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„Flüsse sind die Stars der Geopoesie“ | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de

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„Flüsse sind die Stars der Geopoesie“ Ein Gespräch über die Rolle des Dnipro in der ukrainischen Literatur

Jurij Andruchowytsch Galyna Spodarets

/ 14 Minuten zu lesen

Für die Slawistin Galyna Spodarets und den Schriftsteller Jurij Andruchowytsch ist der Dnipro ein Symbol der ukrainischen Staatlichkeit. Eine kulturelle und politische Grenze bildet er schon lange nicht mehr. Ein Gespräch über die Rolle des Dnipro in der ukrainischen Literatur, den Sieg der Geopolitik über die Poesie und die Frage, was der Dnipro selbst zu all dem sagen würde.

"Ich denke, wenn man zwölf Jahre alt ist, muss man optimistisch in die Zukunft schauen." (Jurij Andruchowytsch) Szene auf der Promenade am Ufer des Dnipro in Kyjiw. (© picture-alliance, Dominika Zarzycka/NurPhoto)

Jurij Andruchowytsch, sie kommen aus dem Westen der Ukraine. Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit dem Dnipro, der ja von ihrer Geburtsstadt Iwano-Frankiwsk 600 Kilometer entfernt ist?

Jurij Andruchowytsch: Ich erinnere mich an diese Begegnung sogar sehr genau. Es war gleichzeitig mein erster Besuch in Kyjiw, in der Hauptstadt. Das war im Sommer 1972.

Da waren sie zwölf Jahre alt.

Jurij Andruchowytsch: Genau. Ich erinnere mich auch deshalb so gut, weil es das erste Mal war, dass ich bei einem Fußballspiel von Dynamo Kyjiw im Stadion war. Schon zuvor war ich ein großer Fan des Vereins, habe die Spiele bis dahin aber nur im Fernsehen gesehen. Leider ist Dynamo in dieser Saison damals nicht Meister der UdSSR geworden.

Was war der Anlass für den Besuch?

Jurij Andruchowytsch: Ich habe meine Tante besucht, die damals in Kyjiw studiert hat. Sie hat mich eingeladen, eine Woche dort zu verbringen. Und in dieser Zeit haben wir auch einen Ausflug an den Strand gemacht. Es war Sommer, heiß, das Wetter war gut… Moment, ich höre gerade, dass wir Luftalarm haben.

Wie reagieren Sie auf einen solchen Alarm?

Jurij Andruchowytsch: Ich ignoriere es. Zurück zum Dnipro. Wir sind damals mit der Metro zum Strand gefahren, und schon von der Station Dnipro aus konnte ich den Fluss sehen. Ausgestiegen sind wir dann in der Station Hidropark, die liegt mitten auf einer Insel im Fluss. Das ist der Hauptstrand von Kyjiw.

Was hat der Anblick in Ihnen ausgelöst?

Jurij Andruchowytsch: Mich hat die Farbe erstaunt. Ich hatte immer die idealistische Vorstellung, dass die Farbe eines Flusses Blau sein muss. Der Dnipro in Kyjiw war aber eher gelblich. Vor allem aber war er mächtig, breit, groß. Um das zu spüren, muss man nicht einmal patriotische Gefühle haben. Es war ein topographisches Erlebnis.

Galyna Spodarets, Sie sind in Odesa geboren. Warum haben Sie kein Buch über das Schwarze Meer geschrieben, sondern eine literarische und Kulturgeschichte des Dnipro?

Galyna Spodarets: Sie haben recht, das Schwarze Meer ist ein Teil meiner Kindheit gewesen. Ich bin tatsächlich nur 600 Meter entfernt vom Strand aufgewachsen. Das Meer war immer da, so wie ein stiller Begleiter. Um ein Buch darüber zu schreiben, hätte ich aber Distanz gebraucht. Außerdem galt die Beschäftigung mit Gewässern in den Geisteswissenschaften lange als unseriös – ein Terrain für Geografen und Ökologen. Historiker und Kulturwissenschaftler taten das Thema als sentimental und emotional ab.

