Eine Stadt aus einem Guss
"Lass uns am Kloster treffen", hatte Julia vorgeschlagen, "das ist der Ursprung von Jaroslawl, hier fließt der Kotorosl in die Wolga. Dort ist der Gründungsort der ältesten Wolgastadt Russlands."
Julia Krivtsova, Mitte dreißig, ist Kuratorin und Künstlerin, mit ihrem Mann Sergej Kremnev, einem Architekten, hat sie in Jaroslavl "Lift" gegründet, eine "regionale Agentur für kreative Initiativen". Darüber hinaus engagieren sich die beiden für den Erhalt der alten Textilfabrik "Roter Peregop", deren Ursprünge auf Peter den Großen zurückgehen. "Wir wollen die Stadtgeschichte bewahren und das kulturelle Erbe schützen", hatte Julia gesagt. "Unser Ziel ist es, die Menschen stärker an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen."
Für Julia Krivtsova ist das auch ein Dienst an der Stadt, in der sie geboren wurde. "Warum sollen alle, die engagiert sind, immer nur nach Moskau ziehen?", fragt sie. In der Provinz ist es auch spannend, und außerdem haben wir hier die Wolga."
Ich bin am Vorabend in Jaroslawl angekommen. Vor der Gründung von Sankt Petersburg Anfang des 18. Jahrhunderts war Jaroslawl nach Moskau die zweitgrößte Stadt des russischen Zarenreiches. Heute zählt sie 600.000 Einwohner und gehört zum Welterbe der Unesco. Im Gegensatz zum vier Zugstunden entfernten Moskau hat die Großstadt an der Wolga ihr menschliches Maß bewahrt. Die Fahrt vom Bahnhof ins Zentrum säumen vierstöckige Bauten, viele von ihnen aus der Stalinzeit, aber ohne den pompösen Zierat, wie er sich in der Hauptstadt findet. Einzig das Stadion sieht nach einer Bauruine aus. Als die Russische Föderation den Zuschlag für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 erhalten hatte, wurde die Sanierung des alten Shinnik-Stadions gestoppt. Eine neue WM-Arena sollte auf der grünen Wiese errichtet werden. Dann aber wurde Jaroslawl plötzlich von der Liste der Austragungsorte gestrichen. Jaroslawls Fußballclub spielt heute in einer halb sanierten, halb ruinösen Arena.
Je weiter der Bus ins Zentrum ruckelt, desto niedriger wird die Bebauung. Zwischen dem Wolkow-Platz, benannt nach dem ersten Theater Russlands aus dem Jahre 1911, und dem Wolgaufer erstreckt sich das historische Jaroslawl auf dem Stadtgrundriss des 18. Jahrhunderts. Seinen Mittelpunkt bildet die Prophet-Elija-Kirche auf dem sechseckigen heutigen Sowjetplatz, von dem sich die Straßen sternförmig zum Ring ausbreiten. Gesäumt werden die breiten Straßen und Alleen von Bürgerhäusern und Palästen im Stil des Klassizismus. Nach einem verheerenden Stadtbrand hatte Katharina die Große 1778 mit einem Generalbebauungsplan den Startschuss für den Wiederaufbau Jaroslawls als klassizistische Planstadt gegeben.
Bereits zuvor hatte die Zarin, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die Wolga auf einem Schiff bereist. 2000 Personen hatten Katharina auf der sechswöchigen Reise von Anfang Mai bis Mitte Juni 1767 begleitet, eine Entourage, die die Wolga bis dahin nicht gesehen hatte. Jaroslawl mit seinen Klöstern und Kirchen galt schon damals das größte Augenmerk der russischen Regentin. Vier Tage verbrachte sie in der Wolgastadt – so viel wie an keinem anderen Etappenziel. In diesen Tagen muss wohl der Plan in ihr gereift sein, aus dieser Stadt etwas ganz Großes zu machen. Nicht nur die Wolgadeutschen, so lautet heute das Urteil der Geschichte, hat die Zarin an Europas längsten Strom geholt, sondern auch die europäische Baukunst.
Mit dem Haus stromabwärts
Auch Julias Familie ist mit der Wolga verbunden. Das erzählt sie mir, als sie mich mit dem Auto am Kloster aufgesammelt hat und wir über die einzige Brücke weit und breit zum linken Wolgaufer fahren. "Mein Vater stammt aus Wolgograd", sagt sie, "meine Mutter ist hier in Jaroslawl geboren. Die Wolga hat meine Eltern von Anfang an miteinander verbunden."
