Nicht zuletzt wird die EU daran gemessen, inwieweit es möglich ist, die sozialen Standards in Europa zu erhalten und auszubauen. Nach einer langen Phase des Wohlstands fürchten immer mehr Menschen in Europa um ihre Existenzgrundlage. Die Globalisierung erleichtert es uns, Güter, Dienstleistungen und Kapital mit anderen Ländern zu handeln. Aber sie setzt uns auch der weltweiten Konkurrenz aus.
Die Zeiten beispielsweise, in denen man nur in den USA und in Europa gute Autos bauen konnte, sind lange vorbei. Die Konkurrenz kommt heute auch aus Japan und Korea, morgen aus Indien und aus China - genau wie bei Unterhaltungselektronik oder Textilien. So schön das für Konsumenten ist, die eine größere Auswahl zu niedrigeren Preisen bekommen, so schwierig ist es für die Produzenten, die unter einem bislang ungekannten Kostendruck stehen.
Die Europäische Union kann weder den Unternehmen noch den einzelnen Beschäftigten die Sorgen nehmen. Sie kann allerdings dafür sorgen, dass es innerhalb der Europäischen Union keinen unfairen Unterbietungswettbewerb gibt und sie kann im internationalen Kontext eine Stimme erheben, die wesentlich lauter ist als die eines einzelnen Nationalstaats.
Der Binnenmarkt der Europäischen Union mit seinen über 500 Millionen Konsumenten ist nach wie vor der kaufkräftigste und damit der größte der Welt. Während Standorte innerhalb der Europäischen Union miteinander konkurrieren, findet der tatsächliche Wettbewerb zwischen Europa und anderen Teilen der Welt statt. Dadurch wird wirtschaftliche Fairness innerhalb der EU nicht überflüssig. Mit ihrer Politik des freien Wettbewerbs hält die EU europäische Unternehmen auch im Weltmaßstab fit, da diese sich nicht mehr auf den Wettbewerb verzerrende staatliche Subventionen verlassen können.
Die Europäische Union hat im Bereich des Arbeitsrechts eine Reihe von Standards gesetzt, die in der EU nicht unterschritten werden dürfen. Damit leistet sie einen Beitrag gegen die Armut, in die immer mehr Menschen in Europa abrutschen. Dass diese Entwicklung sich dennoch vollzieht, spricht nicht gegen die Mindeststandards der EU, sondern dafür, diese auszuweiten und weiterzuentwickeln. Allerdings ist diese Meinung nicht unumstritten. Gerade aus Großbritannien kommen Forderungen, die EU solle sich nicht in Arbeitsrecht und Sozialstandards einmischen, sondern jedem Land selbst überlassen, wie es auf wirtschaftliche Herausforderungen reagiert.
"Europa 2020"
Ein wichtiger Beitrag zur Zukunftssicherung der EU ist die Strategie "Europa 2020". Sie ist die Nachfolgerin der sogenannten Lissabon-Strategie, mit der die EU bis 2010 zum weltweit dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum gemacht werden sollte. Dieses Ziel hat die Union nicht erreicht.
"Europa 2020" ist nun der Versuch, diesem Ziel im zweiten Anlauf bis 2020 näher zu kommen. Allerdings sind die Ansprüche deutlich bescheidener geworden: Die EU möchte - laut einem Beschluss des Europäischen Rats vom Juni 2010 auf der Basis des von der Europäischen Kommission entworfenen Strategiepapiers - fünf Kernziele erreichen.
Die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen soll auf 74 Prozent steigen, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden, die Treibhausgase sollen (gegenüber 1990) um 20 Prozent gesenkt und der Anteil der erneuerbaren Energie soll auf 20 Prozent gesteigert werden, bei gleichzeitiger Energieeinsparung von 20 Prozent (diese Ziele sind allerdings 2007 schon einmal beschlossen worden). Zudem soll das Bildungsniveau gesteigert werden, nicht zuletzt dadurch, dass die Quote der Schulabbrecher auf unter zehn Prozent gesenkt und die der Hochschulabsolventen auf 40 Prozent erhöht wird. Und die Armut innerhalb der Union soll durch soziale Eingliederung so bekämpft werden, dass 20 Millionen Menschen vor der Ausgrenzung durch Armut bewahrt werden.
Die Schwierigkeit bei der Umsetzung dieser Vorgaben liegt darin, dass ein Großteil der vorgesehenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten verwirklicht werden muss, da die EU selbst dazu weder die Kompetenzen noch die Mittel hat. Nur wenn jedes einzelne EU-Land seine Hausaufgaben erledigt, kann die EU ihre Ziele erreichen.
Zusätzlicher Druck auf die Mitgliedstaaten entsteht durch die Situation im Euroraum. Die Verschuldung einiger Eurostaaten ist ja nur ein Teil des Problems, dessen andere Seite die ungleiche Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer ist. Allerdings ist ein wirtschaftlicher Umbau besonders schwer, wenn gleichzeitig Schulden reduziert werden müssen, das heißt, der öffentlichen Hand weniger Geld zur Verfügung steht. Die Europäische Union hat daher in der neuen Finanzperiode 2014 bis 2020 die wirtschaftliche Strukturpolitik, für die in diesem Zeitraum immerhin 450 Milliarden Euro bereitgestellt werden, konsequent unter die Schwerpunkte der Strategie "Europa 2020" gestellt.
Die wichtigste Aufgabe der EU im 20. Jahrhunderts war die Sicherung des Friedens, die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts dürfte die Erhaltung des sozialen Friedens sein. Daran wird die EU von ihren Bürgerinnen und Bürgern gemessen werden.