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Zurück an der Wolga

Alexander Reiser

/ 10 Minuten zu lesen

Der Autor Alexander Reiser wurde in Sibirien geboren. Studiert hat er in Wladiwostok, doch seine Familie stammt von der Wolga. Seine Großmutter hat ihm immer wieder von diesem Fluss erzählt. 2011 unternahm er eine Reise in die Dörfer der Wolgadeutschen. Von dem, was die Deutschen bis zu ihrer Deportation durch Stalin dort hervorgebracht haben, ist seiner Aussage nach nicht mehr viel zu sehen.

Die Wolga in Saratow (© Alexander Reiser)

Paradies auf Erden

Schon seit meiner Kindheit wollte ich diese Reise unternehmen. Zu diesem Fluss, von dem mir mit tiefster Sehnsucht von meiner Großmutter Magdalena Reiser so viel erzählt wurde:

"Dort, an der Wolga, da hatten wir gleich hinter dem Haus einen Acker mit Zuckermelonen. Die waren viel besser als die Wassermelonen, die dort auch wuchsen. Wenn du die aufgeschnitten hast, Gott, haben die geschmeckt. Und in unserem Obstgarten wuchsen noch Pflaumen, Birnen, Äpfel."

Sie erzählte mir das an den langen Winterabenden in Sibirien, in unserem manchmal bis zum Dach eingeschneiten Häuschen. Draußen, hinter den zugefrorenen doppelten Fensterscheiben, heulte bei minus 40 Grad einer der unzähligen Schneestürme. Es war ein Ort, wo außer Kartoffeln und Rüben nichts wuchs, und außer Sauerkraut und eingelegten Gurken monatelang kein Obst oder Gemüse auf den Tisch kam. Wo es Wassermelonen oder Pflaumen aus dem Süden nur im Herbst im Dorfladen zu bewundern gab. Und so hörten sich die Erzählungen meiner Großmutter von ihrer Heimat an der Wolga an diesen Abenden wie Berichte vom Paradies auf Erden an.

Ich wollte mir die Wolga schon immer ansehen. Aber nach dem Erwachsenwerden verschlug es mich zunächst in die entgegengesetzte Richtung. Ich ging in den fernen Osten, wo ich zunächst meinen Wehrdienst ableistete, danach als Fischer zur hohen See fuhr, schließlich als Journalist in der Pazifikstadt Wladiwostok landete. Dort arbeitete ich bis zu meiner Auswanderung nach Deutschland im Jahr 1996. In Berlin angekommen, hatte ich erst einmal andere Sorgen. Statt an die Wolga zu fahren, musste ich meinen Platz in der neuen Umgebung finden, wollte Europa und die Welt bereisen.

Reise nach Saratow

Als mir im August 2011 vorgeschlagen wurde, als Mitglied der offiziellen Delegation der Deutschen aus Russland an den Gedenkveranstaltungen anlässlich des 70-jährigen Jahrestages der Deportation der Wolgadeutschen teilzunehmen, sagte ich sofort zu. Endlich war sie da, die Gelegenheit, die langersehnte Reise zu unternehmen. Endlich konnte ich mich auf die Suche nach meinen Wurzeln machen und nach einer Welt, von der ich so viel gehört und gelesen habe, die mir im Herzen auch so nah war, weil die, die ich am meisten liebte und liebe, meine Großeltern und Eltern, all meine Vorfahren, von dort kamen.

Doch dann erlitt ich einen Kulturschock. Obwohl ich 15 Jahre lang nicht in Russland gewesen war, schien es mir, als ob sich nicht viel geändert hatte. Nach Saratow flogen wir mit einer alten Jak 42 aus Sowjetzeiten, die bestimmt schon so manches Jahrzehnt auf dem Buckel hatte. Irgendetwas quietschte und klapperte den ganzen Flug über, die Turbinen heulten mal auf, mal wurden sie leiser, besorgt rannte die Crew durch die Gänge. Sie hatten Taschen bei sich, in denen sich Werkzeug vermuten ließ, so, als hätten sie dringend noch etwas während des Fluges zu reparieren oder irgendwelche Teile auszutauschen. Das beunruhigte uns während des gesamten Fluges, so dass wir heilfroh waren, nach zwei Stunden wieder Boden unter den Füßen zu haben.

