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"Geb ich dir was zu essen, musst du mir auch was musizieren" Perspektiven deutsch-griechischer Beziehungen

Manuel Gogos

/ 8 Minuten zu lesen

Die deutsch-griechischen Beziehungen haben unter der Wirtschaftskrise massiv gelitten. Denn die Bilder, die deutsche und griechische Medien vom anderen Volk zeichnen, waren sehr wirkmächtig. Mit der Realität hatten und haben sie allerdings nur wenig zu tun. Manuel Gogos fasst zusammen.

Hafen von Elafonisos. (© picture-alliance)

"Eine Heuschrecke hatte sich den ganzen Sommer über auf dem Feld amüsiert, während die fleißige Ameise für den Winter Getreide gesammelt hatte." – Es ist, als hätte der altgriechische Fabeldichter Äsop das neugriechische Dilemma auf geradezu unheimliche Weise vorausgesehen: Während in der deutschen Öffentlichkeit die Mediterranen in den zurückliegenden Jahrzehnten tatsächlich ein paar Teller zuviel zerschmissen zu haben schienen, fühlte sich in Griechenland die nun verordnete Sparpolitik allzu regide an. Oder, wie es in Äsops Fabel heißt: "Hast du im Sommer singen können, so kannst du jetzt im Winter Hunger leiden. Geb ich dir was zu essen, musst du mir auch was musizieren."

Immer wieder leiteten Generationen von Philhellenen ihre Feiern des Griechentums mit einer Etymologie ein. Das war bei dem Philosophen Martin Heidegger so, einem Meister der phillhellenischen Ikonenmalerei, nach dem sich überhaupt nur auf Deutsch und Griechisch philosophieren lässt; und das ist auch in dem populären Kinofilm wie "Big Fat Greek Wedding" nicht anders, wo der pater familias erklärt, das japanische Wort "Kimono" müsse sich irgendwie vom griechischen "Chimona" wie Schnee ableiten lassen. Und dann taucht plötzlich jenes Wort auf, das nicht griechischen Ursprungs ist: Bankrott, von ital. banca rotta, "zerbrochene oder leere Bank", der von den Geldwechslern im mittelalterlichen Oberitalien stammt. Umgangssprachlich bezeichnet der Ausdruck "Bankrott" heute die Unfähigkeit einer Person, eines Unternehmens oder eines Staates, die eigene Schuld aus der Welt zu schaffen. Wer also ist verantwortlich für die griechische Misere, wer ist "schuld"? Die Deutschen als "ewige Besatzer", die im Zweiten Weltkrieg Europa mit militärischen Mitteln unterwarfen, und heute mit der Kraft ihrer Wirtschaftsmacht? Die Griechen selbst, die sich als Hochstapler und "levantinische Trickser" den Zugang zur EU überhaupt nur durch geschönte Zahlen erschlichen haben?

Griechische Selbsterkenntnis

Aber wer hätte je einem Griechen ins Herz geschaut? Der Philosoph Nikos Dimou vielleicht, mit seinem aphoristischen Klassiker "Über das Unglück, ein Grieche zu sein" – ein Buch, das in Griechenland schon 30 Auflagen erlebte und gerade angesichts der aktuellen Befindlichkeiten wieder vielen Orientierung gibt: "Wie viele Griechen haben je ihr Gesicht im Spiegel gesehen? Der Grieche sieht, wenn er sich im Spiegel betrachtet, Alexander den Großen. Niemals den Karagiosis (Figur aus dem Schattentheater)." Bereits 1975, in einer Zeit also, da die Militärjunta meinte, der griechische Patient müsse von Kopf bis Fuß eingegipst werden, um wieder in "Ordnung" zu kommen, unterzog sich Nikos Dimou den Tantalusqualen dieser Selbsterkenntnis: "Wir haben uns bemüht, die Reinheit unseres Stammes zu beweisen. Wir hassten uns, weil wir nicht hochgewachsen und blond waren und weil wir kein ‚griechisches Profil’ haben. Wir hassten unsere Nachbarn, weil wir ihnen gleichen." Und noch ein Nachsatz mag zitiert sein aus dem Postskriptum zur deutschen Ausgabe: "Die Menschen, die dieses Buch mit Vergnügen lesen, sind vermutlich keine Griechen. Für einen Griechen ist dieses Buch eine Qual. Aber es ist das Werk eines Mannes, dem seine Heimat sehr am Herzen liegt und der versucht, seinen Mitbürgern zu helfen, dem delphischen Motto 'Erkenne dich selbst' zu entsprechen."

Die erkenntnistheoretische Forderung Gnōthi seautón ("Erkenne dich selbst") wird auf den Gott Apollon zurückgeführt, als Orakelspruch, der die gesamte griechische Philosophie der Antike durchzieht. Ausgehend vom Apollon-Tempel in Delphi, wo jener phallische Stein "Omphalos" den "Nabel der Welt" markieren sollte. Aber die Griechen haben nicht nur ein klassisches Erbe, sondern auch ein orthodoxes. Ursprünglich bezog sich der Ausdruck "Omphaloskepsis" oder "Nabelschau" auf die kontemplative Gebetspraxis byzantinischer Mönche, die in einer meditativen Sitz- und Atemtechnik in der eigenen Seele das Tabor-Licht entzünden wollten. Die theosophische Begründung lieferte der Athos-Mönch Gregorios Palamas, der die Gebetstechnik im "Hesychasmusstreit" gegen Barlaam von Kalabrien verteidigte. Und Letzterer war es endlich, der im Argon der Argumente den Schimpfnamen "Nabelschau" eingeführt hat.

