Der Dnepr stöhnt und brüllt, der breite,
Zornbebend heult der wilde Wind,
Beugt tief hinab die hohe Weide,
Wirft Wellen, die wie Berge sind.
Taras Hryhorowytsch Schewtschenko aus der der Ballade „Причинна“/ „Die Behexte“, übersetzt von Alfred Kurella 1987
Der trennende, verbindende Fluss
Der „breite Dnipro“, wie ihn der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814-1861) im 19. Jahrhundert beschrieben hat, ist nicht nur der drittlängste Fluss Europas, sondern auch ein zentrales Motiv der ukrainischen Kunst und Kultur. In der ukrainischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts nimmt der „ukrainische Fluss“, an dem Sprache, Kultur und Nationwerdung der Ukraine immer wieder zusammenkommen, eine prominente Rolle ein, etwa in den Gemälden des in Mariupol geborenen Malers Arkhyp Kuindzhi (1841-1910) oder des von der Krim stammenden Ivan Aivazovsky (1807-1900).
Insofern unterstreichen die Zerstörung des Kuindzhi Art Museum in Mariupol durch einen russischen Luftangriff sowie die Entwendung zahlreicher Werke aus den Museen in Mariupol und Cherson durch die russischen Besatzer im Frühjahr 2022 umso deutlicher das Ziel Russlands, die Ukraine ihrer nationalen, politischen und kulturellen Identität zu berauben. Entlang des Dnipro lässt sich aber auch erahnen, warum genau dies zum Scheitern verurteilt ist.
Zu Schewtschenkos Lebzeiten war der Dnipro geachtet und gefürchtet. Die Stromschnellen zwischen den Städten Dnipro und Saporischschja (deren Name „hinter den Stromschnellen“ bedeutet) machten die Schifffahrt auf dem eigentlich breiten Strom gefährlich. Das Unberechenbare und Wilde des Flusses wurde während der Sowjetzeit mit Stauseen und Wasserkraftwerken eingehegt und begradigt. Im Gegensatz zum Fluss ließ sich die Ukraine selbst nicht bändigen und einhegen – vielmehr rückte der Dnipro insbesondere seit der „Revolution der Würde“ (Euromaidan) im Winter 2013/14 zunehmend als Verbindungslinie der ukrainischen Gesellschaft ins Bewusstsein.
Noch in den ersten zwei Jahrzehnten der ukrainischen Unabhängigkeit nach 1991 galt der „ukrainische Strom“ als Teil einer politischen und gesellschaftlichen Trennlinie. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zwischen 2004 und 2012, die stark von der Polarität der kandidierenden Personen und Parteien als proeuropäisch beziehungsweise prorussisch geprägt waren, zeigte sich das Muster eines überwiegend den prorussischen Parteien zugeneigten Ostens und Südens und der klar westlich-europäisch orientierten Zentral- und Westukraine. Die östlich und südlich des Dnipro gelegenen Oblaste Charkiw, Luhansk, Donezk, Saporischschja, Cherson und die Krim, aber auch die vom Dnipro durchflossene Oblast Dnipro sowie die westlich gelegenen Oblaste Mykolajiw und Odesa wählten in dieser Zeit mehrheitlich die „Partei der Regionen“ beziehungsweise deren Nachfolgepartei „Oppositionsblock“.
Jenseits der scheinbaren Ost-West-Polarisierung, die sich so pauschal nur an Wahlergebnissen und in Meinungsumfragen zum EU-Beitritt ablesen ließ, entwickelte sich nach 2004 auch in den ostukrainischen Städten die Zivilgesellschaft rasant. Vom Dnipro als Trennlinie konnte mit Blick auf NGOs und Initiativen keine Rede sein. Unmittelbar nach der Revolution der Würde schließlich war das Ost-West-Muster in den Wahlen und Umfragen aufgehoben. So fanden die Proteste für eine freie, unabhängige und demokratische Ukraine zwischen Ende November 2013 und Februar 2014 neben dem Maidan in Kyjiw – nur kleiner – auch in Dnipro, Odesa und Cherson statt, wiederum häufig organisiert von lokalen NGOs und Künstlergruppen. Die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2014 entschied der proeuropäische Kandidat Petro Poroschenko mit der absoluten Mehrheit in fast allen Wahlkreisen der freien Ukraine klar für sich, und die folgenden Wahlen waren von deutlicher geografischer Heterogenität des Wahlverhaltens geprägt.
Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaft in der Ukraine
Nur wenige Gesellschaften Osteuropas blicken auf eine derart dynamische, kontinuierliche und selbständige Zivilgesellschaft zurück wie die Ukraine. Mit der ihr eigenen Kombination aus einer starken Mobilisierungsfähigkeit und dem unbedingten Streben nach Unabhängigkeit hat die ukrainischen Zivilgesellschaft autoritären Machtbestrebungen in ihrem Land seit langem Grenzen aufzeigt. Zugleich lagen ihre Erfolge und Misserfolge häufig sehr dicht beieinander.
Der ukrainische Widerstand gegen Russifizierung und Sowjetisierung formierte sich als Bezug auf die ukrainische Sprache und Kultur seit den 1920er Jahren und bildete eine wichtige Basis für die politische Kritik der ukrainischen Dissident:innen in den 1960er bis 1980er Jahren. Unter den politischen Häftlingen in der Sowjetunion waren überproportional viele Ukrainer:innen. Zugleich wurde die Abwertung der ukrainischen Sprache und Kultur als „bäuerlich“ und „ungebildet“ umso stärker forciert.
Die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde ebenso wie zuvor die Menschenrechtsbewegungen im Helsinki-Prozess zu einer Geburtsstunde zahlreicher Menschenrechts- und Umweltorganisationen, die zusammen mit den Dissident:innen eine wichtige Basis für die Unabhängigkeitsbestrebungen 1989-91 bildeten. Nach dem Vorbild der polnischen „Solidarność“ gründete sich „Ruch“ (Bewegung), eine Organisation, die sich für eine unabhängige und demokratische Entwicklung der Ukraine einsetzte. Die Unabhängigkeit wurde 1991 auch dank zahlreicher Proteste engagierter Bürger:innen ermöglicht, unter anderem in einer Menschenkette zwischen Kyjiw und Lwiw und der „Granitrevolution“ – der ersten von drei großen prodemokratischen Revolutionen – im Oktober 1990. Eine Demokratisierung und europäische Integration wie in Polen oder den baltischen Staaten blieb allerdings aus.
Ruch blieb als Bewegung aktiv und versammelte in den 1990ern und frühen 2000ern eine jüngere Generation von Aktivist:innen, die unabhängige Medien und studentische Netzwerke gründeten, um eine politische Öffnung, Demokratisierung und Europäisierung einzufordern. Die beeindruckende Mobilisierungsfähigkeit zur Orangenen Revolution im November 2004, die eine Reaktion auf massive Wahlfälschungen zugunsten des von Russland unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowitsch war und schließlich zu demokratischen Neuwahlen führte, spiegelt die Stärke der ukrainischen Zivilgesellschaft – und zugleich deren damalige größte Schwäche: Nach der erfolgreichen Revolution gelang es nicht, nachhaltige politische Veränderungen im politischen System zu verankern.
Gleichzeitig entwickelten sich zivilgesellschaftliches Engagement, Presse- und Meinungsfreiheit, sowie eine progressive, kritische Kulturszene, die sich aber ab 2010 mit zunehmenden Restriktionen, Repression und „shrinking spaces“ konfrontiert sah. Der demokratisch gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch drehte die demokratischen Entwicklungen zielgerichtet zurück und baute ein autoritäres, immer stärker russlandhöriges System auf.
Die Zivilgesellschaft trotzte allerdings auch dieser repressiven Phase. Als Janukowitsch die schon 2005 begonnene Annäherung an die Europäische Union endgültig beenden wollte und die friedliche Kritik daran brutal niederschlagen ließ, gelang es der Zivilgesellschaft in der „Revolution der Würde“ stärker als je zuvor zu mobilisieren. Nach der erfolgreichen Revolution im Winter 2013/14, die im westlichen Europa besser als „Euromaidan“ bekannt ist, diversifizierte sich die Zivilgesellschaft – auch, um die Fehler der Orangenen Revolution nicht zu wiederholen. Einige der bisherigen Aktivist:innen, Journalist:innen und NGO-Vertreter:innen gingen in die Parlamente oder in die Verwaltungen, um die Ideale des „Maidan“ in das politische System zu überführen.
Aus den selbstorganisierten Maidan-Protesten entwickelten sich neue Initiativen – von der lokalen oder kommunalpolitischen Zusammenarbeit bis hin zur Unterstützung jener Kampfeinheiten, die sich im Frühjahr 2014 in der Ostukraine der beginnenden russischen Eroberung und Besatzung entgegenstellten. Viele Kampfeinheiten selbst waren aus den Selbstverteidigungsgruppen der Maidan-Proteste entstanden und ersetzten insbesondere in den Jahren 2014 und 2015 zum Teil die vielfach überforderte, seit der Unabhängigkeit völlig abgewirtschaftete reguläre Armee, bevor sie 2016 in die neuen militärischen Strukturen der Ukraine integriert wurden.