Das hat sich aber geändert.

Galyna Spodarets: Das stimmt, jetzt ist es „in“ geworden. Man hat begriffen, dass auch Flüsse räumlich begrenzte Untersuchungsobjekte sind. Auch ich selbst habe über einen Fluss, den Dnipro, den Zugang zu einem Kulturraum entdeckt.

Inwiefern?

Galyna Spodarets: Ein Fluss ist ein Erinnerungsmedium. Er spiegelt, was Menschen in ihn projizieren – Geschichten, Erfahrungen, Perspektiven. Die Bedeutungen, die wir mit einem Fluss verknüpfen, entstehen durch menschliche Zuschreibungen. Sie werden von außen an ihn herangetragen und machen ihn so zu einem kulturellen Resonanzraum.

Wie war Ihre erste Begegnung mit dem Dnipro?

Galyna Spodarets: Daran erinnere ich mich gut. Es war während einer Studienreise nach Kyjiw, kurz nachdem ich volljährig geworden war. Ich habe den Dnipro also erst im Erwachsenenalter kennengelernt.

Welchen Eindruck hat der Fluss auf Sie gemacht?

Galyna Spodarets: Es war etwas Besonderes. Vor allem die hohen Hügel am rechten Ufer und dann das breite Wasser. Ich erinnere mich, dass ich in dem Moment gedacht habe: In dieser Stadt könnte ich leben. Später, als ich in Regensburg an der Donau studierte, fand ich über den Dnipro Zugang zur ukrainischen Kulturgeschichte. Für mich ist er kein Sehnsuchtsort, sondern ein Untersuchungsobjekt.

Sie haben in Ihren Interner Link: Text für das Dossier „Geschichte im Fluss“ geschrieben, der Dnipro sei ein Symbol für das ukrainische Nation Building. Seit wann ist das so?

Galyna Spodarets: Keine Nation kommt ohne Symbole aus. Normalerweise denken wir dabei an materielle Symbole wie Flaggen, Denkmäler oder Heldenfiguren. Im ukrainischen Kontext kommt nun ein Fluss dazu, der Dnipro. Dass er zum inoffiziellen Symbol der ukrainischen Staatlichkeit wurde, geht auf die Epoche der Romantik zurück. Das 19. Jahrhundert war in ganz Europa das Jahrhundert der erstarkenden Nationalbewegungen. Gleichzeitig war die Politik in dieser Zeit nicht immer handlungsfähig. Gerade in Osteuropa übernahm deshalb die Literatur die Aufgabe, das Nationale zu konstruieren und das politische Vorstellungsvermögen voranzutreiben.

War diese Nationalbewegung auch eine soziale Bewegung?

Galyna Spodarets: In der Ukraine, die damals größtenteils unter russischem Einfluss stand, kam die Leibeigenschaft dazu. Das war eine Form der Sklaverei, die erst 1861 abgeschafft wurde. In dieser Zeit wird Taras Schewtschenko zum Nationaldichter. Gerade in Ländern, in denen es eine Nationalbewegung, aber keinen Nationalstaat gab, spielten Dichter eine besonders wichtige Rolle. Und Schewtschenko wird dabei auch zum Dichter des Dnipro. Er greift die Kosakenmythologie auf und nationalisiert den Dnipro gewissermaßen.

Parallel dazu gibt es die Erzählung vom Dnipro als Symbol einer Grenze. Im 17. Jahrhundert war der Fluss zur Grenze zwischen der polnisch-litauischen Adelsrepublik und dem Zarenreich geworden. Wie wirkmächtig, Jurij, ist diese Erzählung bis heute?

