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Das linke Ufer

Wolfgang Kil

/ 7 Minuten zu lesen

Das ungewisse Schicksal Kiews bedrängt Wolfgang Kil in besonderem Maße, denn er hat die ukrainische Hauptstadt viele Male besucht. Vor allem das hautnahe Erleben von Liwobereschna, Kiews riesiger Neustadt auf der linken Uferseite des Dnipro, hat das Denken des Architekturkritikers über das Stadtleben nachhaltig geprägt.

Blick auf Liwobereschna - Kiews Neustadt auf dem linken Ufer des Dnipro. (© Oleh Veheria)

Vor einiger Zeit kursierte im Internet ein kleiner Externer Link: Film, der Kiew weitab von Kreschtschatik und Maidan eindrucksvoll porträtiert. Der wortlosen Bilderschau seien im Folgenden Auszüge aus dem 2001 für die Zeitschrift Stadtbauwelt entstandenen Text hinzufügt, als zeitgenössischer Kommentar zu einem urbanen Wandel, der sich damals gerade vollzog. In der inständigen Hoffnung, dass Kiews „Linkem Ufer“ solch entsetzliche Bilder erspart bleiben, wie sie uns aus Charkiw, Mariupol oder Chernihiw erreichten.

Kiew II

„Es gibt nur einen einzigen Grund, auf der 'Linken Seite' zu wohnen – man kann von dort unentwegt das grandiose Panorama des alten Kiew bewundern.“ Selbst unter einheimischen Fachkollegen kriegt man den Satz oft zu hören, sobald man auf diesen unglaublichen Anblick zu sprechen kommt: Vom Honchari-Hügel, dem ältesten Teil Alt-Kiews aus gesehen, funkelt allabendlich ein endloses Lichtermeer. Am Tage nichts als weiße Häusergebirge, die sich irgendwo im Dunst der Ebene verlieren: Das ist Liwobereschna, das „Linke Ufer“. Die Hälfte aller Kiewer lebt dort. Man muss sich das vorstellen: ein München-Neuperlach, ein Berlin-Marzahn oder ein Märkisches Viertel für reichlich eine Million Menschen.

Was für eine Topografie! Beinahe hundert Meter hoch ragt die Kiewer Altstadt über dem Dnjepr (Dnipro) empor. Das gegenüberliegende östliche Ufer ist dagegen so flach, dass man meint, vom hohen Hang aus die Kohlehalden des Donbass sehen zu können. Zahlreiche Kanäle, Tümpel und Teiche im Gelände zeigen an, dass dort der Dnjepr immer wieder mal hineinschwappt – schlechter Baugrund also, weshalb bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein lediglich ein paar Siedlungen sich in das östliche Weichbild der Großstadt streuten.

Im Zuge von Stalins Industrialisierungspolitik, und nicht zuletzt, um den 1934 zugesprochenen Status als Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik zu unterstreichen, kam es ab Mitte der 1930er Jahre zu Planungen für erhebliche Stadterweiterungen östlich des Dnjepr. Voller Elan wurde mit der Erschließung der feuchten Niederung begonnen, bis zu sechs Meter hoch waren Bauflächen mancherorts gegen Überschwemmungsgefahr aufzuschütten. Doch der Zweite Weltkrieg verhinderte den Baubeginn. So kam es, dass Liwobereschna, die Kiewer Neustadt, ein reines Produkt der Nachkriegszeit geworden ist.

Moderne als Kontext

In der Außenwahrnehmung Kiews spielt dessen östliche Hälfte nie eine Rolle, das Hauptstadt-Leben findet seine Schauplätze ausnahmslos da oben in der Altstadt, zwischen vergoldeten Kirchenkuppeln und den bizarren Schaufassaden des Stalin-Barocks. Doch solch Desinteresse ist mehr als bedauerlich. Denn ob man Struktur und Ästhetik des industriellen Massenwohnungsbaus gut oder schlecht, reparabel oder verzichtbar findet – hier hat sich das funktional-technokratische Planungsleitbild der Städtebaumoderne in einem Ausmaß materialisiert, dass schiere Quantität tatsächlich in neue Qualitäten umgeschlagen ist. Über fünfzig Jahre, also schon über mehrere Generationen hinweg, ist hier eine Millionenstadt herangewachsen. Man muss sich mit deren Sosein nicht kritiklos abfinden, aber deren Existenz ist erst einmal zu akzeptieren. Und man muss wohl die sehr eigenen Existenzbedingungen und Entwicklungspfade dieses längst nicht mehr exotischen Stadttyps durchschauen lernen, um auf sein weiteres Schicksal Einfluss zu nehmen. Ein riesiges Abenteuerland für Architekten, sollte man denken.