Maidan
Parallel formierten sich angesichts der knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge, die durch den russischen Angriff auf die Krim sowie die Oblaste Donezk und Luhansk fliehen mussten, aus Menschenrechts-NGOs, Künstlergruppen und Nachbarschaften Organisationen zur Unterstützung der Geflüchteten. Zugleich entwickelten sich an vielen Orten der Ukraine, insbesondere in der Ostukraine, Kulturzentren und künstlerische Initiativen, welche die Schrecken des 2014 begonnenen Krieges und die russische Aggression, aber auch den wiederaufgenommenen und intensivierten Prozess der Demokratisierung und Europäisierung der Ukraine kritisch begleiteten.
Die große militärische Invasion Russlands in die Ukraine traf im Februar 2022 auf eine Gesellschaft, die in drei großen Revolutionen und unzähligen kleineren Protesten, in der Fürsorge für Geflüchtete und bürgerschaftlichen Verantwortungsübernahme für Demokratie breit aufgestellt und geübt war. Die ukrainische Zivilgesellschaft gleicht Stromschnellen, welche die breite Gesellschaft in einen dynamischen, alles verändernden Zustand bringt, sie aufwirbelt und vorantreibt. Anders als der Sowjetunion beim Fluss Dnipro ist es Russland nicht gelungen, diese Dynamik zu brechen und die Gesellschaft zu begradigen.
Fluss des Protests
Seit der Revolution der Würde und besonders seit dem großflächigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine kann der Dnipro zunehmend als eine Ader der gesellschaftlichen Verständigung, des zivilgesellschaftlichen Aktivismus und des Widerstands gegen die russischen Besatzungs- und Vernichtungspläne gelesen werden.
Die vielleicht direkteste Verbindung von Kritik, Kunst und Fluss ging die 2014 von der Krim geflohene Künstlerin Maria Kulikovska ein. Im Jahr 2016 fuhr sie in der Performance „Raft Crimea“ in einer Seenotrettungsinsel den Dnipro herab und machte mit dieser „Sozialen Skulptur“ auf die Flucht und Vertreibung Zehntausender Menschen von der Krim seit der Besetzung und Annexion durch Russland aufmerksam. Ihre eindringliche körperliche Bildsprache setzt Kulikovska auch aktuell in ihren Performances ein – allerdings weit weg vom Fluss, im österreichischen Exil und in Deutschland.
Am Dnipro selbst lässt sich ebenfalls beobachten, wie der ukrainische Widerstand zur Formung einer kollektiven Identität beiträgt, die zentral auf kreativer
Widerstand und Selbstorganisation in Dnipro
Nicht nur Widerstand, sondern auch Wiederaufbau und Neuaufbau der ukrainischen Gesellschaft lassen sich entlang des Flusses entdecken – und vielleicht besonders gut dort, wo man beides weit weniger vermutet als in der Hauptstadt. Die Großstadt Dnipro, weiter südlich am Fluss gelegen, stellt die eigentliche urbane Verbindung von Stadt und Fluss dar. In kultureller und zivilgesellschaftlicher Hinsicht stand Dnipro lange Zeit im Schatten der Metropolen Kyjiw, Charkiw oder Lwiw, obwohl sich die Stadt gerade seit dem Maidan zu einem wichtigen Zentrum von Kunst und Kultur, zivilgesellschaftlichem Handeln und einem neuen ukrainischen Selbstverständnis entwickelte.
Bereits 2014 wurde Dnipro neben Mariupol, Charkiw und Odesa einer der wichtigsten Orte der Ost- und Südukraine für die Aufnahme von Binnenflüchtlingen aus den Oblasten Luhansk, Donezk sowie von der Krim. Die Geflüchteten und die relativ nahe Frontlinie veränderten die Stadtgesellschaft strukturell, aber auch in ihrem Selbstverständnis als zentralukrainische Stadt. Die Folgen des Krieges und der Annexion, die neuen politischen Machtverhältnisse und zugleich die Europaorientierung der Ukraine waren hier deutlich zu spüren.
Am Beispiel Dnipros kann man zwei Tendenzen ablesen, wie sich die ukrainische Zivilgesellschaft im Krieg verändert: Erstens werden Kunst- und Kulturorte immer stärker Orte, an denen sich ein Gemeinwesen entwickelt – es entstehen ähnlich der griechischen Agora alternative Arenen, Bildungs- und Debattenorte, in denen Nachbarschaften und Stadtgesellschaft zusammenkommen. Zugleich sind sie Orte für humanitäre Hilfe und Spendensammlungen. Zweitens professionalisieren sich zivilgesellschaftliche Organisationen, übernehmen teils staatliche Aufgaben und setzen dabei auf partizipative Ansätze, etwa auf die Mitarbeit von Bürger:innen im Sinne von „Citizen Science“.
