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Die Entstehung des griechischen Staates und der Geist des Philhellenismus

Evangelos Chrysos

/ 6 Minuten zu lesen

Der Philhellenismus ist eine geistige und ideologische Bewegung vor allem westeuropäischer Bürger. Er kämpft für die Anerkennung der Errungenschaften der (griechischen) klassischen Antike und ihre Aneignung in der Zeit der Aufklärung. Er war aber auch eine politische Bewegung zur Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft.

Der Empfang Lord Byrons in Messolongi, 1823. Gemälde von Theodoros Vryzakis, 1861 (heute in der griechischen Nationalgalerie). (© Public Domain)

Der Philhellenismus in seiner Zeit

Der Philhellenismus als eine geistige und ideologische Bewegung der Bürger des westlichen Europas, aber auch von Menschen aus außereuropäischen Ländern, hat zum Mittelpunkt die Anerkennung der Errungenschaften der (griechischen) klassischen Antike (im Sinne Johann Joachim Winckelmanns) und ihre Aneignung in der Zeit der Aufklärung. Allerdings erblickten eben nicht alle Philhellenen – und nicht unter allen Umständen – in Griechenland allein das klassische Hellas; oder in seinem Erbe die Legitimation für einen freien, modernen Staat. Führende Persönlichkeiten unter den Philhellenen, wie z. B. Lord Byron (R. Beaton), haben echtes Interesse und Anteilnahme am Schicksal des zeitgenössischen Griechenlands gezeigt, und für seinen Befreiungskampf 1821-1829 ihr Leben geopfert. Von Philhellenen zur Zeit der Befreiungskriege wurde der Romiós, der griechische Zeitgenosse also, stets als der natürliche und legitimierte Agent zur Verwirklichung des Traums eines freien Griechenlands betrachtet.

Die Ideologie des Philhellenismus

Der Philhellenismus war eine politische Bewegung zur Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft, zugleich zielte er auf die Gründung eines unabhängigen griechischen Staates, wie es in zahlreichen Pamphleten und Büchern dokumentiert ist, die in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den vielen Philhellenen-Vereinen Mitteleuropas zirkulierten. Aufständische Griechen, die auch in europäischen Nationalversammlungen auftraten und dort ihre Ideen verkündeten, betonten besonders kulturelle Gemeinsamkeiten von Griechen und (westlichen) Europäern, und als eine solche Gemeinsamkeit wurde insbesondere das Christentum hervorgehoben, indem man die "orientalischen" Züge des orthodoxen Christentums weitgehend unterdrückte bzw. relativierte. Diese religiöse Rechtfertigung eins Glaubenskampfes der "Christenheit" gegen die osmanischen Muslime untermauerte und befeuerte in großem Ausmaß die Überzeugungskraft der Bewegung der Philhellenen. Das hat dazu beigetragen, dass sich die philhellenische Bewegung in Westeuropa so weit verbreiten und systematisch organisieren konnte, wie nie eine Bewegung seit den Kreuzzügen des Mittelalters.

Während des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821–1829) verübten die Osmanen im April 1822 ein Massaker an den Einwohnern der Insel Chios, bei dem über 20.000 Menschen getötet und ca. 45.000 in die Sklaverei verschleppt worden sein sollen. Die Tat löste in Europa einen Aufschrei der Empörung aus, zementierte den negativen Stereotyp des "grausamen Osmanen" und gab dem politischen Philhellenismus damit Auftrieb.

Philhellenismus als Urszene Europas

Die tatkräftige Teilnahme der Philhellenen im Befreiungskampf der Griechen wurde als friedenserzwingende, geradezu humanitäre Maßnahme gerechtfertigt. Man appellierte im Namen der Humanität an Europa, und als eine eminent europäische Sache wurde der Befreiungskampf dann auch wahrgenommen. Es ist erstaunlich, mit welcher wissenschaftlichen Präzision man versuchte, die juristische Legitimation des Befreiungskrieges auch im Rahmen des geltenden Völkerrechts zu untermauern. Dieser Rechtfertigungsversuch ist auch deshalb bedeutend, da die Griechische Revolution offenkundig als ein Aufstand von Bürgern gegen ihren souveränen Herrscher, den osmanischen Sultan, galt und bis dahin von den mächtigen Herrschern Europas auch als solcher angesehen wurde. Die Nationalversammlung von Troizen im Jahr 1827 verkündete entsprechend in einer Deklaration: "Unser Krieg stammt nicht aus einem Aufstand gegen einen legitimen Herrscher." Der Gesinnungswandel der Mächtigen, der dann eintrat und maßgeblich zum Erfolg des Befreiungskampfes und der griechischen Staatsgründung führte, vollzog sich also unter dem Eindruck eines gewaltigen wissenschaftlichen und publizistischen "Feldzuges".

