Prolog
Danzig hat sich ins 20. Jahrhundert eingeschrieben, ist zu einem der Erinnerungsorte Europas geworden, nicht zuletzt aufgrund seiner Rolle in der Literatur. Nach dem Friedensvertrag von Versailles Menetekel für einen neuen europäischen Konflikt, Ort des Kriegsausbruchs von 1939, Symbol für beispiellose Zerstörung, Bevölkerungsaustausch und Wiederaufbau nach 1945, Schauplatz der friedlichen Solidarność-Revolution – all dies lässt Danzig, diese jahrhundertelang zwischen Deutschland und Polen gelegene Stadt, zu einem faszinierenden Gegenstand wissenschaftlicher wie literarischer Verarbeitung werden. All dies lässt sich auch problemlos im Stadtbild selbst erkennen. Nur die Weichsel sucht man als Besucher lange vergebens in dieser Stadt – der Fluss ist in der Danziger Topographie merkwürdig abwesend, ehe man ihn schließlich doch noch entdeckt.
Danzig und die Literatur: Mehr als nur Günter Grass
Zunächst ein wenig Literatur, denn Danzig besitzt neben vielen anderen Mythen auch einen literarischen Mythos – den Mythos Günter Grass. Es ist eigentlich schon merkwürdig: Jahrhundertelang hatte die Stadt keinen Dichter hervorgebracht, der sich in den Kanon der deutschsprachigen Literatur hineingeschrieben hätte. Gewiss, zahlreiche kleinere Poeten lebten an Mottlau (Motława) und Weichsel. Ein Martin Opitz fristete hier als polnischer Hofhistoriograph zumindest seine letzten Lebensjahre, auch Joseph von Eichendorff war in Danzig eine (kürzere) Zeitlang preußischer Regierungsrat und Richard Dehmel Primaner.
Aber bis ins 20. Jahrhundert war Danzig in der Regel kein Ort, an dem ehrgeizige Literaten ein Auskommen finden konnten oder ihren Wohnsitz nehmen wollten. Selbst der Dramatiker Max Halbe, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts landesweit als großes Talent des deutschen Naturalismus und lokal als größter "Danziger Dichter" hofiert, wuchs einige Dutzend Kilometer südlich der Stadt auf, in der er nie gelebt hatte; der große Utopist Paul Scheerbart stammte zwar tatsächlich aus Danzig, führte aber stets nur ein literarisches Nischendasein und schrieb über alles andere, nur nicht über seine Heimatstadt.
Auch die Großen der polnischen Literatur hatte um Danzig im Übrigen meist einen Bogen gemacht, der Nationaldichter Adam Mickiewicz erwähnt es in zwei Zeilen seines Epos Pan Tadeusz, nur der Vielschreiber Józef Ignacy Kraszewski schrieb einen Danzig-Roman, der allerdings kaum über Unterhaltungsniveau hinauskommt.
Erst als das "deutsche Danzig" ein für alle Mal Geschichte war, fand Danzig seinen Weg in die erste Liga der deutschen Literatur: Günter Grass' Roman Die Blechtrommel galt schon gleich nach seinem Erscheinen 1959 als literarische Großtat. Die magisch verfremdete Geschichte des um sein Wachstum betrogenen Oskar Matzerath sezierte vor dem Hintergrund des vernichteten Danzigs und seiner kleinbürgerlichen Lebenswelten ein gutes Stück deutsch-polnischer Geschichte der Neuzeit und fasziniert auch heute, ein halbes Jahrhundert später, noch seine Leser. Rasch darauf folgten weitere Danzig-Werke, Katz und Maus und Hundejahre, alle angesiedelt dort, wo auch der 1927 geborene Günter Grass aufgewachsen war, im Stadtteil Langfuhr (Wrzeszcz). Eine große Abrechnung mit der Lokal- und Nationalgeschichte war der (Anti-) Geschichtsroman Der Butt. Und auch Unkenrufe spielte noch einmal in Grass' Heimatstadt. In den Hundejahren beschreibt er seinen privaten Mikrokosmus so:
"Es war einmal eine Stadt, die hatte neben den Vororten Ohra, Schidlitz, Oliva, Emaus, Praust, Sankt Albrecht, Schellmühl und dem Hafenvorort Neufahrwasser einen Vorort, der hieß Langfuhr. Langfuhr war so groß und so klein, daß alles, was sich auf dieser Welt ereignet oder ereignen könnte, sich auch in Langfuhr ereignete oder hätte ereignen können."
