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In Enez

Neşe Özgen

/ 8 Minuten zu lesen

Die türkische Grenzstadt Enez am Delta des Meriç war schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Tummelplatz für Flüchtlinge und Fluchthelfer aller Art. Noch heute lässt sich in Enez beobachten, wer und warum in die Türkei kommt und wer aus ihr flieht.

Stilles Grabmal am Ägäischen Meer bei Enez (© Panoramio)

Enez und Ainos

Enez, eine Provinzstadt am Flussdelta des Meriç, liegt nahezu im Meer. Die winzig kleine Stadt beherbergt 11.000 Einwohnerinnen und Einwohner – in der ländlichen Umgebung von Enez leben 7.000 Menschen, im Stadtinneren etwas mehr als 4.000. Um 6500 v. Chr. als Fischerstädtchen entstanden, lebt die Stadt heute von Reisanbau und Kleintierzucht. Aal als lokale Spezialität gibt es längst nicht mehr. Die Fischereibetriebe machten dicht. Die Bestände des Wolfsbarsches, ein in der Türkei beliebter Speisefisch, sind auf ein Minimum geschrumpft. Die delikaten Speisefische des Flussdeltas werden nicht mehr gefangen.

Nördlich der Stadt liegt das ausgedehnte Flussdelta des Meriç, auf der anderen Seite das Ägäische Meer mit seinen gelbgoldenen Stränden. Doch es scheint fast so, als ob Enez, auf griechisch Ainos, seine Beziehung zum Wasser mittlerweile abgestellt hätte. Sein einziger Bezugspunkt ist nun die Grenze. Aber warum?

Enez und die Geschichte einer Grenze

Der Evros/Meriç bei Enez (© Tanju Koray Ucar, Panoramio)

Die Geschichte der griechisch-türkischen Grenze beginnt in Enez zwischen 1938 und 1950. Während des Zweiten Weltkriegs nutzte der türkische Geheimdienst MIT den Fluss Meriç, um türkischstämmige Familien von “drüben”, also von Griechenland ins Land zu holen. Der türkischen Minderheit in Griechenland wurde ein Dach über dem Kopf vesprochen, ein satter Bauch und Arbeit. Einen Teil der Übersiedler überzeugte der türkische Geheimdienst auch, in der Sowjetunion als Spion zu arbeiten.

Dennoch war von einer harten Grenze noch keine Rede. Bis in die 1970er Jahre hinein war die militärische Überwachung an der Grenze eher lose. Ein Grenzbeamter schilderte die Lage so: "Es gab weder einen ordentlichen Grenzzaun noch eine regelmäßige Grenzpatrouille. Bis zur militärischen Aktion auf Nordzypern gab es diese gar nicht. 1972, eigentlich noch viel später, nach der Eroberung von Nordzypern, standen hier an der Grenze auf einmal Grenzposten. Während der Zypernkrise haben wir die Bewachung der Grenze übernommen, aber wir können ja nicht lügen, es gab von der griechischen Seite keinerlei Provokationen. Wir teilten unseren Raki, unsere Speisen und unseren Fisch mit unseren Nachbarn von drüben. Bis die Gendarmerie hierher versetzt wurde und die Grenze sicherte. Und die Grenze von der ansässigen Bevölkerung bereinigte."

Ab 1972, zwei Jahre vor der türkischen Besetzung Nordzyperns, wurde Enez zum “Grenzsicherheitsgebiet” und somit zu einem Ort, der am äußersten Rand der Türkei den meisten Bürgerinnen und Bürgern keinen Durchgang mehr gewährte. Das gesamte Städtchen wurde wegen dieses Grenzsicherheitstatus' zu einem Niemandsland, in dem es Einwohnern wie Fremden verboten war, Land zu erwerben. Sogar kultuelle Aktivitäten wie Konzerte mussten von den Grenzschützern genehmigt werden.

Enez, von drei Seiten vom Wasser umgeben, wurde von der politischen Großwetterlage in eine Art Falle getrieben. Von den Bewohnern wollte ich wissen, wie es dazu kam. “Weil wir hier an der Grenze sind. So ist das eben an der Grenze”, hat man mir geantwortet. Und als ich erzählte, dass es solch einen Status in anderen türkischen Grenzstädten entlang des Flusses wie Hopa, Nusaybin oder Meriç nicht gibt, wurde ich angeschaut, als ob man dies zum ersten Mal hört.

1980, nachdem das Militär putschte und die Grenze noch härter abgeriegelt wurde, begann die umgekehrte Migration. Die Linken, die vor dem Regime nach Griechenland und noch weiter in die europäischen Länder flüchteten, “entflohen in die Demokratie”, wie sie es nannten.

In den 1990er Jahren, im “Krieg ohne Namen” zwischen der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK) und den türkischen Sicherheitskräften, wurden Enez und der Meriç zu einer viel genutzten Zwischenstation für die kurdischen Flüchtenden. Aus den südöstlichen Gebieten der Türkei vertrieben, verhalfen ihnen die Mitglieder der linken Bewegung, die nun in Griechenland lebten, zur Flucht. Für Menschen, deren Zahlen sich in kurzer Zeit um Tausende vervielfachte, waren Enez und der Fluss die Hauptroute auf ihrer Reise.

