Wo verläuft der Dnipro?
Wo der Rhein entspringt und wo er mündet, wissen die meisten in Deutschland. Auch der Mythos des „Vaters Rhein“, seine geschichtspolitische Bedeutung, ist allgegenwärtig. Das gleiche gilt für die Donau, nach der die österreich-ungarische Donaumonarchie benannt wurde. Sie ruft viele Assoziationen hervor, und sei es nur die eines Donauwalzers. Und ist nicht die Wolga als „Mütterchen Wolga“ der nationale Fluss Russlands?
Was aber ist der Dnipro? Wo entspringt der nach Wolga und Donau drittlängste Fluss Europas? Was wissen wir über seine kulturelle Bedeutung für die Menschen in der Ukraine?
Diese Fragen sind nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ab Februar 2022 aktueller denn je. Denn der 2.201 Kilometer lange Dnipro entspringt nur 200 Kilometer westlich von Moskau in den Waldaihöhen, nicht weit entfernt vom Quellgebiet der Wolga. Anders als diese fließt er geradewegs nach Südwesten und Süden, durch Smolensk in Russland und durch Mogilew und Homel in Belarus, bevor er nach 400 Kilometern die Ukraine erreicht und für 120 Kilometer die Grenze zwischen der Ukraine und Belarus bildet. Erst nach der Mündung des Prypjat in den Kyjiwer Stausee ist der Dnipro ein ukrainischer Fluss.
Tausend Kilometer fließt der Dnipro nun durch das Land, vorbei am Hochufer zu seiner Rechten, auf der die Altstadt von Kyjiw liegt, während sich in der flachen Ebene auf dem linken, östlichen Ufer die größte Plattenbausiedlung Europas erstreckt. Über zahlreiche Stauseen geht es in südöstlicher Richtung zur Großstadt Dnipro, dann weiter nach Saporischschja mit der ehemaligen Kosakeninsel Chortyzja. Saporischschja heißt „Hinter den Stromschnellen“. Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts errichtete die Sowjetunion dort das größte Wasserkraftwerk Europas DneproGES. Bekannt ist die Stadt heute durch das gleichnamige Atomkraftwerk, auch hier ein Superlativ: das größte in Europa.
Der Unterlauf des Dnipro führt schließlich in südwestlicher Richtung nach Cherson, hinter dem der Fluss in einem ausgedehnten Binnendelta ins Schwarze Meer mündet. Auch Cherson ist inzwischen bekannt in Deutschland. Bis Redaktionsschluss bildete der Dnipro die Frontlinie zwischen dem zurückeroberten Cherson und den russisch besetzten Gebieten hinter dem südlichen Ufer. Am 6. Juni 2023 wurde der Kachowska Staudamm gesprengt und die Gebiete rechts und links des Dnipro unter Wasser gesetzt.
Warum ist das Flussgebiet so hart umkämpft? Hier lohnt ein Blick in die Geschichte des Dnipro.
Der slawische Jordan
Der Dnipro spielte jahrhundertelang eine wichtige Rolle in der Geschichte der Ostslawen – als Handelsweg, als christlicher Erinnerungsort oder als Motor der Industrialisierung. Bei den Griechen wurde er Borysthenes genannt. Herodot hob ihn mit den Worten hervor:
„[Borysthenes] hat meiner Meinung nach die fruchtbarsten Umgebungen, nicht bloß von den skythischen Flüssen, sondern von allen mit Ausnahme des Nil in Ägypten, mit dem sich allerdings kein anderer messen kann. Aber von allen anderen Flüssen ist der Borysthenes der reichstgesegnete. Das Vieh findet die schönsten, gesündesten Weideplätze an seinen Ufern, er hat bei weitem die besten und zahlreichsten Fische, hat das süßeste Wasser, ist klar, hat die besten Saaten an seinen Ufern, und wo keine Saatfelder sind, das höchste Gras.“
Im Frühmittelalter stand der Dnipro im Zentrum der Völkerwanderung, damit wurde er zum Schauplatz osteuropäischer Geschichte. Über ihn kamen die Waräger, Händler und Krieger aus Skandinavien, ins Land und gründeten mit der Rus – dem mittelalterlichen Vorläuferstaat der heutigen Ukraine, Russlands und Belarus' – das erste ostslawische Reich. Durch die berühmte Handelsstraße „von den Warägern zu den Griechen“ stellte der Fluss eine Verbindung zwischen den verschiedenen Regionen her und bildete bis ins 13. Jahrhundert eine Kontaktzone zwischen den slawischen, skandinavischen und byzantinischen Völkern.