Günter Grass übrigens wurde nicht auf Anhieb im polnischen Danzig bekannt. Zwar wurde Katz und Maus rasch ins Polnische übersetzt, doch dauerte es bis Anfang der 1980er Jahre, ehe auch die übrigen Werke bekannt wurden (und dann gleich auch, obschon zunächst nicht offiziell erlaubt, Volker Schlöndorffs Verfilmung). Sie veränderten innerhalb weniger Jahre das Bild der jüngeren Danziger von ihrer Stadt vollständig: Hier endlich fanden sie den Schlüssel, um zu verstehen, was vor 1945 in Danzig gewesen war, hier erzählte ihnen jemand, was ihnen die kommunistische Kultur- und Geschichtspolitik jahrzehntelang hatte verheimlichen wollen – dass Danzig nämlich weitgehend deutschsprachig gewesen war, dass die deutschen Danziger genauso gut und böse, dumm und intelligent waren wie ihre polnischen Nachfahren, dass die Stadt aber auch viele Anregungen und Einflüsse aus dem polnischen und kaschubischen Umland aufgenommen hatte. Die lokale Heimat übte plötzlich eine ungeahnte Faszination auf die Zeitgenossen aus.
Angestiftet von Grass, machten sich die nach dem Krieg in Danzig Geborenen auf die Suche nach diesem verschwiegenen, vergessenen Danzig der Vorkriegszeit. Alte Kanaldeckel, Aufschriften, die unter dem abblätternden Putz alter Häuser zum Vorschein kamen, Bücher und Karten auf den Speichern und Bibliotheken wurden auf einmal zu attraktiven Wegweisern in neue Facetten der eigenen Stadt. Diese Neu-Entdeckung der lokalen Vergangenheit prägte eine ganze Generation und ließ eine neue Heimatliteratur entstehen, die in ganz Polen bekannt wurde: Paweł Huelle schrieb mit seinem 1987 erstmals erschienenen Roman Weiser Dawidek gewissermaßen Grass fort in die polnische Nachkriegszeit. Auch dieses Buch ist eine Jungengeschichte, die sich allerdings in einer verfremdeten jüngeren, polnischen Vergangenheit abspielt, in die als verstörende und nicht leicht zu begreifende Zeichen Zeugnisse der deutschen Geschichte hineinragen.
Die Ostseeküste von Danzig. Hintergrund Oliva und Gdingen. (© Inka Schwand)
Die Ostseeküste von Danzig. Hintergrund Oliva und Gdingen. (© Inka Schwand)
Dieser Text machte ebenso Furore wie Stefan Chwins mit fein ziselierter Sprache geschriebener Roman Tod in Danzig, der den Übergang vom deutschen zum polnischen Danzig erzählt, das langsame Verschwinden des einen und das allmähliche Entstehen des anderen. Huelle und Chwin schrieben noch viele weitere Danzig-Romane, und eine ganze Reihe weiterer Autoren knüpfte an ihre Werke an, zuletzt auch wieder deutsche – Sabrina Janeschs 2012 erschienener Roman Ambra handelt wieder von dieser ganz besonderen Stadt.
Danzig ist ein magischer Ort (oder, mit Sabrina Janesch gesprochen: eine "magische Vorstellung", eine "Show der Illusionen"), an dem sich Geschichte und Gegenwart, Polnisches und Deutsches vielfach kreuzen, überlagern, überschreiben. Es ist eine Stadt, die noch auf längere Zeit hin vieles von dem erfahr- und begreifbar macht, was Europa in der Neuzeit auszeichnet: Pluralität, Multiperspektivität und die Macht der Erinnerung.