Während die Schatten nachts länger wurden

Enez trägt heute die Stille einer Kleinstadt. An der Küste der Bucht von Saroz leben in den Sommermonaten nur noch einige hundert Familien. Ansonsten hat Enez kaum touristische Ambitionen, auch wenn es historisch und wegen der Wassernähe allen Grund dazu hätte.

Stattdessen flaniert der Besucher oder die Besucherin morgens unter dem kühlenden Schatten der Linden entlang bis zum Park, wo Tee und frischer Simit warten. In einer der beiden örtlichen Apotheken ist bestimmt jemand für einen kleinen Plausch zu haben, und abends ist es Zeit, mit Freunden in das beliebte Lokal von Turhan, dem Bären, einkehren.

Die Hauptstrasse aus Keşan endet an den Reisfeldern am Ufer des Meriç. Am Hauptbahnhof warten die zwei Mal täglich verkehrenden Busse zusammen mit einigen Sammeltaxen und summenden Fliegen auf Gäste. Die aber verirren sich kaum noch hierher. Auf den letzten asphaltierten Spuren der historischen Via Egnatia, vorbei an den stillen Resten der antiken Kirche von Ainos und den Ruinen in den Reisfeldern, die ehemals als Depots und Aalfischereien genutzt wurden, gelangt man über das Meriç-Delta zu den Sümpfen, der historischen Brücke und dem Posten der Grenzgendarmerie. 50 Meter weiter beginnt Griechenland. Geht man von hier zum Meer, vorausgesetzt man wird nicht von den Soldaten gestoppt, sieht man den historischen Hafen mit einer 7.000-jährigen Geschichte und schließlich die Insel Samothraki, auf türkisch Semadirek.

Enez 2009 (© Mehmet Ercan, Panoramio)

Alles an diesem Ort scheint wie geschaffen zu sein für einen idealen Aufenthalt im Ruhestand. Bis Sie mit ihren Freunden, die nicht die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, hier ihren Urlaub verbringen. Bis zu dem Punkt, wo der Gendarm Sie auffordert, sofort diesen Ort zu verlassen. Ab diesem Moment wird es Ihnen hier zu eng. Bis zum Abend, an dem die anderen kommen. Nicht die Urlauber, sondern die Flüchtlinge und die Schlepper.

In der Dämmerung, wenn die Schatten länger werden, das Tuscheln unter den Bäumen anhebt, wenn die Brote aus den Öfen getragen und die Einwohner sich in die Häuser oder in ihre Geschäfte zurückziehen, wird deutlich, dass dieser Ort für die einen eine verbotene, für andere dagegen nur eine Transitzone ist.

Vom Meer des Friedens zum Meer des Todes

Als ich in Enez 2010 meine Studien über Flüchtlinge durchführte, hatten nach den offiziellen Angaben der Grenzpolizei im Jahr zuvor 839 Menschen versucht, über die Stadt nach Griechenland zu fliehen. Weitere 1.200 kamen über Edirne an den Meriç. Schon 2010 waren es deutlich mehr. EU-Angaben zufolge betrug die Zahl der Menschen, die 2010 nach Griechenland flüchteten, 45.000. Nach einem Rückgang in den vergangenen Jahren steigen sie inzwischen wieder an. Laut einem Bericht von Spiegelonline sind allein im April 2018 3.000 Menschen, die über den Fluss flohen, von der griechischen Polizei aufgegriffen worden.

Im Juli und August 2010 führte ich Gespräche mit vier Menschenschmugglern. Mit zweien von ihnen sprach ich über die Grenze von Enez. Alle vier erzählten von drei grundlegenden Techniken, mit denen die illegalen Grenzüberschreitungen duchgeführt werden. Sie nennen sie die “Taschenmethode, die “Schüttelmethode” und die “Trittmethode”.

Die “Taschenmethode” verspricht den Migranten, sie wie “Vögel fliegen zu lassen”, beziehungsweise, sie bis an die Haustür zu liefern”, sagt C. Er war damals 45 Jahre alt und arbeitete als Schlepper. 2010 wurde er an der Grenze zu Bulgarien verhaftet und musste dort eine Haftstrafe verbüßen. Für den illegalen Übertritt in die EU-Länder werden die Migranten mit gefälschten Pässen ausgestattet. Sie bekommen also eine andere Idetität, die es ihnen erlaubt, als politisch Verfolgte aufgenommen zu werden. Mit dieser Technik können die Migranten hoffen, im Aufnahmeland eine halblegale Daseinsberechtigung zu erhalten. Doch die “Taschenmethode” ist teuer, sie füllt vor allem die Taschen der Schlepper.