Das politische Zentrum der Kyjiwer Rus – die Stadt Kyjiw – lag am mittleren Abschnitt des Dnipro. Der Fluss förderte die Entwicklung der Stadt, die im Mittelalter wirtschaftliches, kulturelles und politisches Zentrum der östlichen Slawen war. Diese Rolle wurde durch die Übernahme des christlichen Glaubens Ende des 10. Jahrhunderts noch gestärkt. Über die von Byzanz ausgehende Christianisierung berichtet der Gründungstext der Ostslawen – die mittelalterliche Erzählung von den vergangenen Jahren, die der Mönch Nestor aus dem Kyjiwer Höhlenkloster im Jahr 1113 verfasst haben muss. Bekannt wurde sie als Nestorchronik.
Ein einschneidendes Ereignis und die Grundlage für spätere Mythisierungen bildete die Taufe der Rus durch den Großfürsten Wolodymyr (auch: Wladimir I., um 956-1015) im Jahr 988 im Wasser des Dnipro. Der Fluss wurde damit zum ostslawischen Jordan: Er war fortan Tauffluss, Fluss der Religion und der Zivilisation. In der Imitation des biblischen Taufrituals wurde dem Dnipro eine sakrale Funktion zugeschrieben, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte durch das Diktum „Kyjiw – das zweite Jerusalem“ verfestigte. In diesem Kontext blieb die Ukraine das spirituelle Zentrum des ostslawischen Christentums. Der Wolga wie der Newa fehlte diese Sakralität.
Obwohl der Taufbericht historisch nur teilweise verifizierbar ist und Fachleute den eigentlichen Taufort in der Pochajna, einem Nebenfluss des Dnipro, verorten, sind seine kulturgeschichtlichen Konsequenzen beachtlich. Ausgehend von Kyjiw expandierte das orthodoxe Christentum und wurde zu einem wichtigen kulturellen Baustein nationaler Ideologien. So wird die Bekehrung zum Christentum bis heute als zentraler Mythos der Ukraine, aber auch als „das epochale historische Ereignis“ der russischen Nation gedeutet. Der Taufakt dient nicht nur als Ausgangspunkt einer tausendjährigen religiös-orthodoxen Tradition, sondern ist auch Legitimationsquelle des expansiven Politikkurses Russlands, da Kyjiw zur Wiege „der östlich-christlichen orthodoxen Zivilisation“ beziehungsweise zum geistigen Zentrum der „heiligen Rus“ stilisiert wird.
Der Fluss der Kosaken
Im 17. Jahrhundert entstand am Dnipro der erste ukrainische Kosakenstaat. Für die ukrainischen Kosaken, die am Dnipro hinter den Stromschnellen eine eigene Welt der Grenzwächter – die Saporoger Sitsch – schufen, hatte der Fluss eine existentielle und identitätsstiftende Bedeutung. Der Dnipro war ihr Siedlungs- und Aktionsraum. Die Kosaken ließen sich hier zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert nieder und blieben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Herrscher über die Steppe zwischen Polen-Litauen, dem Moskauer und dem Osmanischen Reich.
Der im 17. Jahrhundert gegründete Kosakenstaat wird von den Ukrainerinnen und Ukrainern als Ursprung ihrer politischen Kultur verstanden. So zeigen die Chroniken der Kosakenzeit (zum Beispiel Die Chronik von Samovydec) das Bemühen, eine Kontinuität mit der Kyjiwer Rus herzustellen und den Kosakenstaat als deren Fortführung zu positionieren.
Einen zentralen Aspekt des ukrainischen „Nation Buildings“ (engl.,
In Russland blieb das Kosakentum bis in die 1930er Jahre lebendig, etwa durch die Don-Kosaken. Es war aber nicht ausschlaggebend für die russische Staatsbildung, die auf Zentralstaatlichkeit ausgerichtet war. Im Gegenteil: Die russische Staatsmacht hat die Kosaken aus ihrer imperialen Perspektive als fremdes Element betrachtet und marginalisiert.
