Die Krise hat viele Gesichter
Wie sich die Krise auf griechischen Straßen anfühlt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wäre zwangsläufig vermessen. Extreme Unterschiede existieren zwischen der Hauptstadt Athen, die allem Anschein nach den Mittel- und auch Tiefpunkt der Krise darstellt, und der griechischen Provinz. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Griechenlands lebt im Großraum Athen. Extreme Unterschiede existieren selbst innerhalb dieses Großraums. Im Zentrum von Athen treffen die verschiedenen "Realitäten" in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufeinander: Hier gibt es sowohl Gegenden, vor allem Teile der Stadtmitte, wo die "Wunden" der sozialen Not schon beim ersten Blick sichtbar sind, als auch solche, wo der uneingeweihte Spaziergänger keine Spur von Krise, Armut und Not wahrnehmen kann.
Bleibt man beim äußeren Schein, bei dem also, was einem im Sommer 2013 durchs Land reisenden Besucher sichtbar vor Augen tritt, so öffnet sich ein breites Spektrum von Aspekten der Krise. Am finsteren Ende steht mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil der Stadtmitte Athen (grob skizziert als die weitere Umgebung des Omonoia-Platzes); das helle Ende würden wohl die touristischen Regionen des Inselstaates Griechenland ausmachen: Kreta, Mykonos, Santorini usw. In einer Grauzone dazwischen fänden sich zahlreiche Wohngebiete der Stadt Athen und des sie umgebenden Großraums (Piräus und Vororte), daneben ärmere Regionen der Stadt Thessaloniki sowie anderer Großstädte des Landes. Dort wird man zwar keineswegs direkter Zeuge von Phänomenen einer grassierenden Armut oder eines Zusammenbruchs, wie man sie aus der sogenannten "Dritten Welt" oder aus Krisengebieten kennt, wo Krieg und Gewalt herrschen. Es handelt sich eher um ein depressives Bild des allgemeinen Niedergangs und der Verlassenheit, das an die Länder in der Endphase des ehemaligen Ostblocks erinnert.
Verzerrte Wahrnehmungen
Einen weiteren, für den ausländischen Besucher weniger zugänglichen, Aspekt stellt der Krisendiskurs dar, wie ihn die Medien in Griechenland maßgeblich bestimmen. Dass Medien zur Übertreibung neigen, ist bekannt, in Griechenland ist ihre Hysterie aus einer Reihe von speziellen Gründen allerdings ganz außerordentlich hoch entwickelt. Erstens verzichtet der öffentliche politische Diskurs im Lande in der Regel weitgehend auf die Verwendung von Tatsachen, Daten oder Zahlen. Es herrscht die Meinungsmache vor, steile Thesen ohne Fakten. Zweitens gibt es aus kulturpolitischen und gesellschaftlichen Gründen – ich spreche von der unseligen populistischen Tradition in der griechischen Politik der letzten Jahrzehnte – eine gewisse Neigung zu lauten und dramatischen Tönen. Drittens entziehen sich die Medien weitgehend jeglicher Kontrolle und funktionieren praktisch ohne alle Regeln einer journalistischen Ethik oder Verantwortung. Diese Situation führte in den Jahren der Krise zu einer Zuspitzung der Spannungen, des Populismus, ja auch des Fanatismus; diese Phänomene werfen besonders schwere Schatten auch auf die deutsch-griechischen Beziehungen. "Die Deutschen" (oft generell als "Faschisten" oder "Nazis" bezeichnet) werden immer wieder als Anstifter und Urheber der Katastrophe dargestellt, von denen sich Griechenland regelrecht "heimgesucht" fühlt.
Was entspricht nun in der Wirklichkeit, was nicht? Wie groß ist die Not, in der Teile der Gesellschaft leben? Gibt es tatsächlich Menschen, die verhungern? Ist der Staat zusammengebrochen? – Gemeinsam ist all diesen berechtigten Zweifeln nur eins: die Verwirrung. Eine Desorientierung, die aber weniger auf den Straßen herrscht, als vielmehr in den Köpfen und in den Herzen der Bevölkerung. Dazu gesellen sich vielleicht noch weitere Zwischentöne, etwa Perspektivlosigkeit, Desorientierung, Depression, Nervosität, Spannung – erste Ansätze einer Psychopathologie der Krise.