Und in der Tat: An den nördlichen und südlichen Rändern breitet die Neustadt sich unaufhaltsam ins Umland aus. Ganze Wälder von Kränen drehen sich über immer höheren Clustern von Extremwohnungsbau. Die Ära der vierzehn- oder siebzehngeschossigen Scheiben scheint passé, jetzt sind siebenundzwanziggeschossige Punkthochhäuser dran – keine einfallslos hochkant gestellten Kisten, sondern durchmodellierte Türme mit Anflügen postmoderner Fassadenkunst. Die früher notorisch mangelhafte Bauqualität ist in den letzten Jahren sichtlich gestiegen. Geradezu opulent wird sie in Ufernähe vorgeführt, wo so demonstrativ auf Luxus gesetzt wurde, dass man schon beim Vorüberfahren unwillkürlich an Szenen mit dunklen Karossen und sonnenbebrillten Leibwächtern denkt. Wenn sie denn schon ans Linke Ufer zieht, bevorzugt die neue ukrainische Geldelite natürlich vorderste Wasserlage, mit direktem Blick hinüber zu den Goldkuppeln des Lawra-Klosters und zur gigantischen „Mutter Heimat“ gleich nebenan.

Lesbare Stadtgeschichte

Was vom gegenüber liegenden Dnjepr-Hang wie eine endlose „Plattenbau-Ödnis“ wirken mag, bietet bei näherer Betrachtung eine erstaunliche Vielfalt der Bautypen und architektonischen Handschriften, lässt sich mit einiger Übung also historisch entziffern wie jede andere Stadt. Die fünf sowjetischen Jahrzehnte von Liwobereschna waren keineswegs nur die „bleierne Zeit“ der zuletzt herrschenden Breschnew-Stagnation. Es gab bewegte Jahre, streckenweise von Richtungskämpfen geprägt, deren Spuren durchaus im Stadtbild zu finden sind – ein Mindestmaß an Kenntnis der fraglichen Baugeschichte und einiger ihrer ideologischen Hintergründe vorausgesetzt.

Als besonders ergiebig für architektonische Streifzüge durch die Kiewer Nachkriegszeit zeigen sich die betagteren Quartale im zentralen Bereich. Wie im Eildurchlauf sind hier alle wesentlichen Paradigmen des sowjetischen Städtebaus zu betrachten. Ausgehend von einigen letzten Werksiedlungen aus den Zwanzigerjahren sind es nur ein paar Minuten Fußweg bis zu zaghaften Versuchen, mit dem Kiewer Zuckerbäckerstil, der oben in der Altstadt am Kreschtschatik seine delirischen Triumphe feierte, auch die alltägliche Wohnwelt der Werktätigen zu bereichern.

Aber der ungehörige Aufwand ließ das Experiment schon nach vier Quartiersblöcken scheitern, auf der Straßenseite gegenüber stehen dann schon die ersten kahlen Exemplare der Folgezeit. Mit denen war die einschneidende Periode der „Chruschtschowkas“ eröffnet, jener fünfgeschossigen Zeilen in Schlichtbauweise, die bei aller Ärmlichkeit des heutigen Anblicks immerhin die millionenfach realisierte sowjetische Variante der „Wohnung für das Existenzminimum“ war. In der quälenden Nachkriegs-Wohnungsnot bot sie den vom Land in die Industriezentren Strömenden den heiß ersehnten Gewinn an Wohnkomfort.

Heute sind die Blöcke allgemein Sorgenkinder der Wohnungswirtschaft und von den massiven Bemühungen ihrer Bewohner um Individualisierung gezeichnet. Der Trübsinn der offenen Zeilenstrukturen wird von üppiger Durchgrünung gemildert. Einzelne Zwölf- bis Siebzehngeschosser mit postmoderner Maskierung sind als neumodische „Inseln der Bessergestellten“ (mit Tiefgaragen und separat gepflegten Vorgärten) unvermittelt dazwischen gestreut. Das ist der Moment, an dem alle Logik und Verbindlichkeit des Ursprungsplans ein Ende findet.