"Selbst-Hellenisierung"

Wäre also nach Nikos Dimou den Griechen heute eher zu viel Nabelschau vorzuwerfen? Oder zu wenig? Das kommt wohl darauf an, ob es lediglich um Selbstbespiegelungen geht: "Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen." Oder um Selbsterkenntnis: "Die Griechen sehen ihren eigenen Staat so, als wäre er immer noch eine türkische Provinz. Recht haben sie." Zweifellos, das Neugriechentum ist auch eine Ausgeburt des deutschen Philhellenismus. Wie Pygmalion, das Blumenmädchen, dem ein Linguist der Londoner Oberschicht die Sprache beibringt. Oder wie der Affe Rotpeter, der in Kafkas "Bericht für eine Akademie" die Geschichte seiner Menschwerdung vorträgt. Bei Dimou klingt diese Anerkennungssucht so: "Die Bayern, die Philhellenen, die Neunmalklugen verwirrten vollends das Volk, versessen darauf, uns ein neues Gesicht zu geben. Plötzlich erschien es als offensichtlich, dass die ‚Nachkommen der alten Griechen’ nie und nimmer Bauern vom Balkan sein konnten."

Deutsche Selbsterkenntnis

"Die Griechen verdienen ihre Akropolis nicht" – fatalerweise war es eben dieser zynische Duktus, der sich ausdrücklich auf den österreichischen Orientalisten Jakob Phillip Fallmerayer beruft und damit einer nationalstereotypen Demagogie bewusst Vorschub leistet, welcher in der jüngsten Krise der deutsch-griechischen Beziehungen den Ton setzte. Bald schon wimmelte es in deutschen Boulevardblättern nur so von pauschalierenden Stereotypen und klischierenden Tiefschlägen, wie im "offenen Briefe an das griechische Volk" der Zeitschrift Stern: "Liebe Griechen! Kennt Ihr das bei Euch auch, eine Tante, die einem die ganze Kindheit und Jugend hindurch das Sparschwein füttert? Beim ersten Fahrrad, dem ersten Radio, der ersten Urlaubsreise – immer gibt sie ein paar Scheine dazu. Und dafür verlangt sie nichts weiter als ab und zu mal ein freundliches Dankeschön. Liebe Freunde, dies ist ein Brief von Eurer Geldtante. Keine Angst, Ihr müsst nicht Danke sagen. Das Einzige, was wir uns wünschen, ist: Versetzt Euch mal in unsere Lage."

Protestantisches Arbeitsethos

Die Bilder, die deutsche und griechische Medien vom anderen Volk zeichnen, waren sehr wirkmächtig. Mit der Realität haben sie indes nur wenig zu tun. Nicht nur Klischees vom Anderen ist man dabei aufgesessen, für besonders fleißig halten sich die Deutschen auch selbst. Dabei arbeiteten Deutsche laut OECD im Durchschnitt 1397 Arbeitsstunden im Jahr 2012, Griechen dagegen 2034 Arbeitsstunden. Wo der Vorwurf erhoben worden ist, die Griechen würden früher in Rente gehen als die Arbeitnehmer im arbeitsamen Norden, da beruht auch dieses Bild nicht zuletzt auf dem Klischee eines "ewigen Sorbas" – jenes Lebenskünstlers, der sich selbst dann noch fröhlich eins pfeift, als er mit seinen geschäftlichen Unternehmungen Schiffbruch erleidet. Es ist Sorbas, der mediterrane Lebemann, der Neid erregt, und Scheelsucht. Während sich die Nordeuropäer in ihren kurzen Sommermonaten am Mittelmeer in das Sorbas’sche Lebensgefühl einzuüben trachten, werfen paradoxerweise viele den Südeuropäern eben dieses Lebensgefühl in den langen Wintermonaten von zu Hause aus bitterlich vor. Nationaltopoi, so erfrischend sie auch immer sein mögen, sind darum nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Hilfreicher wäre es wohl, die Nationen mit Benedict Anderson allgemein als "vorgestellte Gemeinschaft" anzusehen.

Ausblick

In ihrer Neujahrsansprache 2013 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den Deutschen ein entbehrungsreiches Jahr voraussagt. Der ZDF-Moderator Klaus Kleber fragte sich daraufhin, was dann erst aus Griechenland werde. Die Stimmung an der Ägäis war im Jahr 2013 gedrückt, die Hiobsbotschaften verdichteten sich: Vom Zusammenbruch der Sozial- und der Gesundheitssysteme; von schwangeren Frauen, die nicht das Geld haben, ihre Kinder entbinden zu lassen oder Babynahrung zu kaufen; von Krebskranken, die sich ihre Medikamente nicht mehr leisten können. Die Selbstmordraten sind zuletzt signifikant gestiegen, wie die Zahl der Obdachlosen und der Suppenküchen von Athen. Selbst der Schwarzmarkt für menschlichen Organhandel soll sich auf Griechenland ausgedehnt haben.