Jurij Andruchowytsch: Wenn wir über den Dnipro als politische Grenze sprechen, dann reden wir von keiner langen Zeit, etwa 100 Jahre. Schon in den 1770er Jahren hört der Dnipro auf, eine Grenze zu sein. Die Unterschiede zwischen der linksufrigen und der rechtsufrigen Ukraine sind nicht besonders groß, weil die Zeit des Flusses als Grenze nicht prägend war. Das heißt, dass ich Galyna zustimmen möchte. Die besondere Rolle des Dnipro ist ohne Schewtschenko undenkbar. Er ist der Autor des Dnipro-Konzepts im ukrainischen gesellschaftlichen Denken.

Heißt das, dass der Dnipro davor keine besondere Rolle gespielt hatte?

Jurij Andruchowytsch: Tauchen wir tiefer in die ukrainische Geschichte ein und betrachten zum Beispiel die Folklore, finden wir keinerlei Erwähnung des Dnipro. Als ob es diesen Fluss überhaupt nicht gäbe. Dafür gibt es tausend Mal die Interner Link: Donau. Die Donau ist der heilige Fluss der ukrainischen Volkslieder. Das kann bedeuten, dass die uralten kulturellen Wurzeln der ukrainischen Identität viel weiter westlicher und südlicher liegen als Kyjiw.

Galyna Spodarets: Da muss ich widersprechen. Auch in alten Gedichten kommt der Dnipro vor, wenn auch in einer weiblichen Gestalt, Nepra. In den ukrainischen Dumen, lyrischen Liedern, ist der Dnipro durchaus präsent – etwa in der Vorstellung, dass alle Flüsse des Tieflandes als Helferinnen der Dnipro gelten. Schewtschenko ist dann derjenige, der auf die Elemente und Topoi der Dumen zurückgreift und sich ihrer Sinnlichkeit bedient.

Ich würde gerne noch einmal auf die Rolle des Dnipro als Grenze zurückkommen. Jurij, Sie haben 2004 in ihren „29 Flussliedern“ von den zwei Ukrainen gesprochen, die der Fluss hervorbringe. Was genau haben Sie damit gemeint? Die damalige Lesart es Dnipro als eine politische, kulturelle und sprachliche Grenze, die die Ukraine in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten teilt?

Jurij Andruchowytsch: Die Flusslieder entstanden im Zusammenhang mit einem Projekt des Kleist Museums in Frankfurt (Oder) auf der Oder und dem Rhein. Alle Autoren, die damals eingeladen waren, mussten einen Flusstext schreiben. Wichtig ist aus heutiger Sicht das Entstehungsjahr. Die Flusslieder habe ich 2004 vor der Orangenen Revolution geschrieben. Also vor der Präsidentschaftswahl in der Ukraine, die für unser Land und unsere Geschichte wirklich entscheidend war. Wäre es damals anders ausgegangen, wären wir heute vielleicht ein etwas größeres Belarus. Dass die Orangene Revolution so erfolgreich war, glich im Grunde einem Wunder. Die Konzeption der beiden Ukrainen gibt es seitdem nicht mehr.

Warum nicht?

Jurij Andruchowytsch: Derjenige, der zum ersten Mal von den beiden Ukrainen gesprochen hatte, war Mykola Rjabtschuk. Ich weiß, dass er damit nicht in erster Linie die geografische Teilung des Landes in Ost und West gemeint hat. Allerdings musste er sich anschließend immer wieder erklären und klarmachen, dass sein Konzept viel eher die politisch-gesellschaftlichen Teilungen der Ukraine thematisiert. In dieser Sicht ist die eine Ukraine demokratisch orientiert und will ein Teil Europas sein. Das heißt aber nicht, dass damit nur die Westukraine gemeint ist.

Und die andere Ukraine?