Das Flughafengebäude war klein und marode. Auch das Gebäude der Gebietsverwaltung, das wir aus dem Fenster des Busses sehen konnten, hatte, wie auch die alten Häuser und Villen, seine besten Zeiten hinter sich. Überhaupt hatten wir an den ersten Tagen den Eindruck, dass die Zeit hier stehen geblieben sei. Während man in Moskau in den Alltag eines dynamischen, westlichen Lebens tauchen kann, erhebt sich auf dem zentralen Platz von Saratow immer noch ein meterhoher Lenin, und daneben rühmt ein Wandgemälde die Helden der Revolution. Nur die Wolga, dieser mächtige Fluss, den wir vom Balkon unseres Hotels an der Uferpromenade beobachten konnten, war zeitlos. Er beeindruckte uns mit seiner majestätischen Schönheit und einer unglaublichen Kraft. Nicht umsonst waren unsere Großeltern und Vorfahren so fasziniert von ihm, schwärmten von seiner Größe und sprachen von ihm in Superlativen.

Stalin lebt

Auch in den Köpfen der Menschen schien sich nicht viel geändert zu haben. Das konnten wir am nächsten Tag bei den Eröffnungsvorträgen der wissenschaftlich-historischen Konferenz "70-jähriges Jubiläum des Beginns des Großen Vaterländischen Krieges und die Deportation der Russlanddeutschen" an der Saratower Staatlichen Universität beobachten. Von den Professoren der Universität wurde Josef Stalin mal als "weiser Staatsmann" als "genialer Stratege" oder als der "große Organisator" gefeiert, der die Sowjetunion zu einer Weltmacht gemacht habe.

Und wenn dieser große Mann der Geschichte aus Staatsräson die Wolgadeutschen nach Sibirien deportieren ließ, da musste dahinter doch ein Sinn gewesen sein. Ganz so, wie es der Genosse Stalin zu sagen pflegte: "Wenn ein Wald gefällt wird, dann fliegen eben Späne." Ich bin überzeugt, dass einige Vorträge dieser Konferenz Wort für Wort auch vor 30 Jahren hätten gehalten werden können – zu einer Zeit, in der es noch keine Perestroika gegeben hatte.

Ich war schockiert. Noch nie konnte ich Rechtfertigungen der Unmenschlichkeit Stalins durch irgendeine höhere Staatsräson etwas abgewinnen. Millionen und Abermillionen von Unschuldigen wurden in den Tod und in die Lager geschickt. Wurden nach Sibirien deportiert, wie meine Großmutter und meine Eltern. Eben weil ich diese Rechtfertigungen nicht mehr ertragen konnte, bin ich nach Deutschland ausgewandert.

Mir war aber auch bewusst, dass diese Betonköpfe aus dem kommunistischen Gestern an ihrer Überzeugung festhalten müssen. Sonst wäre alles, was sie je geglaubt haben, plötzlich falsch, wenn nicht sogar ein Verbrechen gewesen. Es war also müßig und sinnlos, mit ihnen darüber zu diskutieren, und so machte ich mich auf den Weg in die Stadt Saratow.

Jugendstil in Saratow

Letztendlich war ich hier auf der Suche nach Spuren einer Welt, der ich entstamme, einer Welt auch, die die geliebte Heimat meiner Verwandtschaft war, einer Welt, die mir in ihren Erzählungen überliefert wurde.

Doch im Zentrum von Saratow konnte man nur bei genauem Hinschauen noch den "deutschen Ursprung" von Gebäuden, ihrer Architektur, ihrem Baustil erahnen. Zu dick waren in der Sowjetzeit neue Farbschichten aufgetragen und neue Gebäudeteile angebaut worden. Dennoch gibt es wohl in keiner anderen Stadt in Russland so viele Gebäude, deren Fassaden mit ihren gotischen und Jugendstilelementen so sehr an eine Stadt in Deutschland erinnern. Aber das muss man wissen, denn kein Schild, keine Tafel weist auf ihre deutsche Vergangenheit hin.

Die ehemalige Nemezkaja, die Deutsche Straße, wie sie ursprünglich einmal hieß, trägt immer noch den Namen des langjährigen Vorstehers der Leningrader KPdSU, Miron Kirow. Sie ist heute eine ziemlich eintönige Straße einer abseits der großen Ereignisse liegenden russischen Provinzstadt. In der einstigen katholischen Kirche befindet sich immer noch das Kino "Pionier". An der Pracht der Gebäude lässt sich ablesen, wie wohlhabend die Besitzer dieser Häuser einmal gewesen waren – in nichts standen sie einer reichen Stadt in Deutschland nach.

