In den letzten Jahren gab es im deutschen Parteiensystem gravierende Veränderungen. Bei der Bundestagswahl von 2017 musste die Union hohe Verluste hinnehmen und erzielte mit 32,9 Prozent das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte. Damit lag sie aber immer noch deutlich vor der SPD, die mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer bundesrepublikanischen Geschichte einfuhr. Der FDP, die 2013 knapp an der 5-Prozent-Hürde gescheitert war, gelang mit 10,7 Prozent ein bemerkenswertes Comeback und die AfD, die 2013 den Einzug in den Bundestag ebenfalls knapp verfehlt hatte, wurde mit 12,6 Prozent zur drittstärksten Partei. Die Grünen und die Linkspartei dagegen mussten sich mit geringen Steigerungsraten zufriedengeben und kamen auf 8,9 bzw. 9,2 Prozent.
Nach der Wahl hat sich ein weiterer Wandel vollzogen: Zunächst ließ die Absage einer Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP durch die FDP deren Werte nach unten gehen, dann führten der monatelange Streit in der SPD um ihre Beteiligung an einer erneuten Großen Koalition und das Agieren ihres Vorsitzenden Martin Schulz zu einem Absturz der SPD. Im Sommer 2018 folgte ihr die Union nach einem heftigen Streit zwischen CDU und CSU um die flüchtlingspolitischen Pläne von Innenminister Horst Seehofer. Im Herbst fielen nach der heftig umstrittenen Entscheidung im Fall des früheren Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen die Umfragewerte von Union und SPD auf einen historischen Tiefststand. Mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur neuen CDU-Vorsitzenden erholten sich die Unionswerte am Jahresende wieder und auch die SPD legte nach der Vorstellung ihres neuen Sozialkonzepts im Februar 2019 wieder geringfügig zu. Deutlich hinzugewinnen konnten aus verschiedenen Gründen seit Mitte 2018 die Grünen, während die AfD nach einem Zwischenhoch im Herbst in den letzten Monaten wieder in Höhe ihres Bundestagswahlergebnisses liegt. An der Wählerzustimmung für die FDP und die Linkspartei hat sich dagegen seit mehr als einem Jahr kaum etwas verändert.
Bei der Europawahl steht für alle Parteien viel auf dem Spiel: In der Union, die mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten und Wahlprogramm antritt, muss die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zeigen, dass sie nach der Einbindung der Anhänger ihres innerparteilichen Gegners Friedrich Merz aus dem Wirtschafts- und konservativen Flügel der Partei und der Versöhnung mit der CSU nun auch wieder bundesweite Wahlen gewinnen kann. Für die SPD bietet die Wahl vielleicht die letzte Chance, durch ein gutes Ergebnis ihren Volksparteienstatus wiederzugewinnen. Die Grünen werden mit der SPD um Platz zwei im Parteiensystem ringen. FDP, Die Linke und die AfD kämpfen um ein zweistelliges Ergebnis, wobei Letztere den Umfragen zufolge momentan noch die größten Chancen hat, als stärkste Kraft dieser drei Parteien abzuschneiden. Um ihre Ziele zu erreichen, müssen die Parteien ihre Wählerklientel zunächst davon überzeugen, überhaupt wählen zu gehen. Das war bei Europawahlen schon immer deutlich schwieriger als bei Bundestagswahlen, da die Bevölkerung den Entscheidungen des Europäischen Parlaments (EP) für das eigene Alltagsleben eine relativ geringe Bedeutung zumisst. Bei Europawahlen wird keine Regierung gewählt, so dass diese Wahlen im Vergleich zu Bundestagswahlen als deutlich weniger wichtig eingestuft werden. Von daher betonen alle Parteien, dass es sich um eine "Schicksalswahl" für Europa handle, um der zu erwartenden relativ geringen Wahlbeteiligung entgegenzuwirken.