"Alles an der Wolga", schrieb schon 1907 Wassilij Rosanov, der literarische Wegbereiter der russischen Moderne, "scheint sich nicht zu bewegen; es eilt nicht, es atmet nur, einen gleichmäßigen, guten, jahrhundertealten Atem." Das trifft nicht nur auf Jaroslawl und seine Kirchen, Klöster und Paläste zu, sondern auch auf Julia Krivtsova. "Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aus dieser Stadt wegzugehen", sagt sie, als wir am linken Wolga-Ufer an einer Stelle halten, an der man einen wunderbaren Blick auf das gegenüberliegende Jaroslawl hat. "Viele Jüngere zieht es nach Moskau und ins Ausland. Ich freue mich dagegen, wenn die Moskauer und Leute aus dem Ausland nach Jaroslawl an die Wolga kommen."
Vielleicht hat Julia Krivtsova diese Verbundenheit mit dem Fluss von ihrer Familie geerbt. "Mein Großvater kam als 15-Jähriger nach Jaroslawl", erzählt sie die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits. "Er stammt aus einer kleinen Wolgastadt, die nach einem verheerenden Hochwasser nicht wieder aufgebaut wurde. Das Haus meiner Urgroßeltern war aber heil geblieben. Also haben sie es zerlegt, die Einzelteile nummeriert, und auf ein Schiff geladen. Zusammen mit ihrem Haus sind mein Großvater und seine Eltern wolgaabwärts gefahren, bis sie in Jaroslawl ankamen. Da haben sie dann ihr Haus wieder aufgebaut."
Eine traurige Geschichte, meint Julia, aber die anderen Familien aus der zerstörten Wolgastadt hätten ein noch schlimmeres Schicksal erfahren: "Viele von ihnen wollten ihre Heimat nicht verlassen und sind geblieben. Weil in ihrer Heimat nichts mehr investiert wurde, gab es immer weniger zu essen. Die meisten von ihnen sind früh gestorben."
Handel auf dem Fluss
Achthundert Meter breit ist die Wolga in Jaroslawl. Der Blick vom linken Ufer auf die Stadt ist tatsächlich großartig. Wir sehen die Zwiebeltürme der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, den Wolgaturm aus der Mitte des 17. Jahrhunderts und die Mündung des Kotorosl in die Wolga.
Dort soll der Legende nach die Geschichte der Stadt begonnen haben. Im Jahr 1010 sollen die Bewohner einer heidnischen Siedlung einen Bären auf den Fürsten Jaroslawl den Weisen gehetzt haben. Der Kiewer Fürst war an die Wolga gekommen, um sein Reich zu inspizieren. Kurzerhand erlegte der Fürst den Bären, der zum Wappentier der Stadt wurde, die an dieser Stelle entstand, natürlich benannt nach dem Namen des Fürsten. Soweit die Legende.
Den Rest besorgte die Wolga. Der mächtige Strom war nicht nur, wie
Als sich mit dem 18. Jahrhundert und der Verlagerung der Hauptstadt von Moskau nach Sankt Petersburg Russlands Mitte Richtung Westen bewegte, wurde aus dem Handelsstrom mehr und mehr auch ein imperialer Strom, eine Achse der zaristischen Machtentfaltung. So erinnert Hausmann daran, dass Katharina als Nachfolgerin Peters des Großen als die "Herrscherin über die Meere" geehrt wurde, weil sie mit dem Kanal am Ladoga-See auch eine Verbindung zwischen Petersburg und der oberen Wolga geschaffen hatte. Nun konnten die Schiffe von der neuen Hauptstadt bis ans Kaspische Meer fahren.
In diesem Zusammenhang, meint Hausmann, stand auch ihre Wolgafahrt mit dem viertägigen Abstecher nach Jaroslawl. "Die Fahrtrichtung, die sie dabei nahm, also von der Residenz über die obere zur mittleren Wolga, symbolisierte auch die Dimension ihres Herrschaftsverständnisses, die vom Zentrum in die Region verlief."
So wurden aus den Regionen bald die Provinzen und später dann "die russische Provinz". Die entgegengesetzte Richtung, nämlich wolgaaufwärts, so Hausmann, habe der Handel genommen, denn die Provinz musste die Hauptstadt versorgen. Beide Male lag Jaroslawl, dessen Ausbau Katharina vorangetrieben hatte, im Zentrum des Geschehens.