Alltagszenen in Athen
Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)
Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)
Seit mehr als drei Jahren durchleben die Griechen, vor allem in Athen, den Zusammenbruch alltäglicher Routinen und die Entfremdung von dem, was einst das "normale Leben" ausmachte. Arbeitsplätze werden abgeschafft, die Arbeitslosigkeit steigt auf ein Rekordhoch nach dem anderen. Alle paar Monate kommt es im Laufe von Demonstrationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die einst blühenden Einkaufsstraßen im Zentrum von Athen wirken zu einem großen Teil trostlos und verlassen. Ausgebrannte Gebäude können nicht renoviert werden und bieten einen gespenstischen Anblick. Zahlreiche Geschäfte stehen leer: an der Stelle von bunten Fassaden sieht man dreckige, mit Graffiti beschmierte, verlassene Gitter. Passagen, die bis vor einem oder zwei Jahren voller teurer Geschäfte und Cafés und des entsprechenden lebendigen Treibens waren, sind verwaist und leer. An den Ecken stinkt es nach Urin. Obdachlose und Drogensüchtige finden Unterschlupf in den Eingängen von einst gut besuchten Läden und Lokalen, die verschwunden sind; eine Szenerie der Härte, der Hoffnungslosigkeit, der Unbehaustheit. Immer mehr Menschen auch griechischer Abstammung, darunter Kinder und Jugendliche im Schulalter, betteln in der Stadtmitte, vor den klassizistischen Gebäuden, die einst den Stolz und den Optimismus des neuen griechischen Staates zum Ausdruck bringen sollten. Die touristische Fußgängerzone, die zur Akropolis hinauf führt, dient Bettelkindern als Arbeitsplatz: man sieht sie in regelmäßigen Abständen und der einheitlichen Kleidung einer "Bettler-Folklore " auf der Straße sitzen – offenbar handelt es sich hier um ein gut organisiertes Geschäft, das anscheinend von niemandem als Dorn im Auge der westlichen Kultur empfunden oder gar bekämpft wird.
Bröckelnde Stadtbilder
Aber weit schlimmer noch ist das Bild, das ausgerechnet jene Gegenden bieten, die in der Zeit unmittelbar vor der Krise einen kurzlebigen Aufschwung erlebten. Dies betrifft vor allem den Teil der Stadtmitte, der sich zwischen dem Omonoiaplatz und dem Hauptbahnhof befindet. Diese – ursprünglich berüchtigte – Bahnhofsgegend entwickelte sich während der Boom-Jahre im Vorlauf zu den Olympischen Spielen besonders rasch: Hotels wurden restauriert, Galerien siedelten sich an. Ein Teil der Kunst- und der Jugendszene schickte sich an, der Gegend zu glanzvollem neuen Leben zu verhelfen. Nur eine schmale Zone um die U-Bahn-Station Kerameikos und den Ausstellungscampus "Gazi" hat die Krisenwelle überlebt. Hotels und andere Betriebe erwiesen sich dagegen als nicht überlebensfähig; Millionen-Investitionen in Gebäude scheiterten kläglich, der Stadtteil verfiel rasch. Viele sprechen heute von einem echten Ghetto, wo Prostitution, Kriminalität und Gewalt das Stadtbild beherrschen.
Die Altmetallsammler
Eine weitere Szenerie des Elends ist sogar in jenen "besseren" Gegenden zu beobachten, welche die Stadtmitte umgeben und wo zum Teil auch der Athener Mittelstand ansässig ist: Männer in erbärmlicher Kleidung wühlen mit einem Haken in der Hand in den Mülltonnen nach Metallstücken oder schieben allein oder zu zweit Einkaufswagen voller Metallfragmente und Kabel vor sich her – die Altmetallsammler. In der Presse liest man von unkontrollierten Schmelzereien im westlichen Teil der Stadt, von Konkurrenz zwischen den neuen Sammlern und den Roma, die dieses Geschäft ursprünglich in der Hand hatten. Gestohlen wird anscheinend mehr oder weniger alles, was als Metall verwertet werden kann: Kabel von öffentlichen Einrichtungen, Teile von Brücken, Gitter, die die Abwasserkanäle von Straßenseite bedecken.