Dies geht einher mit dem so sehr symbolhaften Charakter der Stadt, eines der großen Erinnerungsorte Europas der Moderne, mit einer dichten, kulturhistorisch packenden Architekturlandschaft und mit einer zauberhaften Umgebung, die Meer und Hügel, Naturlandschaft und Urbanität selten schön vereint. Es ist tatsächlich über Jahrhunderte so gewesen, dass Danzig die Menschen, die sich mit ihm befassten, nicht losließ.
Die Weichsel nur am Rande: Danzig und der Fluss
Wenn man in Danzig ist, bekommt man von der Weichsel nur wenig mit, denn die historische Innenstadt, das Ensemble aus Rechtstadt (Główne Miasto), Altstadt (Stare Miasto), Speicherinsel (Wyspa Spichrzów), Vorstadt (Stare Przedmieście) und Langgarten (Długie Ogrody), liegt beiderseits des Flusses Mottlau, der kurz hinter dem alten Siedlungszentrum – nach einer Flussbiegung – in die Weichsel mündet.
Auf der Mottlau ankerten jahrhundertelang die Segelschiffe, die zwischen Frühjahr und Herbst in großer Zahl nach Danzig kamen, um einzuladen, was das östliche Europa zu bieten hatte: Getreide und Holz, die über die Weichsel bis Danzig herabgeschifft und geflößt wurden; auch Produkte der Stadt selbst nahmen sie mit, nicht zuletzt Bernstein und Bernsteinschmuck. Aus dem Westen brachten die Schiffe Heringe, Salz, Tuche, Südfrüchte, Wein und vieles andere mehr.
Auch wenn man also die Weichsel auf den ersten Blick nicht sieht in Danzig, so hat sie den Aufstieg der Handels- und Handwerkerstadt erst möglich gemacht, einen Aufstieg, der sie in der Mitte des 17. Jahrhunderts zur größten Stadt zwischen Moskau und Amsterdam werden ließ und zur größten deutschsprachigen Stadt überhaupt. Dieses urbane Zentrum am Rande der osteuropäischen Weiten war Umschlagplatz für Waren, aber auch für Nachrichten und Neuigkeiten. Wer in Polen wissen wollte, was in der Welt vor sich ging, erfuhr es in Danzig, wo man über politisches Leben und künstlerische Moden bestens informiert war.
Doch die schönen Zeiten, von denen viele lokale Dichter noch lange singen sollten, endeten, als sich im 17. und 18. Jahrhundert Polen mit Schweden und Russland bekriegte, der Weichselhandel immer häufiger gestört wurde und Danzig mehrfach vom Hinterland abgeschnitten war. 1793 wurde die Stadt, die seit 1454 zu Polen gehört hatte, schließlich von Preußen annektiert, verlor nach dem Glanz nun auch noch ihre Privilegien als quasi autonome Bürgerrepublik im großen polnisch-litauischen Adelsreich und wurde für mehr als ein Jahrhundert zu einer preußischen Garnisons- und Beamtenstadt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte sie einen gewissen Aufschwung, als nämlich der Hafenbereich auf den Unterlauf der Weichsel ausgedehnt wurde und hier auch mehrere große Werften entstanden, in denen die preußische, später kaiserliche Kriegsmarine viele ihrer Stahlkolosse montieren ließ.
Auch wenn man sie also in der Regel nicht sah, machte sich die Weichsel immer wieder bemerkbar in der Stadt – nicht nur, indem sie die Schätze Preußens und Polens herbeibrachte, sondern auch, indem sie ihre Fluten schickte: Bei Schneeschmelze am Ende des Winters trat der Fluss häufig über die Ufer, was selbst dann, wenn dies weit vor der Stadt geschah, große Konsequenzen für Danzig hatte. Und so wurde das Weichselhochwasser auch zu einem wichtigen Topos der regionalen Literatur: Theodor Storms Novelle Schimmelreiter basiert auf einer Sage vom Unterlauf der Weichsel, die 1838 erstmals in einer Danziger Zeitung veröffentlich wurde, und Max Halbe (1865-1944) schrieb einige seiner größten Dramenerfolge über das Hochwasser an seinem heimatlichen Fluss, so sein 1903 am Wiener Burgtheater triumphal uraufgeführtes Schauspiel Der Strom:
Jakob: […] Da hat der Strom so ruhig dagelegen, das Eis ganz fest, ein vierspänniger Heuwagen hat drüberfahren können. Wie ist es da nun weitergegangen? Ist das Wasser dann so mit einem Mal dagewesen?