Anfang 2014 übernimmt Griechenland die Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament. In seiner Neujahrsansprache verspricht der Regierungschef Antonis Samaras, Griechenland werde nun "wieder an die Märkte" zurückkehren und keinen "Bedarf an neuen Krediten und neuen Rettungsvereinbarungen" mehr anmelden. Tatsächlich wurden die Arbeitskosten stark abgesenkt, so dass die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands verbessert werden konnte. Doch hält die gute Stimmung, die der griechische Staatschef zu verbreiten sucht, einer Überprüfung nur bedingt stand. Beobachter wie Myles Bradshaw, Manager des weltweit größten Anleiheinvestors Pimco, gehen binnen der nächsten drei Jahre von einem weiteren Finanzbedarf von ca. 10 Milliarden Euro aus, den Griechenland vermutlich noch immer nicht über die Finanzmärkte wird refinanzieren können. Auch laut Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wird das Land ein drittes Rettungspaket benötigen und einstweilen auf den Rettungsfond ESM angewiesen bleiben.

Wenn heute die Wirtschaft eines Landes nichts mehr taugt, dann hat es seine Satisfaktionsfähigkeit verloren. Das ist es, was die Athener Demonstranten bei Besuchen deutscher Politiker in den letzten Jahren schäumen ließ: Das plötzliche Sinken des eigenen Ansehens, das Gefühl des Gesichtsverlusts. Doch nur wer anderen Ansehen gibt, gewinnt damit zugleich selbst an Ansehen.

Ob die Euro-Rettung über Kreditvergaben eher Ausdruck nationaler Eigeninteressen und eines heimlichen Gewinnstrebens ist, oder ob dabei nicht eben doch Motive der europäischen Solidarität eine bedeutende Rolle spielen, mag umstritten sein; jedenfalls helfen die Länder der Eurozone Griechenland in Form der so genannten "Rettungspakete" bereits seit 2010, die Programme, die 2014 auslaufen sollen, summieren sich unterdessen auf einen Gesamtbetrag von 240 Milliarden Euro. Seit weniger gegen die Länder Südeuropas spekuliert wird, hat sich die Lage scheinbar beruhigt (genauer seit Sommer 2012, als die Europäische Zentralbank ankündigte, alles Nötige zur Rettung der gemeinsamen Währung zu tun); doch ist die Euro-Krise damit noch längst nicht ausgestanden. Die Währungsunion droht zusehends, in die wirtschaftlich starke Hälfte im Norden und die schwächere im Süden zu zerfallen. Und es bedarf einer intelligenten Wirtschaftspolitik – wie einer gesamt-europäischen "Mentalität" – um zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte – wie die hartnäckigen Nationalstereotype – die Europäische Union sprengen.

Die Geschichte verjüngt sich. Und wirkt damit weiter fort. Die jüdische Gemeinde Thessaloniki hat gerade erst wegen deutscher Kriegsschuld- und Schulden den europäischen Gerichtshof angerufen. Für dieses Unrecht hat Bundespräsident Gauck bei seinem Griechenlandbesuch im März 2014 deutliche Worte gefunden, und er hat unmissverständliche Zeichen gesetzt für die sogenannten griechischen "Märtyrerorte" wie Lyngiades. Damit zeigt er ein Gespür, dass es neue Beziehungskulturen braucht zwischen Deutschen und Griechen, Vertrauensbildung, eine neue Begeisterung für einander. Das von der Großen Koalition geplante deutsch-griechische Jugendwerk könnte ein solches Laboratorium sein, an einer Imagination von Europa zu arbeiten, das wieder erregt und träumen lässt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Äsop, Fabeln, Neuübersetzung Griech. /Dt., Stuttgart 2005.

  2. Vgl. Nikos Dimou, Über das Unglück, ein Grieche zu sein, München 2012.

  3. Beschwerdebrief nach Griechenland: "Streng genommen seid Ihr pleite“, Stern 5. März 2010. Vgl. dazu auch die diskursanalytische Untersuchung "Die Dynamik der Konstruktion von Differenz und Feindseligkeit am Beispiel der Finanzkrise Griechenlands: Hört beim Geld die Freundschaft auf?", hrsg. v. Hans Bickers und Eleni Butulussi u.a., München 2012.

  4. Externer Link: http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=ANHRS

  5. Vgl. den Roman "Alexis Sorbas" von Nikos Kazantzakis (1946) sowie die berühmte Verfilmung durch Michael Cacoyannis (1964).

  6. Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Brooklyn / London 2006.

  7. SZ, Freitag, 3. Januar 2014, S. 1.

  8. Ebd.

  9. SZ, Freitag, 3. Januar 2014, S. 1.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Manuel Gogos für bpb.de

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Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. Externer Link: www.geistige-gastarbeit.de