In der Ukraine, wo das Hetmanat hingegen eine zentrale nationale Komponente hatte und entsprechend einen Autonomieanspruch stellte, wurde es als soziale Institution bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Zarin Katharina II. (1729-1796) liquidiert. Die Dnipro-Kosaken behielten jedoch ihre symbolische Bedeutung. Mehr noch: Ihre Geschichte lebte in der ukrainischen Volkskultur der Frühen Neuzeit fort und wurde zur Grundlage einer „nationalen Meistererzählung“. Das Sammeln und Popularisieren der Folklore im 19. Jahrhundert – vor allem von Heldengesängen (Dumen) und Liedern in der ukrainischen Volkssprache – markiert wesentlich das „nationale Erwachen“ der Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Kosakenfolklore begründete in diesem Sinne die Nation mit.
Interessanterweise war das Kosakentum ursprünglich nur ein ostukrainisches Phänomen. Im 19. Jahrhundert erfuhr es jedoch mit der ukrainischen Nationalbewegung eine Verlagerung ins Zentrum und wurde zum gesamtnationalen Mythos. Durch den Prozess seiner Nationalisierung fiel dem Kosakenmythos eine Schlüsselrolle im ukrainischen Nation Building zu. Die Dnipro-Kosaken wurden als zentrale Träger einer frühneuzeitlichen ukrainischen Nation imaginiert, unbequeme Narrative (Söldnertum, Judenpogrome oder Gewaltkultur) dagegen ausgeblendet.
Die politische Elite der seit 1991 unabhängigen Ukraine hielt am positiv besetzten Kosakenmythos fest, was sich nicht zuletzt in der Nationalhymne niederschlägt: „Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit und wir bezeugen, Brüder, dass wir eine Kosaken-Nation sind“. Diese letzten Zeilen entstammen dem Gedicht „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“, das 1917 zur Staatshymne der kurzlebigen ukrainischen Volksrepublik wurde. Der Folklorist Pawlo Tschubynskyj schrieb es 1862, lange vor der staatlichen Eigenständigkeit der Ukraine.
Da den Dnipro-Kosaken im Nachhinein die Funktion des politischen (proto-)ukrainischen Volkes zugeschrieben wurde, gewinnt in diesem Kontext die Aneignung des Flussraums zunehmend eine identitätsstiftende Bedeutung für die Menschen in der Ukraine. Damit wurde auch die ursprüngliche sakrale Dimension des Flusses Teil der nationalen Konzeption.
Der Dichter und sein Fluss
Dass der Kosakenstaat bis heute als zentraler Mythos der ukrainischen Nation gilt, hat auch mit der ukrainischen Literatur zu tun. In der mündlich tradierten Folklore wurde der Dnipro als heroischer Fluss dargestellt, als Krieger-Fluss und Helfer-Fluss. Seine tiefe Verankerung in der Volkskultur wird in zahllosen Heldengesängen deutlich: „Sie kamen zum Dnipro-Slawuta tief gebeugt: / Sei gepriesen du, Herr, und bekomme unseren Dank!“
Nicht nur die Kosakenfolklore, sondern auch die Strophen des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861) sind ohne das Dnipro-Bild nicht denkbar. Der romantische Schriftsteller ist wohl der wichtigste Akteur der ukrainischen Nationenwerdung. Eine von dem unabhängigen Umfrageinstitut Sociological group „Rating“ im Oktober 2022 durchgeführte Umfrage kommt zu dem Ergebnis, dass Schewtschenko von 63,9 Prozent der Befragten als prominentester Ukrainer genannt wird. Präsident Wolodymyr Selenskyj steht mit 29,8 Prozent an zweiter Stelle.
Schewtschenkos Gedichte, die vielfach Kosakenmythen oder deren Mythisierung des Dnipro aufgreifen, sind insofern grundlegend für die ukrainische Erinnerungskultur, als dieser Dichter bis heute als die zentrale nationale Identifikationsfigur gilt, mit dem, so Jenny Alwart, „Staat gemacht“ wird.