Außerdem stehen hunderte, vielleicht gar tausende von Wohnungen leer. Im Winter wird immer weniger geheizt, und es ist kein Geheimnis, dass selbst in den Nachbarschaften des Mittelstandes im letzten Winter viele Häuser gar kein Heizöl angekauft haben. Die eigentlich übliche Zentralheizung funktionierte in vielen Fällen überhaupt nicht oder nur selten. Wer sich ein Kaminfeuer leisten konnte, hat sich das Holz auf eigene Faust besorgt. Von einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems bzw. des Sozialsystems kann allerdings nicht die Rede sein: die Krankenhäuser funktionieren nach wie vor – auch für Menschen, die nichts bezahlen können. Die Stadt Athen, die Kirche sowie mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft bieten regelmäßig Nahrung und in den kalten Nächten auch Schlafmöglichkeit für Obdachlose an. In den Schulen gibt es neuerdings ein Pilotprojekt zur Ernährung von Schülern, nachdem wiederholt die Unterernährung mancher Kinder festgestellt worden war. Hinzu kommt die mittlerweile auch international bekannte Kartoffelbewegung als ein Versuch, armen Leuten – aber auch dem durchschnittlichen Konsumenten – preiswerte Nahrungsmittel anzubieten, indem man einen direkten Austausch zwischen Produzenten und Verbrauchern herstellt und auf preistreibende Zwischenhändler verzichtet. Kann man also angesichts dieser Ansätze neuer sozialer Bewegungen wie z.B. der Kartoffelbewegung von der Stärkung einer bislang eher unterentwickelten griechischen Zivilgesellschaft sprechen?
Überprüfung des Augenscheins
Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)
Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)
Die wissenschaftlichen Daten bestätigen mehr oder weniger das Auftreten akuter Armut, allerdings zumeist da, wo auch vor der Krise schon Armut existierte. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie die, daß die relative Armut in den bisherigen "Jahren der Krise" nur wenig gestiegen ist, nämlich um 3% (19,4% im Jahre 2009 – 22,3% im Jahre 2013)
Ein kleiner Datencheck zur Problematik Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Hilfe
Die Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2008 und 2013 von 7 % auf 27 %. Unter jungen Frauen beträgt sie 50 %, unter Männern 23 %.
Die Situation wird erheblich dadurch erschwert, dass 80 % der Arbeitslosen überhaupt keine Sozialhilfe erhalten: das sind ca. 1,1 Millionen Arbeitslose. Dies bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit bei diesen Menschen direkt in akute Armut führt.
Die relative Armut stieg von insgesamt 20,0 % auf 21,2 % (2009-2012). Das klingt überschaubar. Unter den Arbeitslosen bewegte sich der Prozentsatz der relativen Armut in der gleichen Zeitspanne aber von 32,2 % auf 40,6 %. Kinderarmut stieg ebenfalls von 21,8 % auf 26,6 %.
Im Durchschnitt haben die Einkommen in der Zeitspanne 2009-2012 um 28,4 % abgenommen. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung des Jahres 2009 verlor bis 2012 durchschnittlich 24,2 % seines Einkommens. Das mag erschreckend genug erscheinen, doch im Laufe des Jahres 2012 stieg dieser Satz auf wahrhaftig schockierende 56,5 %!
Dies führte zur Änderung des demographischen Profils der Armen: Armut betrifft nicht mehr vorwiegend kleine Rentner und Bauern, sondern massenhaft Arbeitslose und ihre Kinder. Diese soziale Realität steht vollkommen im Einklang mit den oben skizzierten Szenen auf den Straßen der Großstadt Athen. Wie aber reagiert die griechische Zivilgesellschaft auf die Krise?
Die griechische Zivilgesellschaft
Obwohl weit entfernt von der Entstehung einer massiven sozialen Bewegung, finden sich doch einige, wenn auch noch schwache, hoffnungsvolle Signale dafür, dass die Krise in Teilen auch eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft bewirken könnte.
