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Aus dem Weichseldelta

Ludwig Passarge

/ 12 Minuten zu lesen

1857, im selben Jahr, in dem die Eisenbahnbrücken über die Weichsel und die Nogat fertiggestellt wurden, veröffentlichte Ludwig Passarge seinen Erstling "Aus dem Weichseldelta". In diesen Reiseerzählungen verneigt sich der Schrifsteller und Jurist vor der gewaltigen Macht der Weichsel, aber auch vor deutscher Ingenieursbaukunst.

Die neue Bahnbrücke wurde 1891 gebaut und war zweispurig. (Aktron; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by/3.0/de

Warten auf die Eisenbahnbrücke

Dirschau! - Welcher Bewohner des westlichem Deutschlands hätte vor vielleicht nur noch wenigen Jahren etwas von Dirschau gewußt? Höchstens würde einer oder der andere Reisende sich voll Schrecken jener einsam verlebten Tage erinnert haben, da er bei einer Reise in die östlichste Provinz des preußischen Staates Tage lang auf den günstigen Moment über die Weichsel zu gelangen warten mußte.

Einem dritten wäre es vielleicht beigefallen, daß Dirschau den Knotenpunkt der Berlin-Königsberger und Danzig-Bromberger Chaussee bilde, zur Hälfte von einer polnisch redenden Bevölkerung bewohnt werde und nichts von "Merkwürdigkeiten" besitze. Ein Gelehrter hätte sich wohl gar dahin geäußert, daß der ursprüngliche Name Dersowe, Trsow gelautet, daß die Stadt durch den Pommerellensehen Fürsten Sambor schon 1207 eine Burg erhalten und etwa ein Jahrhundert später unter die Herrschaft des Deutschen Ordens gekommen; alle würden sich aber in dem Urtheile vereinigt haben, daß es ein ganz abscheulicher Ort sei, den man so schnell als möglich verlassen müsse, um entweder der "Stadt der reinen Vernunft" oder dem "Venedig des Nordens" zuzueilen.

So war es früher, und jetzt? – Wir nennen Dirschau, wenn wir von der Göltzschthalbrücke, der Sömmeringbahn, den Ueberbrückungen des Conway und der Menaistraße reden. Es ist diesem Orte gegangen wie manchen Völkern, von denen Niemand etwas weiß, die mit einem Male in der Geschichte auftreten und die Welt mit dem Rufe ihrer Thaten erfüllen. Auch mancher Mensch lebt so still für sich hin, in geräuschlosem Wirken Andere meidend, sein eigenes Selbst entwickelnd; Niemand kennt ihn; vielleicht ahnt er selber nichts von seiner Bestimmung; und plötzlich ist die Samenkapsel aufgesprungen und streut ihren Inhalt in alle Winde.

Wie manchen sonst weltverlassenen Ort hat nicht die Eisenbahn berühmt gemacht, wie manches traumverlorne Thal durchirrt nicht der schrille Pfiff der Lokomotive! Ihr Bewohner schaute die neuen sonderbaren Erscheinungen erst mit demselben stupiden Erstaunen an, wie der Eingeborne Amerikas die ersten Schiffe der Spanier oder der alte Preuße die stahlgepanzerten Ordensritter, um bald an dem allgemeinen Treiben und Jagen Theil zu nehmen und dem Gewinne nachzugehen.

