Symboliken und Koliken
Genau genommen weiß niemand, wie die Venus von Milos ihre Hände hielt. Die Arme der mehr als 2000 Jahre alten Statue sind nie gefunden worden. Eher unwahrscheinlich ist, dass sie aussah wie sie die Grafiker des Magazins Focus im Februar 2010 auf dem Titelblatt darstellten: Mit ausgestrecktem Mittelfinger. Diese internationale Geste dafür, dass man seinem Gegenüber so deutlich wie möglich den Respekt versagt, stand unter der Schlagzeile "Betrüger in der Euro-Zone". Für die Griechen, die zu den Symbolen ihrer Nation eine enge, emotionale Beziehung haben, war das eine furchtbare Beleidigung (die sogar – völlig fruchtlose – Gerichtsprozesse nach sich zog). Die Symbolik des Titels, in der die Venus wahrscheinlich eher stellvertretend für "die Griechen" stehen sollte, die der Euro-Familie den Finger zeigen, wurde in Griechenland instinktiv als Verhöhnung eines nationalen Symbols verstanden, einer nationalen Reliquie – mithin des ganzen Landes.
Medienhetze
Der Magazintitel bildete zugleich den Auftakt einer langen und einseitigen Kampagne in verschiedenen deutschen Medien – angeführt von der größten deutschen Zeitung, der Bild –, in der die Griechen oft nur noch als "Pleite-Griechen" bezeichnet wurden. Für den normalen Zeitungsleser in Deutschland musste dadurch der Eindruck entstehen, die finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Euro-Zone wären vornehmlich durch eine grassierende Korruption in einem Land entstanden, das zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 2,8 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone ausmachte – in etwa so viel wie das deutsche Bundesland Hessen. Schnell schlossen sich Politiker aus der zweiten und dritten Reihe der populären Stimmung an und überboten sich gegenseitig mit harschen Forderungen. Der damalige CSU-Landesgruppenchef und spätere Innenminister Hans-Peter Friedrich zum Beispiel forderte das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone.
Die Macht der Bilder
Einen ihrer traurigen Tiefpunkte erreichte die lautstark von der größten deutschen Zeitung angeführte Kampagne im Oktober 2010, als Politiker aus den hinteren Bänken des Bundestages schlagzeilenträchtig in der Bild fordern durften: "Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!"
Falschverbunden
In den deutschen Medien verstand man die Symbolik indessen anders. Von dem "Hilferuf vor malerischer Kulisse" war in der Frankfurter Allgemeinen die Rede
Viel besser kann man es nicht zuspitzen, als dieser Leitartikel in der größten deutschen Zeitung, der in polemischer Absicht unterstellte, der griechische Ministerpräsident würde die Probleme absichtlich herunterspielen, weil er seine Maßnahmen nicht vom Schreibtisch aus verkündet. Mit der ganzen Wirkmacht der Bild-Zeitung wurde unter den deutschen Lesern so der Eindruck verbreitet, die Griechen hätten den Ernst ihrer eigenen Lage nicht verstanden. Die Botschaft, die von Papandreou beabsichtigt war, und in Griechenland auch verstanden wurde, dagegen war: Uns stehen harte Zeiten bevor!
Den Spieß umdrehen
In den Monaten danach fanden griechische Boulevard-Medien mithilfe von Demonstranten ihren Weg, eigene Provokationen in Richtung Deutschland zu senden. Bereits als direkte Antwort auf besagten Focus-Titel hatte die Zeitung Eleftheros Typos den "reizenden" Versuch unternommen, deutsche Wahrzeichen per Fotomontage mit Hakenkreuzen zu versehen. Die Provokation versandete praktisch unbeachtet – ein deutliches Zeichen dafür, dass es in Deutschland eine ähnlich emotionale Bindung an die nationalen Symbole des Landes nicht gibt. Eine Fotomontage mit dem Engel – der "Gold-Else" – auf der Siegessäule? Ein Berliner mag das vielleicht geschmacklos finden, wirklich beleidigen lässt er sich davon aber nicht.
Besetzungs-Phantasien
Dennoch fanden die Hakenkreuze ihren Weg in die öffentliche Debatte: Bei Protesten gegen die Sparvorschriften der "Troika" aus EU, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank trugen Demonstranten vor dem griechischen Parlament eine EU-Flagge, in deren Sternenkreis sie ein Hakenkreuz gemalt hatten. Für Europäer muss die Symbolik eigentlich unverständlich bleiben: Dass ein Vielvölkerbund wie die Europäische Union mit einem rassistischen Faschismus in Verbindung gebracht wird, ergibt eigentlich keinen Sinn. Allerdings wird das Symbol in Griechenland grundsätzlich anders verstanden als in Deutschland: Eine Flagge mit einem Hakenkreuz gilt in dem Land, das während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht besetzt wurde, als Chiffre jedweder "Besatzung". Die Botschaft der Demonstranten vor dem griechischen Parlament war also nicht "Die EU ist eine Nazi-Organisation", sondern vielmehr "Die EU besetzt uns" – eine angesichts der von außen aufgedrückten Spar-Vorschriften sicher polemische, aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. Die Berichterstattung in Deutschland hingegen fühlte sich bestätigt: "Mit dem Hakenkreuz verhöhnen die Griechen Europa", schrieb Bild, "und kriegen trotzdem Milliarden."
Accessoires des Augenblicks
Erst Monate später setzten griechische Zeitungen die deutsche Politikerin Angela Merkel selbst mit Nazi-Symbolen in Verbindung – ganz offensichtlich, weil sie bemerkten, dass sie auf diese Weise in der deutschen Berichterstattung endlich doch noch Aufsehen erregten. Seit dem Beginn der Krise ist in Griechenland die internationale Presseschau – also der Blick darauf, was in anderen Ländern und vor allem in Deutschland über Griechenland geschrieben und gesendet wird – Teil der Hauptnachrichten. Jeder Demonstrant vor dem griechischen Parlament weiß spätestens am Morgen danach, welches Bild es in die deutschen Zeitungen "geschafft" hat. So wurde das Hakenkreuz, gemeinsam mit Bildern, auf denen Merkel ein Hitlerbärtchen oder eine Nazi-Uniform ziert, bei einer kleinen aber lauten Minderheit der Demonstranten zum Accessoire des Augenblicks.
Aufeinander eingeschossen
Wie international die Finanzkrise auch immer war: Mit dem Auftauchen der überschriebenen EU-Fahne konzentrierte sich der Protest in Griechenland so sehr auf Deutschland, wie sich die deutsche Berichterstattung (und in der Folge die öffentliche Meinung) bei der Krise auf Griechenland fixiert hatte. So kommen Irland und Portugal in der Krisen-Berichterstattung fast nicht vor – auch deshalb, weil es kaum greifbare Symbole für ihre Krise gibt. In Spanien stehen wenigstens Bauruinen pompöser Urlaubsanlagen, die man fotografieren und zu Ikonen der spanischen Krise stilisieren kann. Was sich nicht in Bildern erklären lässt, dringt in dieser Krise kaum durch. Das ist um so gefährlicher, da viele der Bilder, die unsere Vorstellungswelt "besetzen", auf Vorurteilen basieren.
Klischees vom Anderen
So erklärte die Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer später viel kritisierten Rede vor Parteifreunden noch 2011 mit Blick auf die Eurokrise
Realitätscheck
Mit den echten Zahlen hat dieses Gefühl indes nichts zu tun. In den von Merkel genannten Kerndaten einer (Lebens-) Arbeitszeit liegt Deutschland tatsächlich sogar hinter den genannten Ländern.