Philhellenismus als Demokratiebewegung

Die Entwicklung in Griechenland wusste ein günstiges Momentum in der turbulenten politischen Entfaltung Europas im 19. Jahrhundert auszunutzen: Überall in Europa sammelten sich noch junge Nationalbewegungen, die Nationalstaaten als demokratische Gebilde verstehen wollten. Auch der Philhellenismus hatte die Idealisierung des antiken Hellas von Anfang an mit demokratischen Sehnsüchten verbunden (Rebenich), der osmanische Feudalismus sollte einem demokratischen Staat weichen. In diesem Sinne waren die Verfassungstexte der Revolutionszeit von der Frische und dem Enthusiasmus der Idee einer Volkssouveränität geprägt und beflügelt. In der Verfassung von 1827, Art. 5, heißt es: "Die Souveränität liegt in der Nation; alle Macht geht vom Volke aus." Dieser Wortlaut war wahrhaft revolutionär, vier Jahre vor der ersten Verkündung einer Volkssouveränität im westlichen Europa (nämlich in der Verfassung Belgiens im Jahre 1831).

Die Intervention der Großmächte England, Frankreich und Russland in das politische Spiel um die Gestaltung des neuen Staates – die sich als lebenswichtig für das Gedeihen der Revolution erwiesen hatte – führte jedoch zunächst zu einer monarchischen Lösung. Dies entsprach mitnichten den politischen Vorstellungen der aufständischen Griechen. Das selbstherrliche Benehmen der bayerischen Staatsfunktionäre sowie das zwar wohlmeinende, aber verunsicherte und faktisch absolutistische Handeln König Ottos machten die Kluft zwischen der monarchischen Wirklichkeit und der erträumten Demokratie offenkundig. Zwar wollte man alles für die Griechen tun, doch lieber ohne sie und gelegentlich auch gegen ihren Willen. Die fast tägliche Korrespondenz, die Königin Amalie mit ihrem Vater, Großherzog Paul Friedrich August von Oldenburg führte, zeigt diese Diskrepanz aus der Sicht der deutschen Königin und offenbart die Ausweglosigkeit eines Königs, der oft nicht wusste, was wohl das beste wäre: für das griechische Volk, das Land, aber auch seinen Thron.

Philhellenen als Agenten des griechischen "Nationbuildings"?

Seit mehreren Jahren wird immer wieder diskutiert, wie es eigentlich um die Entstehung der (neu-)griechischen Nation bestellt sei. Für alte Völker, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können, ist es methodologisch sehr schwierig zu entscheiden, wann die Nation, wie sie heute allgemein verstanden wird, "aus dem Ei gekrochen" sei. Außerdem ist man mit dem Gebrauch des Nationenbegriffs seit der Zeit des Nationalsozialismus aus gutem Grund sehr zurückhaltend. In der historischen Disziplin hat man ihn deshalb mit dem Begriff der Ethnie zu ersetzen versucht – ein hoffnungsloser Versuch, von Nation zu sprechen, ohne sie beim Namen zu nennen. Denn das Wort "Ethnie" ist nicht mehr als die Transkription des griechischen Wortes Ethnos (ἔθνος), das so viel wie "Nation" bedeutet. Auf ähnliche Weise ist in der letzten Zeit das englische Wort "nationbuilding" in das deutsche Fachvokabular als Substitut für das finster anmutende "Nationenbildung" eingeführt worden. Eine gewisse Zurückhaltung ist jedoch auch hier geboten: Die Kraft der nationalen Idee wie die fatalen Konsequenzen nationalistischer Sensibilitäten können kaum mit verharmlosenden oder beschönigenden Wendungen gebannt werden.