Die bekannteste Bürgerinitiative in Athen stellt das Netzwerk "Atenistas" dar, das im Jahre 2010 gegründet wurde und auf Facebook über 50.000 "Unterstützer" hat. Das Netzwerk, das sich mittlerweile auch in 11 anderen Städten Griechenlands verbreitete, kümmert sich vor allem um Aktionen, die sich im weiteren Sinne auf das urbane Leben und das Erscheinungsbild der Stadt beziehen – etwa in Form der Reinigung und Verschönerung öffentlicher Räume, oder der Intervention im kulturellen Bereich. Die "Atenistas" entfernen Abfall, verputzen Wände oder organisieren Stadtführungen mit explizit politisch-historischem Bezug (z.B. die Führung an Orte der Altstadt Athens, die so genannte "Plaka"), die für die jüdische Vergangenheit der Stadt relevant sind – Aktionen, die an einem sonnigen Sonntagmorgen immerhin mehrere Hundert Athener mobilisieren können.
Weiterhin gibt es in den neuen sozialen Medien angesiedelte Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, wie z.B. den "Ginetai Workshop” – und auch die bereits erwähnte "Kartoffelbewegung", die allerdings in der Stadt Katerini im Norden Griechenlands entstanden ist und in Athen wenig Verbreitung gefunden hat. Die Dichte kommunaler wie kommerzieller Netzwerke zur Verteilung von Nahrung, Kleidung und medizinischer Hilfe nimmt zu, immer mehr wirken sie in die Breite, darunter die sog. sozialen Lebensmittelläden, Arztpraxen auf freiwilliger Basis, kostenlos angebotene Unterrichtshilfen oder lokale bargeldlose Wirtschaftsmodelle, die auf der Basis des Austauschs von Dienstleistungen funktionieren. Gleichzeitig wachsen allerdings auch rassistische Hilfsnetzwerke, deren Leistungen explizit nur für Griechen angeboten werden (Nahrungsmittel, lokale Sicherheit).
Herausforderungen hier und jetzt
Bei der Bewertung der "Widerstandskräfte" der griechischen Zivilgesellschaft gegenüber der Krise muss abschließend berücksichtigt werden, dass
der Ausgangspunkt eine schon vor der Krise notorisch schwach ausgebildete Zivilgesellschaft war
die staatliche Finanzierung der NGOs im Laufe der letzten Jahre aufgrund der Sparmaßnahmen noch erheblich abgenommen hat
die Reaktionen der Gesellschaft auf die Staatsform der Demokratie zweischneidig, quasi janusköpfig [Sotiropoulos] ist.
Auf der einen Seite steht der bedeutende Aspekt der Bekräftigung der Demokratie durch die massiven Demonstrationen gegen das Memorandum. Gleichzeitig aber wurden der Anti-Parlamentarismus sowie die Anwendung von Gewalt als akzeptierte Formen der politischen Praxis bestärkt. Die atypische, informelle Zivilgesellschaft vor allem im Bereich der sozialen Solidarität wurde gestärkt und vertieft; zugleich aber entstanden neben den lokalen Organisationen der Neonazi-Partei "Chryssi Avgi" ("goldene Morgenröte") noch eine Vielzahl rassistischer Gruppierungen, Hooligans und andere, die der Zivilgesellschaft ausgesprochen feindselig und sogar gewaltbereit gegenüberstehen. Nicht nur den gravierenden sozialen Folgen der Austeritätspolitik, auch den antidemokratischen Kräften gegenüber muss die griechische Zivilgesellschaft heute ihre Widerstandskraft unter Beweis stellen.
Literatur
Maloutas Th., Kandylis, G., Petrou, M., Souliotis, N., Das Zentrum von Athen als politische Frage, Nationales Zentrum für Sozialforschung (EKKE) und Harokopio University (gr.), Athen, 2013
Matsaganis, M., Dealing with the new social question, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Werkstatt unter dem Titel "Auf der Suche nach dem Gesicht Griechnelands während der Krise und danach", Koordinatoren Yannis Voulgaris, Panteion Universität und Panayis Panayotopoulos, Universität Athen, 13-14 Juli 2013 (nicht veröffentlicht)
Sotiropoulos, D., Die Zivilgesellschaft in Griechenland der Krise. Positive und negative Aspekte, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Die dort erwähnten Daten werden bald (Frühjahr 2014) in einer Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer Stiftung veröffentlicht unter dem Titel "Civil Society in Griechenland in the Wake of the Economic Crisis".