Nur mit Kenntnissen der Geschichte und mit viel Fantasie kann man sich das rege Leben vorstellen, als sich in Saratow einmal die Wege der Fach- und Kaufleute aus Europa und Asien kreuzten, als hier neben Russisch und anderen Sprachen noch die deutsche Sprache eine Selbstverständlichkeit war, als man sich durch den Austausch von Ideen, Waren und Kulturen gegenseitig bereicherte. Vom ehemaligen kosmopolitischen Charme ist nichts geblieben.

Die Urbarmachung der Steppe

Obwohl mir bewusst war, dass nicht viel von der deutschen Welt an der Wolga übrig sein würde, wollte ich den Glauben nicht aufgeben, dass es noch Orte gibt, an denen diese Welt noch erkennbar ist. Wenn schon nicht in Saratow, dann wenigstens auf dem Lande.

Also machten wir uns am nächsten Tag auf den Weg, begleitet von mehreren Polizeiwagen und Blaulicht, um die ehemaligen deutschen Dörfer zu besuchen, aus denen unsere Vorfahren stammen. Der Weg führte gleich hinter Saratow in Richtung Wolgograd durch eine ziemlich karge Landschaft, in der man einst wohl viel Mühe aufbringen musste, um diese "wilde Steppe", durch die nur die Nomaden mit ihren Herden gezogen sind, fruchtbar zu machen. Denn das war die Aufgabe der ersten Interner Link: Kolonisten, die hier 1778 landeten und zu denen auch meine Vorfahren gehörten.

Das Heimatmuseum in Balcer (© Alexander Reiser)

Wie die Chroniken berichten, waren die ersten Jahre hart, auch Missernten und Hunger haben die Neusiedler erfahren. Doch mit der Zeit brachten sie es zu einem beachtlichen Wohlstand. Man kann das bis heute in der ehemaligen Kantonhauptstadt Balcer, heute Krasnoarmejsk, sehen, unserem ersten Halt auf dieser Tour. In Zentrum sind noch einige der prächtigen Kauf- und Wohnhäuser erhalten, und im Heimatkundemuseum sieht man Fotos der damaligen Zeit, Haushaltsgeräte, Bücher aus Deutschland, Tabakwaren und Kleidung aus Holland.

Auf der weiteren Fahrt durch die ehemaligen deutschen Dörfer Messer, Grimm und Kamenka war von der ehemaligen deutschen Welt aber nichts mehr zu finden, außer den beeindruckenden Ruinen der ehemaligen lutherischen oder katholischen Kirchen, die auch nach über siebzig Jahren, zwar ohne Dach und Fenster und mit einem verwüsteten Inneren, immer noch majestätisch als Mahnmale der Ungerechtigkeit dastanden und dem Zahn der Zeit trotzen.

Ich war mehr als aufgeregt, als der Bus endlich von der Schnellstraße in Richtung Gwardejskoe abbog, dem ehemaligen deutschen Dorf Pfeifer. Da war er also, der Ort, an dem meine Vorfahren lebten und begraben sind, der Ort, an dem meine Eltern das Licht der Welt erblickten und ihre Kindheit verbrachten. Wo die, die mir lieb sind, glücklich gewesen waren; wo meine Großmutter verliebt und frisch verheiratet war und ein glückliches Familienleben mit ihren vier kleinen Kindern führte.

Deportation nach Sibirien

Doch dann war alles jäh zu Ende. Im September 1941 wurde das ganze Dorf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Einheiten der Geheimpolizei des NKWD umstellt und geräumt. Alle Einwohner wurden in Viehwagons gepfercht und nach Sibirien deportiert. Mein Großvater wurde noch im selben Herbst in das Arbeitslager der "Trudarmee" gesteckt, der Arbeitsarmee, in der man ihn noch im selben Winter, mit 28 Jahren (ich bin jetzt bald doppelt so alt wie er) verhungern ließ. So wurde meine Großmutter mit nicht einmal 27 Jahren Witwe, sie hatte vier Kinder zu versorgen (drei eigene und das ihrer Schwester, die sie auch ins Arbeitslager gesteckt haben). In einem mit Schilf gedeckten Erdloch in Sibirien kämpfte sie bis zum Ende der Lagerhaft ihren täglichen Kampf um das Überleben. Otto, ihr eigenes viertes Kind, hat die Deportation mit seinen anderthalb Jahren nicht überlebt; er wurde unterwegs in der Steppe verscharrt. Bis zum Ende ihres Lebens weinte meine Großmutter, dass ihr "kleiner Otto" nicht mal ein Grab habe. Und ich sollte jetzt auf dieser Reise für den "großen und genialen" Josef Stalin Verständnis aufbringen?

