Umso wichtiger ist es, diese Errungenschaft zu erhalten, die in letzter Zeit von einigen Kommentatoren und sogar Politikern in den EU-Mitgliedstaaten in Frage gestellt worden ist. Das hat damit zu tun, dass nicht nur Menschen die Freizügigkeit genutzt haben, die am Ankunftsort einen Arbeitsplatz hatten, sondern auch solche, die einen Job suchen und die unter bestimmten Bedingungen auch Sozialleistungen der Zielländer in Anspruch nehmen können.
Im Zusammenhang mit der Ankunft zahlreicher Flüchtlinge in Italien haben die dortigen Behörden den Menschen einen befristeten Aufenthalt gegeben und sie direkt oder indirekt zur Weiterreise in andere EU-Staaten ermuntert – was gerade in Frankreich und in Deutschland kritische Reaktionen ausgelöst hat. 2013 hat der Rat der Europäischen Union beschlossen, dass die Schengen-Regeln, die die Freizügigkeit garantieren, bis zu zwei Jahre lang von einem Mitgliedstaat außer Kraft gesetzt werden können. Dieser muss dafür besondere Umstände geltend machen, die im Wesentlichen darin bestehen, dass ein anderes Schengen-Mitglied als nicht in der Lage erachtet wird, seine Verpflichtungen zum Schutz der Außengrenze zu erfüllen. In einem solchen Fall kann ein Mitgliedstaat, auf der Basis einer Empfehlung des Rates, für längstens zwei Jahre wieder Kontrollen an den Binnengrenzen durchführen.
Das Recht auf Freizügigkeit wird von solchen Entwicklungen Stück für Stück in Mitleidenschaft gezogen. Es wird in der nächsten Zeit darauf ankommen, dass dieses Kernrecht aller EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht ausgehöhlt wird, da sonst die öffentliche Akzeptanz für die Europäische Union darunter leiden könnte.
Angefacht wurde die Debatte um die Freizügigkeit im Februar 2014 auch durch eine Entscheidung jenseits der Grenzen. In der Schweiz hatten die Bürger in einem Referendum, wenn auch mit knapper Mehrheit, beschlossen, die bislang mit der EU vereinbarte bedingungslose Freizügigkeit für EU-Bürger einzuschränken, indem Kontingente für Zuwanderung festgelegt werden sollen. Diese Maßnahme richtet sich auch gegen Deutsche, die in der Schweiz berufstätig sind. Die Ausweitung der bisherigen Freizügigkeitsregelungen auf das neue EU-Mitglied Kroatien wurde von der Schweiz abgelehnt. Allerdings ist die Freizügigkeit gemeinsam mit anderen Regeln, die der Schweiz auch den Zugang zum EU-Binnenmarkt garantieren, vereinbart worden. Eine „Guillotine-Klausel“ legt fest, dass sobald eines der Abkommens außer Kraft gesetzt wird, auch die anderen ungültig sind. Wie dieses Problem gelöst wird, lässt sich derzeit (Februar 2014) nicht absehen.
Zusammenarbeit bei Justiz, Innenpolitik und Zivilrecht
Das Recht auf Freizügigkeit ist ein Teil des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR). Ziel des RFSR ist es nicht nur, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in der gesamten EU frei bewegen und dort leben können, wo sie möchten, sondern auch, dass sie gleichzeitig ein hohes Maß an Schutz genießen. Deshalb haben die EU-Staaten eine engere Zusammenarbeit in rechts- und innenpolitischen Fragen beschlossen. Doch nicht alle Staaten beteiligen sich in gleicher Weise an dieser Kooperation: Das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark haben Sonderregelungen vereinbart, die ihnen unter anderem in den Bereichen Justiz und Innenpolitik weiterhin nationale Freiheiten garantieren.
Zum weiteren Ausbau des RFSR hat der Europäische Rat Ende 2009 das Stockholmer Programm vereinbart, das Nachfolgedokument des 2004 verabschiedeten Haager Programms. Ziel des Stockholmer Programms ist die volle Gewährleistung der Unionsbürgerschaft für alle EU-Bürger, also der Grundrechtschutz und die Wahrung der persönlichen Freiheit über Grenzen hinweg, auch im Bereich des Datenschutzes.
Der europäische Rechtsraum soll ausgebaut werden, so dass Menschen überall in der Union ihre Rechte geltend machen können. Hindernisse der grenzüberschreitenden Anerkennung von Gerichtsentscheidungen sollen abgebaut werden. Um die Sicherheit der Bürger vor Terrorismus und organisierter Kriminalität zu erhöhen, soll die Zusammenarbeit in den Bereichen Strafverfolgung, Grenzmanagement, Katastrophenschutz und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen gestärkt werden. Das Stockholmer Programm läuft 2014 aus, ein fortführendes Programm wird aber erwartet. Parallel dazu gibt es eine engere bilaterale Polizeikooperation entlang der Binnengrenzen beispielsweise zwischen Deutschland und Polen. Nachdem im deutsch-polnischen Grenzbereich die Zahl der Einbrüche und Kraftfahrzeugdiebstähle stark gestiegen ist, haben sich die Polizeibehörden beider Länder stärker vernetzt und führen unter anderem gemeinsame Streifen durch.
Auch im zivilrechtlichen Bereich wird die Zusammenarbeit weiter forciert. Dabei geht es um die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsurteilen zum Beispiel in Erb- oder Sorgerechtsangelegenheiten oder um eine Festlegung, welches Scheidungsrecht bei binationalen Ehen von EU-Bürgern anzuwenden ist. Auch im Kaufrecht soll es weitere Vereinheitlichungen geben, um so das grenzüberschreitende Alltagsleben (und sei es, dass die Grenzüberschreitung via Internet stattfindet) für die Menschen in der EU zu erleichtern.