Verfallene Industriegeschichte
"Heute liegt es eher am Rand", sagt Julia Krivtsova als sie mich durch das ehemalige Industrieviertel von Jaroslawl am südlichen Ufer des Kotorosl führt. Das Herzstück des Stadtteils, der nach dem Fluss Kotorosl benannt ist, ist der Peter-und-Paul-Park. "Im Jahre 1723 wurde hier ein holländischer Garten angelegt", erklärt Julia und führt mich, vorbei an der barocken, hölzernen Peter-und-Paul-Kirche, auf das ehemalige Parkgelände. Peter der Große hat zwar die Hauptstadt an die Newa verlegt, aber die Wolga nicht aus dem Blick verloren. "Deshalb hat er einen niederländischen Kaufmann beauftragt, in Jaroslawl am Kotorosl eine Textilmanufaktur zu errichten", erzählt Julia.
Johan Tames hieß der Kaufmann oder, wie er sich russisch nannte, Iwan. Er gründete nicht nur die erste Textilfabrik im russischen Zarenreich, von der heute nur noch eine Ruine steht, sondern auch den barocken Park, der sie umgab. Auf der Ruine steht eine Hinweistafel "Betreten verboten". "Immer wieder heißt es, dass dieses Industriedenkmal saniert werden soll", sagt Julia. "Doch bisher hat sich nichts getan. Leider steht dieser Teil des historischen Jaroslawl nicht unter dem Schutz der Unesco." Dennoch haben Julia und ihr Mann einen ersten Erfolg erreicht. "Erst vor kurzem wollte ein Investor hier ein Wellness-Hotel bauen. Davon hat er nach unseren Protesten wieder Abstand genommen."
Neue Arbeit in alten Mauern
Langläufer auf der neuen Wolgapromenade in Jaroslawl. (© Inka Schwand)
Langläufer auf der neuen Wolgapromenade in Jaroslawl. (© Inka Schwand)
Sergej Kremnev, Julias Mann, hat sich eine dicke Jacke übergezogen. Es ist kalt geworden an der Wolga, in der Nacht ist das Thermometer auf fast minus zwanzig Grad gefallen. Auf dem Hof vor dem Architektenbüro von Kremnev liegt Schnee. "Das war hier ein Nebentrakt der großen Fabrik", sagt er und erinnert daran, dass die Tradition der Textilproduktion in Jaroslawl auch im 19. Jahrhundert und in der Sowjetunion fortgesetzt wurde. "Die Fabrik Roter Perekop war zu Sowjetzeiten der größte Produzent von Handschuhen für den Wirtschaftsraum des RGW", so Kremnev. Bis heute produziert die Fabrik, an ihrem imposanten Turm hängt ein Plakat, das Lenin und die Oktoberrevolution würdigt."
Aus Jaroslawl, der Stadt am "orthodoxen Jordan", war in der Sowjetunion die Stadt der Industrie geworden. Ein sowjetischer Reiseführer aus den siebziger Jahren berichtete enthusiastisch:
"Jaroslawl kann auf ruhmreiche Traditionen seiner industriellen Entwicklung verweisen. Eben in dieser Stadt wurde 1925 der erste sowjetische Schwerlaster montiert. Später stellte man in Jaroslawl sowohl den ersten sowjetischen Großraumkipper her als auch den ersten O-Bus und den ersten Dieselmotor. Erstmals in der ganzen Welt fertigte man ebenfalls in Jaroslawl Autoreifen aus synthetischem Kautschuk an. Alle zehn "Planjahrfünfte" gehörte die Stadt zu den Siegern des landesweiten sozialistischen Wettbewerbs."
Heute stehen jedoch die meisten Fabriken leer, auch auf dem Gelände des Roten Perekop gibt es jede Menge Leerstand. "Über 10.000 Menschen haben hier gearbeitet, heute sind es noch 500", sagt Kremnev. "Die Stadt hat kein richtiges Konzept, wie sie mit dem Gelände umgehen soll. Also werden Flächen wahllos vermietet." Kremnev dagegen glaubt, dass die Fabrik nur eine Zukunft hat, wenn sie zu einem neuen Zentrum des sozialen Lebens im Jaroslawler Stadtteil Kotorosl wird. Ganz abwegig ist das nicht. Denn anders als viele Städte an der Wolga entwickelt sich Jaroslawl zu einer dynamischen Stadt. Schon mehrmals lag es in den Rankings unter den ersten zehn der wirtschaftsstärksten Städte Russlands.