Die zweite Methode, die “Schleudertechnik”, ist für jeden Flüchtenden der Beginn des Migrantendaseins, so erzählen es die Schlepper. Die Menschenschmuggler sagen ihnen, dass nun die zweite Phase für die Flüchtenden anbreche: Die Schleuser schaffen sie aus dem Land, bringen sie in die Transitländer, sorgen für Übernachtungen und bereiten sich darauf vor, sie an irgendeiner einer Stelle zu verpfeifen. In dieser Phase wird der Fluchtweg länger und länger – und für die Schlepper immer einträglicher. Die Fluchthelfer finden stets einen Weg, um sie “deportieren zu lassen”, wie sie es nennen. Oder sie verstehen es, sie mit einer Anzeige bei der Polizei im Transitland in große Schwierigkeiten zu bringen. Und jedes Mal werden sie gezwungen, ihnen mehr und noch mehr Geld zu geben. Während meiner Recherchen habe ich mit Flüchtenden gesprochen, die den gleichen Weg fünf, sechs sieben Mal auf sich nahmen.

Die Fluchthelfer wissen ganz genau, wer wann zu welchem Zeitpunkt kein Geld mehr übrig hat. Sie wissen auch, wer bereits in der Verfassung ist, nichts mehr verkaufen zu können – dies schließt Familienmitglieder ein. Dan tritt nämlich die dritte Phase in Kraft, der “Tritt”.

Bei der “Trittmethode” nehmen ihnen die Menschenschmuggler vor der Flucht weniger Geld ab als den anderen Flüchtenden. Sie bringen sie an die Grenze und zeigen auf einen Punkt: ”Schau, dort drüben ist es schon. Du kannst schwimmen oder mit dem Boot übersetzen.” Die Leichen, die man jeden Morgen aus dem Meriç fischt und die zu Tausenden an den ägäischen Ufern aufschlagen, sind das Abbild derjenigen, die von dieser Methode Gebrauch machten. Sie sind die mit den billigsten Seelen.

Enez und die “Taschenmethode

In Enez wären sie auf die “Taschenmethode” spezialisiert. Bei der “Tasche” werden die Absprachen vor Ort getroffen. Die Schleuser berichten, dass die Verhandlungen schon lange zuvor mit der Mafia aus Istanbul oder Trabzon geführt wurden. “Wenn Sie ein bekannter oder einflußreicher Mensch sind, wenn sie also Bedeutung ausstrahlen, dann wird alles in ihrem Namen gedeichselt. Wir stellen keine Fragen. Mal ist es ein großer Patron, mal ein VIP. Auch wenn wir wissen, wen wir da vor uns haben, ist unsere Arbeit eben nur Arbeit.” So sagte es C. in dem Gespräch, das ich mit ihm 2010 in Edirne geführt habe.

Und weiter: “In Enez bietet man diesen Service etwas teurer an als an anderen Orten. Denn ihre Reiseroute ist wirklich luxuriös.” Ein anderer Gesprächspartner berichtet von Überfahrten nach Griechenland mit dem Speedboot. Dabei sind es offenbar nicht nur Flüchtlinge, die fliehen. “Wann immer eine Bombe hochging oder ein Attentat verübt wurde, haben wir den Tatverdächigen dann ein zwei Tage später auf den Speedbooten gesehen.” Er zählt anschließend die Namen wichtiger Personen auf, die die Türkei auf illegalem Weg verließen.

Dann erzählten die Fluchthelfer, dass die “Schleudermethode” hier kaum verbreitet sei, da sie für die Schlepper viel zu hohe Kosten verursache. Der Gewässerschutz sei hier agressiver, zudem seien die Fischer weitaus wachsamer.

An beiden Ufern des Wassers stehen

Enez von Süden (© Tanju Koray Ucar, Panoramio)

In vielen mythologischen Erzählungen taucht eine Geschichte von zwei Liebenden auf, die sich an den beiden Ufern eines Gewässers am Schluss vereinen. Vom Mädchenturm in Üsküdar bis nach Thrakien, zu den beiden Ufern des Aras und Euphrat erzählen Volkslieder von der Sehnsucht nach dem Geliebten am anderen Ufer und der vereinigenden Begegnung. Enez dagegen ist ein stiller Zeuge dessen, dass die beiden Ufer sich niemals vereinen werden. Es erzählt aber auch die Geschichte, dass diejenigen, die ausreichend Geld haben, hinübersetzen können.

Enez zeigt zudem, dass natürliche, geografische Grenzen, an denen einst die Grenzen der Nationalstaaten gezogen wurden, nun Orte der Bestechung geworden sind und der politischen Heuchelei. Enez erkennt das Wasser als Teil seines Seins nicht an. Es weiß, dass es nun denen gehört, die sich einen Vorteil aus dem Leid verschaffen und von denen benutzt wird, denen ein Menschenleben nichts zählt.

Vermutlich ist das ein Grund, dass die anmutigen Aale verstimmt sind. Sie bleiben den hiesigen Gewässern fern.

Dieser Text wude vor dem EU-Türkei-Abkommen geschrieben

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Neşe Özgen, 1960 in Ankara geboren, ist Professorin der Soziologie an der Mimar Sinan Akademie der Schönen Künste in Istanbul