Neben den hier angesprochenen Bundestagsparteien dürften auch bei dieser Wahl wieder mehrere kleine Parteien zum Zuge kommen, da es – im Gegensatz zu Bundestagswahlen – aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Fünf-Prozent-Sperrklausel gibt. Daher genügte 2014 schon ein Ergebnis von 0,6 Prozent der Stimmen für ein Mandat, so dass auch die Freien Wähler, die Piraten, die Tierschutzpartei, die NPD, die Familienpartei, die ÖDP sowie Die PARTEI jeweils einen Sitz erhielten. Das EP hat zwar im Juli 2018 ein neues Wahlgesetz verabschiedet, das für Länder mit mehr als 35 Sitzen – also auch für Deutschland – bis "spätestens 2024" eine Zwei- bis Fünf-Prozent-Hürde vorsieht. Ein entsprechender Gesetzesentwurf für 2019 wurde jedoch von der Großen Koalition nicht weiter verfolgt, nachdem von den Grünen, deren Zustimmung im Bundesrat für die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig gewesen wäre, zuletzt ablehnende Signale kamen.
Die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien
Seit der Europawahl 2014 gibt es nicht nur die jeweiligen nationalen, sondern auch europaweite Spitzenkandidatinnen und –kandidaten. Sie werden von den "europäischen Parteien", also den europaweiten Zusammenschlüssen nationaler Mitgliedsparteien, aufgestellt. Die Spitzenkandidaturen sind zum einen für das EP relevant, da diese Personen in der Regel die Vorsitzenden ihrer Fraktionen werden. Sie sind zum anderen auch eine Vorentscheidung für den Posten des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission. Nach der Europawahl 2014 hatte sich das EP sehr schnell hinter Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der aus der Wahl als stärkste Fraktion hervorgegangenen EVP, als künftigen Kommissionspräsidenten gestellt – obwohl das Vorschlagsrecht für dieses Amt beim Europäischen Rat lag. Unter den Staats- und Regierungschefs gab es Vorbehalte gegen Juncker, aber das EP setzte sich letztlich durch. Damit ging das vertraglich geregelte, alleinige Nominierungsrecht des Europäischen Rates faktisch auf das EP über. In einer Entschließung vom Februar 2019 warnte das Parlament daher auch davor, dass es alle Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten ablehnen wolle, die nicht vor der Europawahl 2019 als Spitzenkandidaten aufgestellt wurden.
In Deutschland nehmen die CDU und die CSU mit Landeslisten an der Wahl teil, alle anderen Parteien mit einer Bundesliste. Als Spitzenkandidat wurde der stellvertretende Parteivorsitzende und Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im EP, Manfred Weber, gewählt. Die EVP hatte ihn kurz zuvor zum europaweiten Spitzenkandidaten gekürt. Im Januar 2019 nominierte der CDU-Bundesvorstand Weber einstimmig auch als Nummer 1 der CDU. Somit treten CDU und CSU zu dieser Wahl erstmals mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten an.
Die anderen Parteien führten vom November 2018 bis Februar 2019 Bundesdelegiertenversammlungen durch, auf denen die jeweiligen Bundeslisten gewählt wurden. Spitzenkandidatin der SPD ist die amtierende Bundesjustizministerin Katarina Barley, zum europäischen Spitzenkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Europas wurde der niederländische Sozialdemokrat und Vizepräsident der Kommission, Frans Timmermans, gewählt. Die Grünen werden von Ska Keller, der Co-Vorsitzenden der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament, und dem Europaabgeordneten Sven Giegold angeführt. Keller ist auch Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen Partei – zusammen mit Bas Eickhout von der Niederländischen Grünen Linken. Spitzenkandidat der AfD wurde ihr Co-Vorsitzender Jörg Meuthen. Meuthen, der seit Anfang 2018 als Nachrücker das Mandat der in den Bundestag gewählten Beatrix von Storch wahrnimmt, ist heute das einzige AfD-Mitglied im EP. Fünf der sieben Abgeordneten, die 2014 für die AfD in das Parlament gewählt wurden, traten nach der Abspaltung des Flügels um den AfD-Mitgründer Bernd Lucke im Sommer 2015 in dessen neugegründete Partei (ALFA, später LKR) über. Marcus Pretzell wechselte nach der Bundestagswahl 2017 und dem AfD-Austritt seiner Frau, der damaligen Co-Vorsitzenden Frauke Petry, zu der von ihr gegründeten Die blaue Partei. Jörg Meuthen, der der Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie angehört, möchte eine Zusammenführung der momentan in mehreren Fraktionen organisierten rechten Parteien im EP erreichen. Die FDP wählte ihre Generalsekretärin Nicola Beer zur Spitzenkandidatin. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa tritt mit einem Team von sieben Spitzenkräften, darunter auch Nicola Beer, zur Wahl an.