Zusammen mit anderen Aktivisten hat Kremnev die Initiative "Textil" gegründet. Als Jaroslawl im Jahre 2010 sein 1000-jähriges Jubiläum feierte, hat sich auch "Textil" am Stadtjubiläum beteiligt. "Wir haben drei Touren durch die Geschichte der Stadt entwickelt", sagt Sergej. "Dafür gab es auch Geld von der Stadt und von der Regionalregierung. Wir versuchen immer wieder, uns mit den lokalen Behörden an einen Tisch zu setzen. Vieles wird hier immer noch von oben nach unten durchgestellt. Wir glauben aber, dass Partizipation und Kommunikation die richtigen Mittel sind, um die Entscheidungsprozesse transparenter zu machen und die Leute zu beteiligen."
Also hat die Initiative "Textil" Workshops organisiert, lädt zu Stadtteilfesten ein, fragt die Anwohner nach ihren Bedürfnissen für eine familiengerechte Quartiersentwicklung. "Wenn wir wissen, was der Stadtteil Kotorosl braucht, ist das ein wichtiger Schritt zur Entwicklung derjenigen Fabrikteile, die leer stehen", ist Sergej überzeugt. "Und es ist ein Beitrag dazu, dass die Menschen beginnen, sich mit ihrem Stadtteil zu identifizieren."
Dazu gehört auch die Geschichte des Industriestandorts. "Wo unser Büro steht, war früher einmal ein Baumwolllager", sagte Sergej. "Unter dem Asphalt findest du noch die Schienen, die das Lager mit den Produktionshallen verbanden. Die Baumwolle wurde mit dem Schiff angeliefert, erst über die Wolga, dann hinauf in den Kotorosl."
Welterbe an der Wolga
Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von der Wolga und von Jaroslawl. Am frühen Morgen ist die Wolgapromenade noch menschenleer. Zum Stadtjubiläum wurde die Promenade hergerichtet. Sie kann sich tatsächlich sehen lassen mit ihrem Uferweg unterhalb des Steilufers, dem restaurierten Wolgapavillon, den Treppenanlagen hoch in die Altstadt. Am Nachmittag zuvor war hier trotz der Kälte zu sehen, dass die Jaroslawler ihr Ufer angenommen haben. Jogger waren unterwegs, Sportler mit Langkaufskiern, Mütter mit ihren Kinderwägen, Senioren auf einem kleinen Spaziergang.
Aber das Stadtjubiläum hat auch Spuren hinterlassen. Russlands Präsident Putin persönlich hat grünes Licht gegeben für eine monumentale Feier und für den Bau zweier Prestigeprojekte. Bei dem einen handelte es sich um eine moderne Veranstaltungshalle am Ufer des Kotorosl mitten in der Kulisse des Unesco-Welterbes. Beim anderen um ein umstrittenes Wiederaufbauprojekt: Die 1937 abgerissene Mariä-Entschlafens-Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert sollte aufs Neue errichtet werden – und zwar um einiges größer als das Original. Es ist jene Kirche mit ihren fünf goldenen Zwiebeltürmen, die vom anderen Wolgaufer die Silhouette der Stadt dominiert.
Eisangler auf der zugefrorenen Wolga bei Jaroslawl. (© Inka Schwand)
Eisangler auf der zugefrorenen Wolga bei Jaroslawl. (© Inka Schwand)
Das Vorhaben rief das Unesco Welterbe-Komitee auf den Plan. Allerdings ohne Erfolg. Die Kirche wurde gebaut, freilich ohne den ebenfalls zerstörten Glockenturm. Auf seiner Sitzung 2012 in Sankt Petersburg hatte das Welterbe-Büro deutlich gemacht, dass Jaroslawl auf die Rote Liste der gefährdeten Welterbestätten gesetzt werde, falls der Turm und ein geplantes Hotel am Wolgaufer errichtet würden. Statt des Hotels wurde später eine schwimmende, angeblich temporäre, Hotelanlage gebaut.
Auch in der Altstadt gibt es immer wieder Bauvorhaben, die in das Unesco-Ensemble eingreifen. "Zum 1000-jährigen Jubiläum wollten wir auf die Gefahren hinweisen, die dadurch dem Welterbe drohen", sagte Julia zum Abschied. "Mit den Studenten der Universität haben wir eine Menschenkette um das Gebiet herum geplant, das durch die Unesco geschützt wird. Wir wollten so den Bürgern in Erinnerung rufen, wie groß die Fläche ist, die für die Welt ein historisches und kulturelles Erbe darstellt."
Die Menschenkette kam nicht zustande, weil die Polizei einschritt. Illegale Demonstrationen werden in Russland nicht gerne gesehen, und auch eine Menschenkette kann schnell zu einer illegalen Demonstration werden. "Dennoch gibt es bei unserer täglichen Arbeit keine Probleme", sagt Julia. "Inzwischen gibt es ähnliche NGOs wie unsere sogar in anderen Wolgastädten."