Die Straße nach Pfeifer war in einem desolaten Zustand. Der Bus musste riesige Löcher weit umfahren, weil Regen und Schnee nicht nur den Asphalt weggespült hatten, sondern ganze Straßenabschnitte.

Zu seiner Zeit war Pfeifer einmal ein wohlhabendes Dorf mit bald 3.000 Einwohnern gewesen, mit mehreren Mühlen und kleinen Handwerkerbetrieben. Jetzt näherten wir uns auf einer Anhebung am Fluss einer bescheidenen Siedlung mit ein paar Dutzend Häusern, in denen nur noch 300 Menschen lebten. Schon die Hauptstraße machte einen vernachlässigten und tristen Eindruck, der ehedem lebendige, geschäftige Dorfplatz war mit hohem Gras bewachsen. Einst gab es hier zwei Schulen, heute gibt es keine einzige mehr; es gab mehrere Geschäfte, heute nicht mal ein Laden für den alltäglichen Bedarf. Von der ehemaligen Welt meiner Großeltern war nichts außer ein paar bis zur Unkenntlichkeit umgebauten Kolonisten-Häuser und einem riesigen Holzspeicher an der Ortseinfahrt zu sehen. Ich lief durch die Straßen und spürte den Schmerz, weil hier nichts mehr an die Vergangenheit erinnerte.

Meine mutige Großmutter

Der ehemalige Dorfladen in Pfeifer (© Alexander Reiser)

Und dann fand ich doch noch etwas aus der Welt, von der mir so viel erzählt worden war. Es war eine noch am Rande des Dorfplatzes stehende Ruine aus Ziegelstein, baufällig, arg von der Zeit gezeichnet: der ehemalige Dorfladen. Es war die für mich emotionalste Begegnung auf der Reise. Die einzige Brücke, die ich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schlagen konnte. Meine Großmutter hat im Dorfladen einmal als Nachtwächterin gearbeitet und sich öfters an diese Zeit erinnert. Wie sie auf diesen Treppen vor dem Gebäude saß, damals in den glücklichen Dreißigerjahren, und die Dorfjugend beobachtete, die sich auf dem Dorfplatz jeden Abend versammelte, um dann die ganze Nacht auf Geigen, Mandolinen und dem Knopf-Akkordeon zu spielen, zu tanzen, zu singen.

Von hier aus wurde sie in einer dieser Nächte vom NKWD abgeholt, weil angeblich jemand ein Witzlied über den "weisen" Josef Stalin gesungen hatte. Meine Großmutter war plötzlich ein Teil einer "antisozialistischen Verschwörung"; sie sollte andere "Verschwörer" verraten.

Zwei Wochen lang hat man sie Tag und Nacht verhört, nicht schlafen lassen, geschlagen. Aber meine Großmutter blieb standhaft – trotz all der Gewalt und Drohungen. Am Ende konnte man ihr nichts nachweisen, und man musste sie freilassen.

Ich ließ mich nieder auf die zerbröckelten Treppen der Ruine, dieser einzigen Verbindung zur Welt der Erzählungen meiner Großmutter. Einen Moment noch wollte ich diesen inneren Dialog mit ihr weiterführen, nun, da ich endlich hier war. An jenem Ort, vom dem sie bis zu ihrem Tod träumte. Wo sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbrachte. Noch bis 1956 stand sie unter Überwachung. Und auch danach war es den Wolgadeutschen verboten, in ihre Dörfer zurückzukehren. Erst 1978 wurde das Verbot aufgehoben, da war meine Großmutter schon ein Jahr tot.

Abends an der Wolga

Ich saß am Abend auf dem Balkon mit dem herrlichen Blick auf die zeitlos im Sonnenuntergang glänzende Wolga, aß eine Zuckermelone, die ich unterwegs gekauft hatte, und versuchte meine Eindrücke von dieser Reise zu ordnen. Die Melone schmeckte tatsächlich so gut, wie es meine Großmutter erzählt hatte. Es gab sie also, die Welt meiner Vorfahren an der Wolga. Ob sie tatsächlich so traumhaft und prächtig gewesen war, lässt sich nicht mehr feststellen. Außer einem Haufen Steine ist davon kaum etwas geblieben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Alexander Reiser wurde 1962 in Hoffnungstal im Gebiet Omsk in Sibirien geboren. Er arbeitete als Journalist in Wladiwostok, bevor er 1996 nach Deutschland kam. Heute ist er Quartiersmanager im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.