Ulrichs: Mit einem Mal! Auf den Abend um fünf hat sich das Eis noch nicht gerührt, und in der Nacht um drei, da hat das Hochwasser schon bis zum Boden in den Häusern gestanden. Ich sag dir, Menschenskind, das Wasser ist gestiegen, gestiegen, schneller als wie 'ne Gans tauchen kann!
Jakob: Da war der Damm durchgerissen, nicht?
Ulrichs: Durchgerissen! Ja! Ein Stück, wie von hier bis zur Wachtbude da drüben! Und der ganze Strom mitsamt Eis und allem ist durch das Loch durch und grad auf unsern Hof los. Die Eisschollen sind angerückt wie im Sturm. Die haben alles kahl abrasiert. Die dicksten Weidenstümpfe glatt weggeschnitten. Wer das mal gesehen hat, vergißt's seiner Lebtag nicht!
Die solcherart entfesselten Weichselfluten ergossen sich oft bis nach Danzig hinein und überschwemmten die ärmeren östlichen Stadtteile. Der in Danzig aufgewachsene Aaron Bernstein (1812-1884) lässt seine Erzählung Die Kinder (1840) folgendermaßen beginnen:
Danzig mit den wiederaufgebauten Fassaden der Bürgerhäuser. (© Inka Schwand)
Danzig mit den wiederaufgebauten Fassaden der Bürgerhäuser. (© Inka Schwand)
Die verhängnißvolle Nacht, welche Danzig mit einer Überschwemmung bedroht hatte, war vorüber. Aus den niedriger gelegenen Vorstädten war gerettet worden, was nur zu retten war. Die ganze Nacht hindurch, auch schon einige Tage vorher sah man fortwährend Rettungsböte in der zum Theil schon überschwemmten Vorstadt Langgarten anlangen. Kinder, Greise, Säuglinge, Kranke, was sich nur in Noth befand, und der Selbsthülfe unfähig war, wurde eingeführt, und so sammelte sich daselbst eine unzählige Menge Unglücklicher, die fast alle ihre Wohnungen, bis zur Hälfte im Wasser stehend, verlassen hatten […].
Nachdem die Weichsel im 19. Jahrhundert eine neue Mündung erhielt und ihr Hauptlauf mit Schleusen von dem nach Danzig führenden, nunmehr "Tote Weichsel" (Martwa Wisła) genannten Flussstück abgetrennt wurde, ließ die Hochwassergefahr nach. Dann konnte es hier auch idyllisch werden, so wie es Max Kiesewetter (1854-1914) in seinen Weichselgedichten schildert:
Sacht steigt empor der Mond in weißer Pracht,
Sacht zieht der Strom nun durch die Sommernacht.
Von einem Schiff erschallt Matrosensang
Zu der Harmonika gedämpftem Klang
Und mählich sinkt die Stadt in Schlaf und Traum...
Die Sterne funkeln licht im Weltenraum.
Trotz aller Idylle spielte die Weichsel auch weiterhin eine wichtige Rolle für die Ökonomie der Stadt, denn nach wie vor war sie eine wichtige Transportader, vor allem für Holz, das in viele hundert Meter langen Flößen bis nach Danzig gebracht wurde. Günter Grass lässt gleich zu Beginn der Blechtrommel den Brandstifter Koljaiczek, der das Holz von der Ukraine her flussabwärts begleitet hat, nahe Danzig reißaus nehmen vor der Polizei in ihren Barkassen …
… und floh, floh über die Flöße, floh über weite, schwankende Flächen, barfuß über ein ungehobeltes Parkett, von Langholz zu Langholz Schichau entgegen, wo die Fahnen lustig im Winde, über Hölzer vorwärts, wo etwas auf Stapel lag […] von Floß zu Floß […] und steht ganz einsam auf einem Floß und sieht schon Amerika, da sind die Barkassen längsseits, da muß er sich abstoßen – und schwimmen sah man meinen Großvater, auf ein Floß schwamm er zu, das in die Mottlau glitt. Und mußte tauchen wegen Barkassen und unten bleiben wegen Barkassen, und das Floß schob sich über ihn und wollte nicht mehr aufhören, gebar immer ein neues Floß: Floß von deinem Floß, in alle Ewigkeit: Floß.