Jurij Andruchowytsch: Die zweite Ukraine wollte eher sowjetisch bleiben. Da gab es immer noch eine starke Nostalgie gegenüber dem vermeintlich verlorenen Paradies. Also der UdSSR, die in den Augen ihrer Anhänger leider zerstört wurde. Es ging aber auch da nicht unbedingt um die Ostukraine. Das hat Rjabtschuk mit den beiden Ukrainen gemeint. Aber in der Wahrnehmung blieb im Grunde hängen, dass er über den ukrainischen Westen und den ukrainischen Osten sprach.

Und wie haben Sie das gemeint?

Jurij Andruchowytsch: Als ich 2004 in meinen „Flussliedern“ darüber schrieb, spielte ich schon mit diesem Konzept. Ich habe dabei keine anderen Argumente gehabt als topografisch-landschaftliche. Die bilden sich auch an den beiden Ufern des Dnipro ab. So dekonstruiere ich die möglichen anderen Interpretationen.

Mit den Präsidentschaftswahlen 2004 war das Konzept dann überholt.

Jurij Andruchowytsch: Die Wahlen haben etwas Neues geschaffen. Das war die dritte Ukraine, also die Zentralukraine, die gemeinsam mit der westlichen Ukraine für den proeuropäischen Kandidaten Wiktor Juschtschenko gestimmt hat. Das waren Regionen wie Sumy, Tschernihiw, Poltawa. Sie alle waren auf den Wahlkarten orange eingezeichnet. Die Mehrheit der Menschen wollte eine demokratische, europäische Ukraine.

2004 war insofern auch ein besonderes Jahr, als viele Länder in Mittel- und Osteuropa der Europäischen Union beigetreten sind. 2004 ist auch der Essayband erschienen, in dem Sie mit Andrzej Stasiuk über „Mein Europa“ geschrieben haben. Ich habe es damals gelesen als leidenschaftlichen Appell an den Westen, als eine Botschaft, dass es da eine Ukraine gibt, die sich Europa unbedingt anschließen will: Nur bitte, vergesst diese Ukraine nicht!

Jurij Andruchowytsch: Dieses Buch erschien 2004 auf Deutsch. Den Essay selbst habe ich bereits 1999 geschrieben, also fünf Jahre früher. In Polen ist er schon 2000 erschienen. In dieser Zeit hat sich im politischen Leben der Ukraine viel geändert. Was für mich aber generell wichtig ist: Ende der Neunzigerjahre lebte ich in einem Zustand, wie soll ich das nennen, ständiger bürgerlicher Verzweiflung. Ich war absolut unglücklich mit dem politischen System in der Ukraine. Aber es zeigte sich, dass nicht nur ich so unzufrieden war. Die Orangene Revolution war auch eine Folge dieser Veränderungen in der Gesellschaft. Die Texte, die ich damals schrieb, also auch „Mein Europa“, waren auch ein Hoffnungsruf.

Wenn wir von den 29 Flussliedern sprechen, Galyna, sind wir schon mitten drin im Thema der Geopoesie. Also einer Literatur, die sich der Geografie bedient, aber auch mit ihr spielt, sie fiktionalisiert. In den Flussliedern von Jurij kommt nicht nur der Dnipro vor, sondern auch die Poltwa, der in den Untergrund verlegte Fluss von Lwiw/Lemberg. Wie haben Sie diese Flusslieder gelesen?

Galyna Spodarets: Es sind tatsächlich viele Gewässer beschrieben. Besonders interessant finde ich Jurijs Ansatz, die Ukraine als geografisch-symbolisches Gebilde im Zusammenhang mit vier Flüssen zu definieren. Das sind im Westen die Donau und im Osten der Don. Dazu kommen noch der Dnister und der Dnipro. Wenn wir einen Weltatlas aufschlagen, ist diese geografische Symmetrie, wie er sie nennt, gut zu beobachten. Das sind für ihn nicht nur geografische Markierungen, sondern auch symbolische Räume. Für einen Schriftsteller ist das aber nicht ungewöhnlich. Wasser ist schließlich ein Grundelement des Lebens. Wir Menschen bestehen zu zwei Dritteln aus Wasser. Die Erdoberfläche besteht zu großen Teilen aus Wasser. Wasser ist eine universelle Metapher des Daseins. Die erzählte Welt von Jurij ist diesem Element tief verbunden. Das ist seine Art von Geopoesie.