Von der Linkspartei wurden der Europaabgeordnete Martin Schirdewan und die frühere NRW-Landeschefin Özlem Demirel zum Spitzenduo gewählt. Gemeinsame Spitzenkandidaten der Partei der Europäischen Linken sind die Slowenin Violeta Tomič von der Levica-Partei und der Belgier Nico Cué, der ehemalige Generalsekretär der Metallarbeitergewerkschaft Wallonie-Brüssel.
Bedeutsame programmatische Gemeinsamkeiten und Differenzen
Die generelle Haltung zur Europäischen Union unterscheidet sich zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien gravierend: Während die Union, die SPD, die Grünen und die FDP ihre verschiedenen Reformvorstellungen mit einer grundsätzlichen Bejahung der gegenwärtigen Vertragsgrundlagen verbinden, fordert die Linkspartei deren Revision in Form eines grundlegenden Neustarts. Die AfD tritt für ein Europa der Nationen ein, also für eine Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten, und hält einen Austritt Deutschlands aus der EU für notwendig, wenn sich ihre weitreichenden Vorstellungen nicht in angemessener Zeit verwirklichen lassen.
Auch in den wichtigen Politikbereichen gibt es deutliche programmatische Differenzen zwischen den Parteien. In der Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wendet sich die Linkspartei generell gegen eine "Militarisierung" der EU und lehnt daher – wie auch die AfD – den von den anderen Parteien geforderten Aufbau einer europäischen Armee und Mehrheitsentscheidungen im Rat ab. Die Union will gemeinsame europäische Rüstungsexportrichtlinien entwickeln, während die anderen Parteien sich explizit gegen Rüstungsexporte in Krisenregionen und Diktaturen aussprechen. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik fordert die Linkspartei die Überführung von Schlüsselindustrien in öffentliches Eigentum und – zusammen mit der SPD und den Grünen – einheitliche Mindeststeuersätze für Unternehmen. Alle Parteien außer AfD und FDP sprechen sich für eine Finanztransaktionssteuer und die Besteuerung von Digitalkonzernen aus. SPD und Grüne sind darüber hinaus für die Einführung von EU-Steuern und eines gemeinsamen Eurozonen-Haushalts, während die AfD für die Wiedereinführung nationaler Währungen eintritt, gegebenenfalls unter paralleler Beibehaltung des Euro. In der Sozialpolitik fordert die Linke europaweite Mindestlöhne, Mindestrenten und Mindestsicherungen, während die Union, die FDP und die AfD dafür eintreten, dass die Verantwortung für die Sozialsysteme und Arbeitsmarktpolitik bei den Mitgliedstaaten verbleibt. In der Flüchtlingspolitik reichen die Positionen von der Linkspartei, die sich für grenzüberschreitende Solidarität, offene Grenzen für alle Menschen und die Ausweitung verbindlicher Flüchtlingsrechte auf Armuts-, Umwelt- und Klimaflüchtlinge einsetzt, bis zur AfD, die in Deutschland möglichst niemanden mehr neu aufnehmen, abgelehnte Asylbewerber konsequent abschieben und anerkannten Asylbewerbern keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus einräumen will. In der Umwelt- und Energiepolitik wollen die Grünen die EU durch ambitionierte politische Vorgaben wie den europaweiten Ausstieg aus fossilen Energieträgern und die drastische Senkung der CO₂-Emissionen zum weltweiten Vorreiter für Klimaschutz machen. Die FDP hingegen setzt auf die Kräfte und Kreativität des Marktes, die AfD hält Klimaschutzpolitik generell für einen Irrweg.