Kunst und Kultur zentral für den Aufbau gesellschaftlicher und demokratischer Resilienz
Ein Beispiel der erstgenannten Entwicklung ist die Organisation „Kultura Medialna“, die 2013 als Initiative für experimentelle elektronische Musik – oder einfacher gesagt als unpolitischer Technoclub – gegründet wurde. Während des und nach dem Euromaidan wurde Kultura Medialna zunehmend politischer und verstand sich als progressives Zentrum, das über Kulturangebote Diskussionsräume, Kunst und Vernetzung in der Stadtgesellschaft zu schaffen versuchte.
Gemeinsam mit der ebenfalls 2013 gegründeten „Artsvit Gallery“, einer Plattform für moderne ukrainische Kunst und Kunstvermittlung, und Ksir Prostir, einem Labor für junge Künstler:innen, begannen Aktivist:innen von Kultura Medialna ab 2017, das Externer Link: Dnipro Center for Contemporary Culture (DCCC) aufzubauen. Nach langer Suche nach einem geeigneten Ort entstand in einer ehemaligen Fabrikhalle – einem traditionellen Backsteingebäude mitten in Dnipro – ein Kulturzentrum, das fortan von Kunstkursen für Kinder bis hin zu Workshops, Festivals und Konzerten ein breites Spektrum an Kultur anbot.
Die Arbeit für und mit Binnenflüchtlingen war von Beginn an ein wichtiger Aspekt des DCCC. Seit Februar 2022 sind Filmvorführungen oder Konzerte, bei denen Geld für humanitäre und militärische Zwecke gesammelt wird, ebenso Teil der Arbeit des DCCC wie die Organisation von Unterkünften für Geflüchtete, Treffen für nachbarschaftliche Hilfe, Bildungs- und Kreativangebote für Kinder oder auch eine Gemeinschaftsküche.
Mehr denn je betrachtet sich das DCCC als sozialer Knotenpunkt, an dem Menschen in Bildungs- und Kulturveranstaltungen zusammenkommen und eine urbane Gemeinschaft bilden können. Andrii Palash, einer der Initiator:innen und Akivist:innen des DCCC, fasst die Bedeutung von Kunst und Kultur im Krieg wie folgt zusammen: „Darüber hinaus wurde mit dem Beginn des großmaßstäbigen Krieges deutlich, dass Kultur eine gemeinsame Grundlage für uns alle ist. Die Menschen begannen sich mehr für die ukrainische Kultur zu interessieren, neue Namen oder Phänomene zu entdecken, sich mit der Erinnerungsarbeit zu beschäftigen. Viele, die in ihrem Leben Russisch gesprochen haben, sind bewusst auf Ukrainisch umgestiegen. Kultur ist zu einem Weg des Widerstands und gleichzeitig zu einem Weg geworden, sich selbst und seine Identität zu verstehen.“
Kunst und Kultur spielen gerade im Krieg eine zentrale Rolle für den Aufbau von gesellschaftlicher und demokratischer Resilienz. Kulturinitiativen tragen zum gesellschaftlichen Widerstand gegen die russische Invasion und die Herausbildung gesellschaftlicher Solidarität bei, indem sie ihre Räume für Nothilfe bereitstellen, Unterstützung für Geflüchtete oder die ukrainischen Streitkräfte organisieren, künstlerische Workshops anbieten und den Krieg reflektieren. Dass Kunst und Kultur in der Ukraine oft einem politischen Anspruch folgen und Demokratisierung einfordern, wurde schon in den drei großen prodemokratischen Revolutionen der Ukraine deutlich, die jeweils stark von künstlerischen Beiträgen, Symboliken oder Performances geprägt waren.
Seit dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine im Jahr 2014 und erst recht seit der großflächigen Invasion 2022 sind Kulturorte noch einmal stärker zu Orten des gesellschaftlichen Zusammenhalts geworden.
Von Umweltschutz über „Citizen Science“ zu Partizipation
Ein Beispiel für die zweite Entwicklungsrichtung der ukrainischen Zivilgesellschaft – Professionalisierung und Citizen Science – stellt die NGO „Save Dnipro“ dar. Die Organisation geht zurück auf die Initiative einiger Bewohner:innen der Stadt, die sich im Jahr 2017 gegen die Luftverschmutzung durch ein Wärmekraftwerk in Dnipro einsetzten. Dabei handelte es sich nicht um irgendein Wärmekraftwerk. Es gehörte zum Unternehmensgeflecht von Rinat Achmetow, bis heute einer der reichsten Unternehmer der Ukraine.