Gilt das auch für Sie und ihre Studie über den Dnipro?

Galyna Spodarets: Ich habe in meinem Buch über den Dnipro eine Kategorie eingeführt, die ich „hydronomisches Denken“ nenne, also das Denken vom Wasser her. Es geht auch mit um die Verbundenheit mit Gewässern. Für einen Schriftsteller wie Andruchowytsch bedeutet Geopoesie, kreativ über Landschaften nachzudenken und sie dadurch zu erneuern. Auch mal etwas hinzuzufügen. Das ist der Unterschied zur Geopolitik.

Flüsse, die die Gedanken auf Reisen schicken können, die Europa vielleicht auch dekonstruieren und neu zusammensetzen, das ist auch ein Bild, das schon die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk benutzt hat. Im Jahr 2006 sprach sie davon, dass man Europa nicht nur entlang der Grenzen seiner Nationalstaaten lesen könnte, sondern auch entlang seiner Flusseinzugsgebiete. In diesem Bild stehen ebenfalls die Flüsse im Zentrum der Geopoesie. Was haben Flüsse denn den Bergen oder Meeren voraus?

Jurij Andruchowytsch: Flüsse bedeuten Bewegung. Sie bedeuten Verschiedenheit. Sie bedeuten Widersprüchlichkeit. Das alles ist sehr interessant für eine künstlerische Annäherung. Insofern sind die Flüsse dialektisch, besonders wenn es um die großen Flüsse geht, um kulturelle und landschaftliche Arterien. Das beste Beispiel im europäischen Kontext dafür ist die Donau, weil sie alle möglichen Sprachgruppen vereinigt. Es gibt an ihrem Lauf germanische Sprachen, romanische, slawische, die ungarische Sprache. Dazu kommt die widersprüchliche und komplizierte Geschichte mit dem Einfluss dreier Imperien, des habsburgischen, osmanischen und sogar des russischen. Das öffnet den Raum zum Fantasieren. Flüsse sind gut für die Poesie, aber auch für die Essayistik.

Galyna Spodarets: Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Flüsse die Stars der Geopoesie sind. Besonders prägend ist dabei die ambivalente Metapher des Trennens und Verbindens. Flüsse können zudem eine Projektionsfläche sein. Jurij beschreibt die politische Realität der Ukraine als die eines postkolonialen Landes und bedient sich dabei dieser Flussmetaphern wie einer Bühne für ganz unterschiedliche, komplexe Ereignisse und Handlungen. Man kann da vieles hineininterpretieren, aber man sollte nicht vergessen, dass er ein postmoderner Autor ist.

Inwiefern?

Galyna Spodarets: Wer seine Essays liest, wird merken, wie er mit kulturellem Wissen spielt, mit Stereotypen, mit Erwartungen der Leserinnen und Leser, mit festgelegten Zuschreibungen. Oft ist das ironisch und häufig auch flexibel gedacht. Sein historisches Erzählen ist sehr flexibel. Man darf von ihm keinen Geschichtsunterricht erwarten. Er ist scharfsinnig, gibt sich aber manchmal auch ahnungslos. Er setzt die realen Räume mit erdichteten in einen Zusammenhang. Das mag die Leser gelegentlich desorientieren. Aber genau das ist beabsichtigt, diese Desorientierung ist gewollt. Er nutzt also seine künstlerische Freiheit.

Jurij, Sie nicken und lächeln.

Jurij Andruchowytsch: Ich kann jedes Wort unterschreiben. Ich hätte es nur nicht so schön formulieren können.