Athen erwartet König Otto, Peter von Hess, 1839. (© picture-alliance/akg)

Bekanntlich wurde in der Zeit nach der Französischen Revolution dem Wort "Nation" eine spezifische Bedeutung verliehen, die seitdem die leitende ist, indem man die neuzeitliche Nation als das entscheidende konstituierende Element des Staates verstand. Staaten werden seither wesentlich als Nationalstaaten verstanden (Charakteristisch trat der Aufruf Vive la nation an die Stelle von vive le roi!). Trotzdem resultiert der Begriff der Nation aus einem zu einseitigen historischen Verständnis, wie der Fall Griechenland beweist: Im Selbstverständnis der aufständischen Griechen, wie es sich in den Verfassungstexten ihrer Nationalversammlungen manifestierte, wurde das ethnos – die griechische Nation – eben nicht erst durch die Entstehung des griechischen Staates geboren.

Fußball-Europameister Griechenland: Der deutsche Trainer Otto Rehhagel (im Bus vorn) wird von begeisterten Fans am 05.07.2004 in Athen umjubelt. (© picture-alliance/dpa, dpaweb)

Das derart aus der Taufe gehobene Griechenland verdankt den Philhellenen viel. Die Sympathie und alle Solidarität der "Freunde der Hellenen" war für das Gedeihen der Revolution von existentieller Wichtigkeit. Auch die Hilfe durch die Schutzmächte und vor allem durch Bayern war lebenserhaltend. Dabei suchte man Griechenland oft mit peinlichen, gelegentlich untragbaren Mitteln in die europäische Staatengemeinschaft zu integrieren. Man wollte einen modernen europäischen Staat auf die Beine stellen, für den man zwar bewunderungsvoll die antizipierte "edle Einfalt und stille Größe" (Winckelmann) zum Maßstab nahm, allerdings in der fragwürdigen Vorstellung, dass man es selbst verkörperte. Zu Berühmtheit gelangte der Ausspruch Barthold Georg Niebuhrs aus dem Jahr 1831, der die Bedeutung der Schlacht von Chaironeia folgendermaßen kommentierte: "Durch sie (diese Schlacht) ist Griechenland untergegangen, das Deutschland des Altertums." Wo aber Griechenland das Deutschland des Altertums war, sollte auch Deutschland das Griechenland der Neuzeit sein. Kraft dieser doppelten Verwechslung wollte man dann auch den zeitgenössischen Griechen die eigene politische Ästhetik aufzwingen: Ein fatales Missverständnis.

Ausgewählte bibliografische Hinweise

Beaton, Roderick Byron’s War. Romantic rebellion, Greek Revolution, Cambridge 2013.

Chrysos, E. und Farnaud, Chr. (hrsg.), La France et la Grèce au XIXe siècle, Athènes 2012.

Eideneier, Hans, Hellenen-Philhellenen: Ein historisches Missverständnis? Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985) 137-159.

Externer Link: Kaltchas, Nicholas, Introduction to the Constitutional Historz of Modern Greece, 3rd edition, Athens 2010.

Externer Link: Konstantinou Evangelos, Griechenlandbegeisterung und Philhellenismus, 2012

Maras Konstadinos: Philhellenismus. Eine Frühform europäischer Integration, Würzburg 2012

Marchand Suzanne L., Down from Olympus: Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970, Princeton University Press, 1996.

Marchand, S.L., Archaeology and Cultural Politics in Germany, 1800-1965: The Decline of Philhellenism, Chicago 1992.

Petropulos, John A., Politics and Statecraft in the Kingdom of Greece 1833-1843, Princeton 1968.

Philippou Melina: Der Philhellenismus in Deutschland. Philhellenische Bekundungen der Deutschen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des griechischen Staates. Green 2008

Rebenich Stefan «Alles hast du, Hellas, mir genommen». Griechenland hatte einst leidenschaftliche Freunde in Europa: Neue Zürcher Zeitung 13 07. 2011

Interner Link: Schultheiss W. und Chrysos, E. (hrsg.), Meilensteine deutsch-griechischer Beziehungen­, Athen 2010 (Wichtig für das Thema sind vor allem die Beiträge von Hans Eideneier, Michael Stathopoulos und Michael Tsapogas).

Schulze, Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1993.  

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Prof. Dr. geboren in Thessaloniki promovierte in Bonn (Alexander von Humboldt-Stipendiat), Habilitation in Ioannina, war bis 2005 Professor der Universität Athen im Fach Byzantinistik. Mehrmals Gastprofessor an deutschen Universitäten. Nach der Emeritierung Generalsekretär der Stiftung für Demokratie und Parliamentarismus des Hellenischen Parlaments.