Schewtschenkos Landschaftsbeschreibungen sind eng mit Gedenken an die Kosakenzeit verknüpft. Seine ukrainischsprachigen Gedichte machen den Dnipro vom Fluss der Kosaken zum Symbol der ukrainischen Nation. Der Fluss repräsentiert bei ihm den Topos Ukraine, den Ort des nationalen Weltbildes. Die ukrainische Landschaft setzt sich in seiner nationalen Aufladung aus Dnipro, Steppe und Grabhügel (Kurhan) zusammen. Er stilisiert den Dnipro beziehungsweise die Hügel über dem Dnipro als Ort seines zukünftigen Grabes, Ort des ewigen Lebens:
„Wenn ich sterbe, so begrabt mich
In der Ukraine.
Möge ein Kurgan der Steppe
Mir zum Grabe dienen.
Legt mich so, dass ich die Fluren
Und des Dnipros
Schnellen
Sehen kann und dass ich höre
Seine mächtgen Wellen.“
Diese als „ewig“ mythisierte Dichterautorität fließt mit dem im Kollektiv des „immer schon ewigen“ Dnipro zusammen.
Im Sinne der Romantik kreiert Schewtschenko einen Autorenmythos der Ukraine. Der ewige Dnipro ist darin als deren axis mundi für den Raumentwurf entscheidend. Schewtschenkos Remythisierung des Flusses als ein nationalstaatliches Symbol ist als Programm für den zukünftigen Staat zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist seine Lesart die eines nationale Identität stiftenden Zeichens historischer und politischer Entwicklung des ukrainischen Volkes.
Der Dnipro in der Moderne
Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich das Bild des Flusses verändert. Der Dnipro wurde ein wichtiger Faktor für die Industrialisierung der Region und damit immer neu ideologisch vereinnahmt – auch von den Sowjets, die ihn als die „Wiege des Imperiums“ glorifizierten und im Zuge des sozialistischen Umbaus „das größte Wasserkraftwerk der Welt“ am Dnipro errichteten. Die Natur, und damit auch der Dnipro, wurde bezwungen und umgestaltet. Zwischen 1927 und 1975 wurde an ihm eine Kaskade aus sechs künstlichen Stauseen angelegt – ein tragisches Beispiel für eine menschengemachte Beeinflussung der Natur. Spätestens mit der nuklearen Havarie von Tschernobyl, die sich 1986 am Prypjat, dem größten Nebenfluss des Dnipro, ereignete, fanden die sowjetischen Mythen ihr jähes Ende.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion spielte der Dnipro auch für die politische Landschaft der Ukraine eine wichtige Rolle: An ihm liegt die Hauptstadt der unabhängigen Ukraine: Kyjiw. Während der Orangen Revolution 2004 wie auch des Euromaidan 2014 wurde der Dnipro dort zum Schauplatz von Protesten, die Demokratie und Freiheit forderten. Bereits 2015, nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, vermutete der amerikanische Think-Tank Stratfor die Teilung der Ukraine entlang des Dnipro als mögliches russisches Kriegsziel.
Der Fluss wurde schließlich zum Symbol des Widerstands gegen russische Invasoren, die seit dem 24. Februar 2022 rechts und links des Dnipro in Richtung Kyjiw vordrangen und Raketen auf die am Fluss gelegenen Industriestädte abfeuerten. So trug der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zur ukrainischen Einheit über beide Ufer entscheidend bei.
Der Dnipro erscheint als Paradigma für die (Zeit-)Geschichte Osteuropas. In seinem unaufhörlichen Strömen lässt er sich als „liquid history“, als fließende Geschichte der Ostslawen lesen. Religiös, wirtschaftlich, kriegerisch, poetisch – all die Facetten des Flusses zeigen uns eine bis dato wenig bekannte europäische Flusswelt, die als Aktionsraum der Kosaken, Ort nationaler ukrainischer Mythen oder Projektionsfläche der Sowjets gelesen werden kann. Der Fluss zeigt uns den historischen Weg dieses kulturellen Raums und lässt uns so Gegenwärtiges tiefer verstehen.