Wieviel Eskapismus, wieviel Realitätsflucht steckt in Geopoesie? Sie hatten in Ihrer Laudatio auf den kürzlich verstorbenen Schriftsteller und Essayisten Martin Pollack 2010 gesagt, Mitteleuropa sei zum einen ein "Dasein dazwischen", zum anderen eine "Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung", die eine besondere Sensibilität wecke, sogar bei geografischen Namen. Andererseits sei es "eine Weltengegend, in der Geografie unmerklich in Poesie übergeht. Daraus ist die Geopoetik entstanden." Ist das nicht auch eine Art Flucht? Man bekommt nicht das, was man will und flüchtet sich in eine Welt der Poesie?

Jurij Andruchowytsch: Wenn wir über die politische Realität sprechen, konnten wir 2010 noch sehr klar sehen, wie bedeutend der westliche Teil Europas war und wie schwach Mittel- und Osteuropa waren. Das ist heute nicht mehr so. Einige Regionen in Mittel- und Osteuropa sind inzwischen sehr erfolgreich. Vor allem natürlich Polen, aber nicht nur. Meine Notizen von 2010 stammen also noch aus einer Zeit, in der die neuen Länder in der EU noch nicht als vollwertige Mitglieder angesehen wurden. Inzwischen ist es so, dass wir einen Krieg in der Ukraine haben. Da wäre es natürlich gut, wenn die Europäische Union mit einer Stimme sprechen würde, aber es gibt eben auch Länder wie Ungarn und die Slowakei. Wir stellen inzwischen fest, dass die Ukraine mehr Unterstützung in Brüssel bekommt als in Budapest oder Bratislava.

Heißt das auch, dass mit dem Krieg die Geopoesie an ihre Grenzen gekommen ist?

Jurij Andruchowytsch: Tatsächlich verwende ich den Begriff seit einiger Zeit nicht mehr. Ich glaube, die Zeit der Geopoesie ist vorbei. Ihre große Zeit hatte sie Ende der Neunziger- oder Anfang der Nullerjahre. Rückblickend frage ich mich sogar, ob das wirklich ein erfolgreicher Versuch war. Ich glaube nicht, dass sie ein effektives Gegengift gegen den Zynismus der Geopolitik sein kann.

Sie sind gerade in Kyjiw. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie auf den Dnipro schauen?

Jurij Andruchowytsch: Ja, was für ein großer Fluss! Wieviel Wasser, die Perspektive so breit und mächtig, Das ist ein optimistischer Blick, wie damals als ich ihn zum ersten Mal sah. Ich denke, wenn man zwölf Jahre alt ist, muss man optimistisch in die Zukunft schauen. Schon damals war ich ein literarisch geprägter Mensch. Es war vor allem meine Großmutter, die mir immer wieder Gedichte von Schewtschenko vorgelesen hat. Ich bin also mit seiner Poesie aufgewachsen. Seitdem ist auch der Dnipro für mich ein besonderes Symbol der ukrainischen Identität.

Wenn Sie heute dem Dnipro Ihre Stimme verleihen könnten, was würde er dann sagen?

Jurij Andruchowytsch: Ich denke schon über längere Zeit über den Dnipro als ein Opfer nach. Er ist ein Fluss, der leider im Sterben liegt. Die großen industriellen Projekte des 20. Jahrhunderts, die Staudämme und Stauseen, haben den Dnipro in einen halbtoten Fluss verwandelt. Dass er so breit und so langsam ist, ist nicht sein natürlicher Zustand. Zu Schewtschenkos Zeiten war der Dnipro viel schmaler und stürmischer. Manchmal erinnerte er an einen Gebirgsfluss. Deswegen hat Schewtschenko geschrieben, dass er brüllt und jammert. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Heute ist er leise. Er ist ein Invalidenfluss.

