Der Sammler
Es gibt da diese Geschichte von Jean-Pierre Verney und seiner fast schon unheimlichen Sammelleidenschaft. "Ich war drei, vier, fünf Jahre alt", verriet Verney vor einiger Zeit dem Deutschlandfunk. "Ich sah sie ins Dorf kommen und morgens ins Gelände ziehen." Sie, das waren die Veteranen des Ersten Weltkriegs, der in Frankreich bis heute der Große Krieg heißt. Auf den Feldern nordöstlich von Paris, auf denen 1914 und 1918 die Marneschlachten geschlagen wurden, sammelten sie Helme, Granatsplitter, kleine, persönliche Gegenstände. Also wurde auch der kleine Jean-Pierre zum Sammler. "Jedes Einzelteil erzählt sein kleines Detail, seine Geschichte, Trauer, Leid auch Freude." Und weil der Historiker Verney überzeugt davon ist, dass das Erinnern nur mit solchen Details möglich ist, hat er im Laufe seines Lebens 20.000 Objekte gesammelt. 4.000 von ihnen sowie 300 seiner 50.000 Dokumente befinden sich nun im Musée de la Grande Guerre in Meaux an der Marne.
Gibt es in Deutschland bislang kein einziges Museum, das dem industriellen Menschenschlachten der Jahre 1914 bis 1918 gewidmet ist, sind es in Frankreich gleich drei. Das jüngste und zugleich ambitionierteste ist das Museum in Meaux, das Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy im November 2011 eingeweiht hat. Was man auf den ersten Blick nicht sieht: Der Ort ist authentisch. Dort, wo der flache und wenig pathetische Museumsbau des Architekten Christophe Lab mit einer gewissen Leichtigkeit auf Stelzen über dem Acker schwebt, befand sich ein Hügel, von dem die Feldherren das Geschehen der ersten Marneschlacht beobachten konnten. Präsent ist die Authentizität des Ortes auch vor dem Eingang zum Museum: Auf einem riesigen Bodenrelief ist der Lauf der Marne samt ihrer Mündung in die Seine eingezeichnet. Und plötzlich wird einem die strategische Lage dieses Ortes bewusst: Wir sind nur 40 Kilometer von Paris entfernt.
Wie aber geht das zusammen: ein Museum von nationalem Rang und eines der Grand Projets in der Erinnerungsmaschinerie im Gedenkjahr 2014 und die Sammelleidenschaft eines Mannes, den weniger die geopolitischen Fragen der Generäle umtreiben als das Leid der einfachen Soldaten im Schützengraben?
Die Themen des Kriegs
Die Dauerausstellung im ersten Obergeschoss, die der Historiker Marc Ferro konzipiert hat, nähert sich dem Großen Krieg chronologisch und thematisch. Die erste der 13 Etappen auf dem Zeitstrahl beginnt nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/1871 und widmet sich der Propaganda. Nach der französischen Niederlage, dem Verlust von Elsass-Lothringen und der deutschen Reichsgründung im Spiegelsaal des Versailler Schlosses wuchsen französische Schulkinder mit dem Hinweis auf, dass Deutschland der Erbfeind sei und das Elsass französisch, heißt es auf einer Tafel: "Die Lehrer fördern den patriotischen Geist im Unterricht auf Französisch, Geschichte und Geographie, wobei sie gleichzeitig die Sehnsucht nach den verlorenen Provinzen pflegen."
Es folgen das Attentat von Sarajevo, Mobilmachungen und Kriegserklärungen und – natürlich ausführlich in Szene gesetzt – die erste Marneschlacht vom 5. bis 12. September 1914, die den deutschen Vorstoß auf Paris stoppte und den Schlieffen-Plan scheitern ließ. Die hübsche Legende, dass
Spannender als der Zeitstrahl, der nach dem Stellungskrieg in den Schützengräben, der zweiten Marneschlacht, dem Kriegseintritt der USA und der Erinnerungsgeschichte an den Großen Krieg endet, ist der thematische Rundgang. Unter Überschriften wie "Ein neuer Krieg", "Eine totale Mobilisierung", "Frauen und Gesellschaften" oder "Körper und Leiden" rückt die Kriegserfahrung des Einzelnen in den Mittelpunkt und mit ihr ein Phänomen, das Sascha Lehnartz in der Tageszeitung Welt so beschrieb: "Eine europäische Gesellschaft, die den Ritualen des 19. Jahrhunderts verhaftet war, (zog) in bunten Uniformen mit Federbüscheln am Helm singend in den Krieg und (lernte) in ihm die zermalmende Macht der Technik des 20. Jahrhunderts kennen." Fast wie eine Ironie wirkt da die Tatsache, dass, wie es auf einer Tafel heißt, trotz der modernen Kommunikationstechnik die Brieftaube das wichtigste Medium des Krieges blieb.
Objekt und Detail
Die thematischen Abteilungen sind auch die, in denen die gesammelten Erinnerungsstücke von Jean-Pierre Verney zur Geltung kommen: Es sind Granaten und Splitter, Helme, Notizbücher und kleine Souvenirs. Und die Skalpelle und Bestecke aus den Lazaretten, in denen vor allem Frauen daran arbeiteten, die Verwundeten wiederherzustellen – und erneut schlachtenreif zu machen. Beeindruckend ist eine gläserne Menschenpuppe, in der farbig alleine jene künstlichen Gliedmaße und Prothesen sind, die damals bereits zur Verfügung standen.
Auch wenn das Museum in Meaux ein Leuchtturmprojekt Frankreichs im Kriegsgedenken ist, ist es kein "französisches Museum". Nicht nur die Tafeln und Hinweise an den Vitrinen sind französisch, deutsch und englisch beschriftet. Auch die Perspektive reicht über die nationale französische Erzählung hinaus. Doch vordergründig muss ein Museum in Meaux auch gar nicht sein. Es bleiben schließlich der Ort und der Fluss, die gleich zweimal von der Niederlage der Deutschen und dem Sieg Frankreichs erzählen.
Vor allem aber ist das Museum in Meaux ein Antikriegsmuseum. Auch das hat viel mit Jean-Pierre Verney, seinem spiritus rector zu tun. Gerade erst ist in Deutschland der Comic Elender Krieg von Jacques Tardi erschienen. Darin erzählt Frankreichs wohl bekanntester Graphic Novel-Künstler die Geschichte des Großen Krieges aus der Perspektive eines "Schlossers aus der Rue Panoyaux". Auch da geht es um zerschossene Leiber, den Gestank in den Schützengräben und die nächste Zigarette, dieser Moment des Durchatmens. Wie sehr dieser Comic der Wirklichkeit nahekommt, zeigen die seltenen Farbfotos zum Ersten Weltkrieg, die im Frühjahr 2014 das Willy-Brandt-Haus ausstellte. Auf einer der Abbildungen sind Soldaten eines österreichischen Stoßtrupps zu sehen, die müde in einer Felsspalte lehnen. Drei Meter vor ihnen liegen die Leichen von italienischen Soldaten. Keinen Freund und Feind gibt es da mehr, sondern nur noch Tod oder Überleben.
Tod und Überleben sieht man dem Feldherrenhügel von Meaux nicht mehr an. Man braucht schon ein Medium, mit dem sich der Alltag dieses Krieges, der neun Millionen Menschen das Leben kostete, vor Augen führen lässt. So wie auf dem Bodenrelief vor dem Eingang des Museums. Wer gerade noch auf den Flusslauf der Marne geschaut hat und unverwandt den Blick nach oben richtet, blickt durch eine Glasrund im Museumsboden direkt in einen Schützengraben.