Nachholende Urbanisierung

Im Vergleich mit den Außenbezirken der Altstadt ist das Linke Ufer ziemlich gut erschlossen. Der Blick auf den Stadtplan zeigt eine schnell einprägsame Ordnungsstruktur, wie sie nur auf Reißbrettern gedeihen kann. Bis weit in die 1990er Jahre hinein war die ganze Kiewer Neustadt natürlich ein lupenreines Produkt funktionalistischen Städtebaus, was sich vor allem am robusten und hierarchischen Gerüst der Erschließungswege zeigt. Das Schwergewicht bei aller Infrastrukturplanung liegt bis heute beim öffentlichen Nahverkehr: Schnurgerade reichen zwei Metrolinien ostwärts tief in die Neustadt hinein. Die Querverbindung in Nord-Süd-Richtung übernehmen Trambahnen auf überbreiten Boulevards sowie Busse für die kleinräumige Verteilung. Zwei Vorortbahnen verklammern die älteren, ufernahen Komplexe, nur die ungebremst wuchernden Erweiterungsgebiete im Norden wie im Süden sind gänzlich auf Bus und Tram angewiesen. Die Logik und Effizienz dieses strikt rationalen Planungsleitbildes ist bewundernswert: Wer im Besitz eines Linienplanes ist (und die heillose Überfüllung aller Busse und Bahnen nicht fürchtet), wird jeden Winkel in dieser Millionenstadt aus der Retorte zügig erreichen.

Parallel zu den beiden den Fluss überquerenden Metrolinien verlaufen auch die wichtigsten Ausfallstraßen Richtung Osten. Das sind schnurgerade Rollbahnen mit vier bis sechs Fahrspuren und breiten, von Kiefern bestandenen Grünstreifen als Emissionsschutz für die nächstgelegenen Wohnquartiere. Alle zwei bis drei Kilometer markiert eine Bahnstation den Kreuzungspunkt mit einer der Magistralen des Binnenverkehrs. Rings um die Bahnhöfe erstreckten sich anfangs windige Niemandsländer, mit der Zeit sind es aber exakt diese von täglich Zehntausenden frequentierten Umsteigepunkte, von denen die allmähliche Urbanisierung der Reißbrettlandschaft ihren Ausgang nimmt.

Der Vorgang ist immer der gleiche: Zuerst postieren sich Marktfrauen mit Gartenfrüchten, selbstgestrickten Pullovern, Blumen oder Lottoscheinen rings um Bahnsteigtreppen und Schalterhallen. Mit der Zeit bilden sich kleine Gassen aus Buden und Kiosken, die bald einen improvisierten Markt umstellen. Irgendwann schlägt die Stunde der „Biznesmeny“, jener üblichen Verdächtigen, die wissen, wie man an Genehmigungen für ordentliche Gebäude kommt. Die starten dann mit aufgebrezelten Autosalons und hektargroßen Baumärkten, die Stadt spendiert ein riesiges Kinderkaufhaus, auch ein Kino und zwei Theater (in eigenen Häusern!). So wird Schritt für Schritt aus dem improvisierten Basar eine knatterbunte Kleinstadtkulisse mit allen Angeboten, die des Kunden Herz begehrt – zwielichtige Kneipen und Spielsalons bis nach Mitternacht inbegriffen.

Diese spontankapitalistische Unterwanderung der ursprünglich klaren (und reichlich kahlen) Räume und Stadtfiguren durch das Gewusel privater Existenzgründer lässt sich als die erste Phase einer „Normalisierung“ der Planstadt begreifen: Die Reichweite der planerischen Idealvorstellungen hat sich erschöpft, jetzt übernehmen die wirklichen Verhältnisse das Regiment. In undurchschaubaren Verhandlungen und Kontrakten werden Räume und Flächen neu angeeignet, Wegebeziehungen neu geknüpft, Orte mit Bedeutung belegt. Dass es bei all dem nur in seltensten Fällen um irgendwie interessante „Baukunst“ geht, sollte den unzweifelhaften Gewinn an Stadtqualität nicht schmälern, denn seit Robert Venturi wissen wir ja: „Mainstreet is almost alright!“

Der Text ist eine geringfügig überarbeitete Version des Originalbeitrags „Kiew II. Jeder zweite Hauptstädter lebt östlich des Dnjepr“, der 2001 in der Zeitschrift Externer Link: Bauwelt (H. 48, Stadtbauwelt 152, S. 72-79) erschienen ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang Kil, Jg. 1948, ist Architekt, Architekturkritiker und Publizist. Er befasst sich besonders mit der Baugeschichte der DDR und Osteuropas, den gesellschaftlichen Hintergründen von Architektur, Shrinking Cities, der Zukunft der Großsiedlungen und dem Wandel ländlicher Räume.