Zur gleichen Zeit wurde im ukrainischen Umweltministerium gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dem UNDP, an einem Register für Umweltverträglichkeitsprüfungen gearbeitet, das mehr Transparenz in Umweltschutzmaßnahmen von Unternehmen bringen und die Praxis des Greenwashing
Save Dnipro beteiligte sich an der Erarbeitung des entsprechenden Gesetzes aus der lokalen Perspektive heraus, lieferte aber zudem noch Ideen, Wissen, Netzwerke und eine pragmatische Ergänzung zur Umsetzung, indem 2018 ein Chatbot namens SaveEcoBot eingerichtet wurde. Über den Bot sind sämtliche hinterlegte Informationen zu den Registerdaten eines Unternehmens, seinen speziellen Lizenzen zur Nutzung von Wasser, zur Genehmigung von Schadstoffemissionen oder für die Entsorgung gefährlicher Abfälle abrufbar. Im Zusammenspiel mit einer interaktiven Karte sind zudem Daten zur Luftreinheit, zur Hintergrundstrahlung sowie über aktuelle Feuer und jeweilige Windverhältnisse abrufbar. Diese Daten werden in Echtzeit dargestellt und über ein Netzwerk von Datenkollektoren gesammelt, die in der ganzen Ukraine verteilt sind. Dafür nutzt Save Dnipro sowohl offizielle Messstellen als auch einfache Luftmessgeräte, die über Freiwillige bedient und gewartet werden. Die Datenübertragung erfolgt vollständig digital.
Save Dnipro steht für eine hochprofessionalisierte Zivilgesellschaft, die eigentlich staatliche Aufgaben übernimmt – in diesem Fall Bevölkerungs- und Katastrophenschutz sowie die Überwachung von Umweltauflagen. Da die Datenbasis zu einem großen Anteil nicht nur aus offiziellen, sondern auch aus privat betriebenen Messstellen gespeist wird, folgt das Projekt zugleich einem partizipativen Ansatz im Sinne der „Citizen Science“ und des aktiven Einbezugs von Bürger:innen als Informationslieferant:innen und -rezipient:innen.
Die Datenbasis der Projekte erstreckt sich auf das gesamte Gebiet der Ukraine entsprechend der völkerrechtlich anerkannten Grenzen von 1991– demzufolge werden auch Daten aus den besetzten beziehungsweise annektierten Gebieten mit einbezogen, unter anderem von Bürger:innen, die dort unter großer Gefahr eigene Messstationen betreiben. In diesem Sinne beinhaltet der SaveEcoBot eine direkte Komponente des Widerstands gegen die russische Besatzung. Dass ukrainische Bürger:innen in den besetzten Gebieten trotz der Gefahr, der Kollaboration angeklagt zu werden, dem Projekt weiterhin zuarbeiten, unterstreicht die gute Vernetzung von Save Dnipro, die leichte Umsetzung der Messungen, vor allem aber das Potenzial von partizipativen Ansätzen wie Citizen Science mit Blick auf den Wiederaufbau der gesamten Ukraine.
Save Dnipro ist damit ein Beispiel für die zweite Entwicklungsrichtung der ukrainischen Zivilgesellschaft, die besonderes Potenzial für Regionen jenseits der drei großen Städte Kyjiw, Lwiw und Charkiw birgt. Initiativen, die sich mit konkreten Problemen vor Ort auseinandersetzen, sich darüber politisieren und auf wissensorientierte, partizipative und dezentrale Ansätze aufbauen, zeigen sowohl technisches als auch demokratisches Innovationspotenzial. Für die Herausbildung demokratischer Resilienz sind lokale Vernetzung, lokales Engagement und politische wie soziale Resonanz auf beides überaus wichtig. Wenn dies gelingt, kann gesellschaftliche Resilienz über den unmittelbaren sozialen Kontext hinaus aufgebaut werden. Der breite Dnipro steht heute einmal mehr für das Zentrum der Ukraine, das keinesfalls zur Peripherie oder zum Grenzland werden darf. Die aktive Zivilgesellschaft in Kyjiw, aber auch jenseits der Hauptstadt entlang des Flusses zeigt, welche Bedeutung Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft gerade im Krieg haben, und wie sich eine Gesellschaft der kreativen Resilienz herausbildet, die sich weder einebnen noch unterdrücken lässt.