Wenn man die Weichsel heute betrachten möchte, kann man vom Mottlauhafen aus mit dem Ausflugsdampfer zur Westerplatte fahren, jener schicksalträchtigen Halbinsel direkt an ihrer Mündung in die Ostsee: Hier hatte Polen zwischen den Kriegen, als Danzig und Umgebung als "Freie Stadt" unter Obhut des Völkerbundes stand, ein Munitionsdurchgangslager, mit dessen Beschuss am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann.
Wenn man den Hügel erklimmt, der hier in den 1970er Jahren für ein großes Denkmal aufgeschüttet wurde, sieht man den Fluss in seinen letzten Windungen vor sich liegen. Oder man begibt sich auf einen der westlich des historischen Stadtzentrums gelegenen Hügel, auf den Hagelsberg (Grodzisko) oder den Bischofsberg (Biskupia Góra), und lässt den Blick schweifen: Leuchtend liegt hinter den Kirch-, Rathaus- und Stadttürmen, hinter eng verstellten Straßenzügen, einigen Hochhäusern und Werftkränen die Weichsel.
Übrigens die Werft – auch sie hätte es ohne die Weichsel natürlich nicht gegeben, und somit auch einen Schauplatz der Weltgeschichte weniger: Denn was sich aus der alten Schiffsbautradition der Stadt entwickelte, was zu Königlich/Kaiserlicher Werft und Schichau-Werft wurde, was zahllose Kreuzer, U-Boote und Handelsschiffe vom Stapel ließ, wurde nach 1945 zur "Lenin-Werft", 1970 zum Schauplatz blutiger Streiks und 1980 schließlich zur Geburtsstätte der Gewerkschaft "Solidarność", jener Arbeiterbewegung, die von Danzig aus das gesamte kommunistische System erschütterte.
Schließlich hätte es ohne Weichsel auch einen weiteren Markstein nicht gegeben, den Danzig in die Geschichte Europas setzte – die Freie Stadt Danzig: 1920 vom Völkerbund geschaffen, um einerseits Polen einen freien Zugang zur Ostsee und einen Hafen zu geben, andererseits aber die Rechte der fast durchweg deutschen Bevölkerung der Stadt zu wahren, wurde dieses kleine, als Kompromiss geborene Staatswesen zu einer Sollbruchstelle des mit dem Versailler Vertrag geschaffenen Systems: Immer wieder schien die Existenz des wirtschaftlich kaum lebensfähigen Stadtstaates bedroht durch deutschen Revisionseifer, polnischen Wunsch nach Besitzstandswahrung, das Unverständnis der internationalen Politik und das Unvermögen der deutschen Danziger, einen modus vivendi mit dem neuen polnischen Staat zu finden.
Und so war es kein Zufall, dass der Zweite Weltkrieg genau hier ausbrach, mit der Beschießung der Westerplatte durch das in die Weichsel eingelaufene Linienschiff Schleswig-Holstein im Morgengrauen des 1. September 1939.