Ein eigentlich unmögliches Vorhaben

Den ungeheuren Bauten und Zurüstungen gegenüber, welche die Errichtung der Weichselbrücke bei Dirschau und der Nogatbrücke bei Marienburg ins Leben rief, vermag beim ersten Anschauen selber der Gebildete kaum etwas Anderes als ein begriffsloses Verwundern entgegensetzen. Das Horazische nil admirari mag da seine Anwendung finden, wo sich uns Vergleichungen, Analogieen darbieten, wo uns zwar etwas Neues aber nichts Unerhörtes entgegentritt. Bei jedem Bewohner des Weichselthales, jedem Kenner der Natur dieses Stromes war aber die Vorstellung von einer Unmöglichkeit seiner Ueberbrückung eine so unumstößliche geworden, daß das wirkliche und sichere Gelingen des verspotteten Projektes meist nur ungläubig vernommen und das leibliche Schauen die vorgefaßte Meinung zu überwinden kaum im Stande gewesen ist. Ein bloßes Staunen über die Ausführung dieses Riesenwerkes mag wohl bei den meisten der Weichselbewohner der Bewunderung und dem Verständniß der genialen Schöpfung vorhergegangen sein.

Woher die Vorstellung von dem Mißlingen dieses Werkes?

Die alte Bahnbrücke über die Weichsel von 1857 ist heute noch als Straßen- und Fußgängerbrücke in Betrieb. (Topory; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Der Mensch im Kampfe mit der Natur und ihren vernichtenden Kräften ist von jeher der Gegenstand einer staunenden Bewunderung gewesen; aber nur, wenn er siegreich diesen Kampf besteht. Das Unterliegen macht ihn lächerlich; es ist wie ein Kampf mit dem Schicksal. Keinem Elemente gegenüber kann der Mensch eher auf einen Triumph rechnen, als beim Wasser. Wir verweilen in der Geschichte daher gerne bei solchen Nachrichten, welche von einer Bändigung, einem Jochauflegen reißender Ströme, bewegter Fluthen reden, von der scythischen Isterbrücke des Darius, dem ruthengepeitschten Hellespont, der Rheinbrücke Cäsars bis zu dem "Brucken" des Prinz Eugenius.

Aber die meisten dieser Ueberbrückungen dienten nur provisorischen Zwecken, sie bedeuteten nicht viel mehr, als unsere heutigen Pontonbrücken. Von festen und bleibenden Brücken großer und mächtiger Ströme weiß die Geschichte selten zu erzählen, und wo es geschehn, da zeigen die unter dem Wasser hervorragenden Trümmer, daß der Strom sein Joch bald unwillig abgeschüttelt hat. Erst die neueste Zeit hat den Versuch gemacht, auch die unbändigsten Ströme zu bändigen, die störrigsten zu zäh- men, dem unwilligsten Nacken das Joch aufzulegen. Haben sie doch den Niagara überbrückt, den Menai-Hellespont überbaut, und – was mehr sagen will – wird doch in Kurzem die Lokomotive über die Weichselbrücke brausen.

Kennt ihr die Tücken der Weichsel?

Kennt ihr die Weichsel? Wißt ihr etwas mehr, als daß sie auf den Karpathen entspringt, Krakau, Warschau und Danzig vorüberfließt in der Ostsee mündet?

Kennt ihr die Tücke dieses Stromes? Vielleicht fuhrt ihr einmal über seine Eisdecke, die so still und fest daliegt; es ist das bleiche Gesicht, die eisige Ruhe jenes Beleidigten, der sogleich ein Wuthausbruch folgen wird. Oder ihr saht den versandeten seichten Strom im Sommer; es ist die Magerkeit des gefangenen, kärglich genährten Raubthiers.

Die Weichsel ist sie selbst nur in ihrer Wuth, in ihrer Zerstörung; kein Lied besingt ihre Lieblichkeit, kein Dichter preist sie wie denInterner Link: "grünen" Rhein, die Interner Link: "blaue" Donau, den "liederreichen" Don; sie hat ihren wahren Ausdruck nur bei der Katastrophe, während des Eisgangess; sie ist furchtbar, als hätte sie ihre Quelle in dem ewigen Eise des tiefsten Kreises der Danteschen Hölle.

