschichte (Next Generation EU), es wurde eine Strategie für die gemeinsame Impfstoffbeschaffung auf den Weg gebracht und der Interner Link: bis dato größte EU-Haushalt beschlossen. Im Zuge dessen stieg auch das Vertrauen in die Gemeinschaft wieder an.
Darüber hinaus lesen wir aus Abbildung 1 ab, dass das Vertrauen in das EP über alle betrachteten Jahre hinweg die höchsten Werte aufwies. Dies gibt an, dass die Menschen in der EU nicht nur zwischen den politischen Institutionen der Gemeinschaft zu unterscheiden vermögen, sondern auch, dass die einzig direkt demokratisch gewählte EU-Institution den besten Ruf genießt. Der nachfolgende Abschnitt widmet sich deshalb den Wahlen zum EP und der öffentlichen Wahrnehmung dieser.
Europawahlen: Was sie auszeichnet und wie das Interesse an ihnen gesteigert werden soll
Die Wahlen zum EP sind die Interner Link: einzigen direkten Wahlen auf EU-Ebene. Ihre Einführung wurde am Interner Link: 20. September 1976 beschlossen, die ersten Wahlen fanden im Interner Link: Juni 1979 statt. Hierbei wurde das Ziel verfolgt, die Bedeutung des Parlaments im Institutionensystem der EU zu stärken und gleichzeitig die demokratische Legitimation des Staatenbundes zu erhöhen. Mit Blick auf das erste ausgemachte Ziel können wir einen Bedeutungszuwachs des EP im Laufe der Jahre erkennen. Inzwischen entscheidet das EP in zahlreichen Bereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat über europäische Gesetze und den EU-Haushalt. Hinzu kommt, dass die Zustimmung des EP bei der Ernennung der Präsidentin/des Präsidenten der Europäischen Kommission erforderlich ist.
Bezüglich des zweiten Ziels stellt sich jedoch die Frage, ob durch das EP und seine Wahlen ebenfalls die Legitimation des Staatenbundes erhöht werden konnte. Seit Einführung der Europawahlen werden diese in der politikwissenschaftlichen Forschung als sogenannte Interner Link: „Nebenwahlen“ klassifiziert. Dieser Nebenwahlcharakter lässt sich folgendermaßen erklären: Da bei diesen Wahlen weniger auf dem Spiel steht als bei nationalen Hauptwahlen ist, erstens, die Wahlbeteiligung hier im direkten Vergleich zu diesen nationalen Hauptwahlen (das sind in Deutschland die Bundestagswahlen) niedriger. Zweitens verlieren in diesen Wahlen Regierungsparteien und größere, etabliertere Parteien eher Stimmen, wohingegen, drittens, kleine und ideologisch extreme Parteien tendenziell eher Stimmen gewinnen. Mit Blick auf die jüngeren Europawahlen der Jahre Interner Link: 2014 und Externer Link: 2019 ließ sich erstmalig eine Abweichung von diesen altbekannten Mustern beobachten. Es spielten nicht mehr nur nationale Themen eine Rolle für die EP-Wahlentscheidung, sondern europäische Anliegen erlangten zunehmend an Relevanz. Dies zeigte sich insbesondere im Rahmen der 2019er Wahl: Auch wenn nationalstaatliche Beweggründe für die Wahlentscheidung weiterhin von Bedeutung waren, gestalteten sich die EP-Wahlen 2019 so europäisch wie nie zuvor. Europäische Themenbereiche, wie eine europäische Wirtschafts- oder Migrationspolitik, sowie das Themenfeld Klimawandel bzw. Umweltschutz in Europa und die Europäische Integration selbst, wirkten sich gar positiv auf die Mobilisierung der Wählerschaft aus.