Bruch und Kontinuität
Die Langegasse ist der Markt von Danzig. (© Inka Schwand)
Die Langegasse ist der Markt von Danzig. (© Inka Schwand)
1945 veränderte die Stadt ihr Antlitz. Aus Danzig wurde Gdańsk, aus einer zu mehr als 95 Prozent von Deutschen bewohnten Stadt eine zu mehr als 95 Prozent von Polen bewohnte Stadt. Zwischendurch war die historische Danziger Innenstadt ein Trümmerhaufen, zerstört im Zuge der Eroberung durch die Rote Armee. Wie Mahnmale ragten die ausgebrannten Kirchenruinen über den Schutt der Jahrhunderte. Es war fast ein Wunder, dass es nach Flucht und Vertreibung der deutschen Danziger und Ansiedlung der aus allen Gegenden Polens eintreffenden Neubürger gelang, diese historische Innenstadt zumindest in Teilen wieder aufzubauen, in einem Ausmaß zumal, wie er in Mitteleuropa einzigartig war. Zugestanden, das Ganze geschah unter ideologischen und politischen Vorzeichen, man wollte die einstige Bürgerstadt als Arbeiterstadt wiederentstehen lassen, "schöner als je zuvor", und man dachte, damit die polnischen Ansprüche auf Danzig bestens begründen zu können. Zugestanden, man mogelte auch ein wenig und baute eine ideale Stadtlandschaft des 17. und 18. Jahrhunderts wieder auf, wie sie in dieser Geschlossenheit nie bestanden hatte. Viele Hausfassaden kamen zwar im Barockgewand daher, waren aber standardisiert und verbargen normierte Zwei- und Dreizimmerwohnungen.
Dennoch war das Straßenbild der Rechtstadt schon bald so hervorragend in Szene gesetzt, dass sich selbst die deutschen Danziger, wenn sie ihre alte Heimat besuchten, oft die Augen rieben: Irgendwie schien es, als sei diese Stadt nie zerstört worden. Wenn sie in die Vororte weiterfuhren, nach Langfuhr, Oliva (Oliwa) oder in die Niederstadt (Dolne Miasto), dann fühlten sie sich umso mehr wie auf einer Zeitreise, denn hier hatte der Krieg vielfach gar keine Spuren hinterlassen.
Für die neue polnische Bevölkerung war es nicht einfach gewesen, sich in Danzig ein neues Zuhause zu schaffen: Fremd kamen ihr die Stadt vor, und zerstört war sie zumal. Verwirrt und überwältigt nahmen manche die unbeschädigten und voll eingerichteten deutschen Wohnungen in Besitz, die ihnen zugewiesen worden waren. Über Jahrzehnte hin sollten sie nun in einer deutsch geprägten Umgebung leben, die erst langsam den Ruch des Fremden verlor, zu etwas Eigenem wurde. Der Romancier Stefan Chwin hat diesen Prozess in seinem Roman Tod in Danzig (1995) beschrieben.
Dieser Roman hat zusammen mit den Werken von Paweł Huelle und Günter Grass etwas Außerordentliches vollbracht: Sie haben die Vorstellung der heutigen Danziger von ihrer Stadt entscheidend beeinflusst. Es waren ihre Bilder und Geschichten, die der lokalen Stadtgesellschaft besonders in den 1990er Jahren Mut und neuen Halt gaben. Die Art und Weise, wie man in den letzten beiden Jahrzehnten über die Stadt Danzig denkt, ist in ganz wesentlicher Weise von diesen Texten geprägt. Fiktion hat Wirklichkeit entstehen lassen.
Heute sind nicht nur die Danziger selbst stolz auf ihre literarischen Größen, sondern auch viele Besucher lassen sich begeistern: Sommer für Sommer reisen Hunderttausende, Millionen von Polen und Ausländern in die Großstadt an der Ostsee, angezogen von den nahen Stränden, dem bewaldeten kaschubischen Hügelland mit seinen verträumten Seen, aber auch der Geschichte der alten Hansestadt, ihrer großartigen Architektur und ihren Mythen: Freie Stadt, Kriegsausbruch, Zerstörung und Solidarność sind wirkmächtige Bilder im heutigen Europa – und zwei neue Museen, die in den nächsten Jahren eröffnet werden sollen, werden noch mehr Aufmerksamkeit auf Danzig lenken: Das Internationale Solidarność-Zentrum sowie das Museum des Zweiten Weltkriegs.
Beide liegen übrigens relativ dicht an der Weichsel, an die Danzig durch den in Planung befindlichen neuen Stadtteil Jungstadt (Młode Miasto), der auf einstigem Werftgelände entstehen soll, direkt rücken wird. Vielleicht wird der Fluss dann endlich auf Anhieb sichtbar in einer Stadt, die ohne ihn kaum denkbar wäre.