"Als die russische Armee den Staudamm in Kachowka im Juni 2023 zerstört hat, ist der Dnipro nach dem Verschwinden des künstlichen Stausees wieder in sein natürliches Bett zurückgekehrt. Die Natur kommt wieder zu sich." (Jurij Andruchowytsch) Journalistinnen und Journalisten am Ufer des ehemaligen Kachowka-Stausees am Dnipro, ein Jahr nach der nach der Sprengung des Staudamms durch russische Streitkräfte. (© picture-alliance, TARASOV / Avalon)

Das hört sich nicht mehr optimistisch an.

Jurij Andruchowytsch: Aber es kommt ein Paradox des Krieges zum Vorschein. Als die russische Armee den Staudamm in Kachowka im Juni 2023 zerstört hat, ist der Dnipro nach dem Verschwinden des künstlichen Stausees wieder in sein natürliches Bett zurückgekehrt. Die Natur kommt wieder zu sich. Ökologen aus der Region Cherson berichten von positiven Veränderungen im ökologischen Leben. Es gibt also Hoffnung. Aber natürlich brauchen wir nicht noch weitere Zerstörungen durch die Russen. Die Flüsse, das sehen wir da aber, haben eine große Überlebensfähigkeit. Das ist eine gute Nachricht. Ich habe also große Hoffnung in die Wiederkehr der natürlichen Kraft des Dnipro.

Galyna Spodarets, was würde der Dnipro sagen, wenn Sie ihm Ihre Stimme verleihen könnten?

Galyna Spodarets: Das ist eine fast poetische Frage. Der Dnipro wurde im 20. Jahrhundert sowohl zum Opfer als auch zum Zeuge historischer Entwicklungen. Auf 848 km wurde er aufgestaut – das ist ungefähr so lang wie die Oder. Der Dnipro ist heute kein natürlicher Fluss mehr, sondern eine Abfolge von Stauseen – ein tragisches Beispiel für eine durch Menschen verursachte Beeinflussung der Natur. Schon in den Achtzigerjahren wurden ökologische Probleme thematisiert. Die Katastrophe von Tschernobyl am Prypjat, einem Zufluss des Dnipro, hat das noch verstärkt. Vielleicht ist es das Schicksal der Menschheit, immer wieder dieselben Fehler zu machen. So wie jetzt auch mit dem Krieg. Der Dnipro ist in Teilen eine Frontlinie. Er zieht Grenze zwischen Leben und Tod. Zugleich steht er als Symbol für den Kampf um Freiheit und Zukunft. Was am Dnipro seit 2022 passiert, beeinflusst nicht nur die Region, sondern die ganze Menschheit. Die Menschheitsgeschichte wird am Dnipro geschrieben.

Das Gespräch führte Uwe Rada.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Spodarets, Galyna: Dnipro – Dnepr. Die Ukraine im Fluss. Ostslavische Raumkonzepte im Wandel, Bielefeld: transcript Verlag, 2023.

  2. Andruchowytsch, Juri: Wie Fische im Wasser: 29 Flusslieder. In: Ders.: Engel und Dämonen der Peripherie. Essays, Frankfurt a.M., 2007.

  3. Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.

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Jurij Andruchowytsch ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine. Er wurde 1960 in Stanislaw geboren und lebt in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine. In Deutschland wurde er 2004 mit seinem Essay "Mein Europa" sowie ein Jahr später mit dem Roman "Zwölf Ringe" bekannt. Sein jüngster Roman "Radionacht" erschien 2022.

Galyna Spodarets wurde 1988 in Odessa geboren und hat dort zunächst Germanistik und Anglistik studiert. Nach ihrem Studium der Slawistik in Regensburg promovierte sie zum Thema: „Dnipro – Dnepr – Dnjepr. Ein europäischer Fluss zwischen Poetik und Politik“. Ihre Biographie zum Dnipro ist 2023 im Transcript-Verlag erschienen. Spodarets arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur und Literatur Mittel- und Osteuropas an der Universität Potsdam.