Neben diesen positiven Mobilisierungstrends der vergangenen Jahre gab es zudem eine Reihe politischer Maßnahmen, welche darauf abzielten, das öffentliche Interesse an Europawahlen weiter zu erhöhen. Hierzu zählt die Einführung der europaweiten Interner Link: Spitzenkandidatenregelung, die mit den Europawahlen 2014 erstmals – und somit bislang zwei Mal in der Geschichte der Europawahlen – durchgeführt wurde. Da sich diese Spitzenkandidatenregelung jedoch als weitestgehend ungeeignet herausstellte, die Sichtbarkeit der Europawahlen maßgeblich zu erhöhen, werden seit einiger Zeit weitere Ideen entwickelt, um die Bürger*innen noch stärker in die direkte Ausgestaltung der EU miteinzubeziehen. Prominente Beispiele hierfür sind die Externer Link: „Europäische Bürgerinitiative“, mit der eine Million EU-Bürger*innen aus einem Viertel der EU-Mitgliedsstaaten die Europäische Kommission auffordern können, neue Gesetze vorzuschlagen, sowie die Externer Link: „Conference on the future of Europe“. Hierbei handelte es sich um ein offenes Forum, bei dem Teilnehmende über ein Jahr hinweg im Zuge von nationalen und europäischen Bürgerforen sowie über eine mehrsprachige Online-Plattform Vorschläge für die politische Ausgestaltung der EU erarbeiteten, welche im Anschluss dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union sowie der Europäischen Kommission überreicht wurden. Darüber hinaus wurde der Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bezüglich einer Einführung sogenannter „transnationaler Listen“ diskutiert.
Transnationale Listen
In allen bislang durchgeführten Wahlen zum Europäischen Parlament konnten die Bürger*innen ihre Stimme nur für Parteien und Kandidierende aus ihrem eigenen Land abgeben. Dies bedeutet, dass deutsche Bürger*innen deutsche Parteien wählen, französische Bürger*innen französische Parteien wählen usw. Folglich erlangen die bei den Europawahlen antretenden Kandidat*innen nur in der Wählerschaft des eigenen EU-Mitgliedsstaates einen gewissen Bekanntheitsgrad. Außerdem repräsentieren sie primär die Partei des eigenen Landes und führen auf dieser Ebene Wahlkampf. Da sich dies hinderlich auf einen genuin europäischen Wahlkampf auswirkt, ist nun schon länger eine Veränderung dieser nationalen Logik des Wählens im Gespräch. Ziel wäre es, europaweit Kandidat*innen auf einer transnationalen, d.h. gesamteuropäischen, Liste aufzustellen. Auf diesen Listen wären somit europaweit identische Kandidat*innen wählbar.
Diese Listen sollen jedoch auch mit Blick auf die anstehende Europawahl 2024 nicht eingeführt werden. Die Mehrheit der Mitgliedsstaaten verweigerte ihre Zustimmung zu einer solchen Neuerung.
Europawahl 2024: Ein aktuelles Stimmungsbild
Im September und Oktober 2023 führte das EP eine öffentliche Umfrage zur anstehenden Europawahl 2024 durch. Rund 70 Prozent der Befragten geben an, dass die EU einen Einfluss auf ihr tägliches Leben habe. Als positiv wurde insbesondere bewertet, dass die EU zum Erhalt von Sicherheit und Frieden beitrage und die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten verbessere. Zudem wünscht sich die Mehrheit der Befragten in den meisten Mitgliedsländern, dass das EP selbst zukünftig eine wichtigere Rolle spielt. Themen, welche seitens des EP in Zukunft noch stärker priorisiert werden sollten, sind laut dieser Umfrage der Kampf gegen Armut, die öffentliche Gesundheit sowie Klimapolitik und die Schaffung neuer Arbeitsstellen.
Daraus schlussfolgernd lässt sich festhalten, dass das öffentliche Interesse an der EU und ihren Institutionen durchaus vorhanden ist. Nun liegt es an den Mitgliedsländern sowie den EU-Institutionen selbst, dieses Potential weiter auszuschöpfen und mobilisierende Maßnahmen wohlwollend zu unterstützen.
Ann-Kathrin Reinl ist Max Weber Fellow am Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute, Fiesole, Italien.
Daniela Braun ist Professorin für Politikwissenschaft in der Fachrichtung Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung sowie am Cluster für Europaforschung (CEUS) an der Universität des Saarlandes.
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