Auch der Bewohner südlicherer Gegenden, selbst des westlichen Deutschlands kann eine Vorstellung von der dämonischen Gewalt der Flüsse haben; plötzliche Ueberschwemmungen, Versandungen und Verheerungen bezeichnen die ebenso nützliche als zerstörende Lebensthätigkeit überall, wo eine solche Flußader pulsirt. Der Reisende wundert sich über die vielbogigen Brücken der subalpinen Ströme, welche als winzige Wasserfäden durch ein mit fußtiefem Geröll angefülltes, breites Bett rieseln; er braucht nur einen Gewittersturm abzuwarten, um sich dieses Flußbett mit ungeheuren Wasserrnassen füllen und die Ufer überschwemmen zu sehen.

Auch der Bewohner des Rheins weiß von Ueberfluthungen zu erzählen und der Mangel an festen Brücken spricht mehr als Alles für seine Unbändigkeit. Dennoch würde es vollkommen falsch sein, nach der Natur der westlichen und südlichen Ströme Deutschlands auf die der Weichsel zu schließen. Die Gefährlichkeit des Rheins oder der Donau verhält sich zu der der Weichsel etwa wie die Gefahren einer Fahrt im atlantischen Meere zu denen einer Polar-Expedition. Denn wenn bei jenen Strömen vorzugsweise das Wasser als verheerender und vernichtender Faktor auftritt, so ist es bei der Weichsel das Eis. Während dort das Hochwasser normal verläuft und nur ausnahmsweise Katastrophen hervorruft, verursacht der Eisgang der Weichsel alljährlich eine Gefahr, welche, wie die Felswände des Galanda über den Hütten von Felsberg, die Bewohner der Weichselniederungen, namentlich des Delta's, bedroht, und nur deshalb weniger unerträglich erscheint, weil die Gewohnheit und die regelmäßige Wiederkehr der Gefahr die Empfindung und die Furcht davor abgestumpft haben.

Das alles zerstörende Eis

Das Eis gehört zu denjenigen Faktoren der Vernichtung, welche am sichersten wirken; das sehen wir an den schwimmenden Eisbergen der Polarmeere und den Gletschern. Es übertrifft in seinen Wirkungen selbst die der Asche und Lava, welche wenigstens nach ihrer Erkaltung eine Kultur zulassen, und steht in Betreff der Schädlichkeit und Nachhaltigkeit der Verwüstung nur hinter dem Sande zurück.

Die neue Brücke wurde 1945 stark zerstört. (Andros64; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Furchtbarer noch als da, wo das Eis massenhaft und kompakt auftritt – wie in den Gletschern der Alpen oder den Eisfeldern des Nordens – sind seine Wirkungen aber in Verbindung mit dem strömenden Wasser, indem es hier die Gewalt des Stromes nicht bloß verstärkt, sondern zugleich durch Ansammlungen, Stopfungen einen Damm gegen den Strom selber errichtet und dadurch eine Ueberfluthung der Flußufer verursacht. Dieses geschieht namentlich dann, wenn der Lauf eines Stromes in nördlichern Breitengraden von Süden nach Norden geht.

Fließt ein Strom von Norden nach Süden, wie beispielsweise die schwedischen Flüsse, dann rollt sich im Frühling die Eisdecke wie von selber auf; die Wärme verzehrt Scholle nach Scholle, die Wasser fließen mählig ab und der Uebergang zum ruhigen Stromlaufe des Sommers geschieht langsam, ohne Zerstörung, ohne Gefahr für die Uferbewohner.

Wenn aber der Strom von Süden nach Norden fließt; wenn, wie in dem polnischen Hügellande und den dortigen Ebenen, der Frühling plötzlich und mit all seiner Zerstörungslust über den eisbedeckten Strom hereinbricht, dann geschieht auch das Schmelzen der Eisdecke plötzlich; die herbeiströmenden Wasser heben, zerbrechen, walzen die zerberstenden Eismassen und treiben sie mit ungeheurem Krachen nicht einem offenen Wasser, sondern den Niederungen zu, welche von einem Frühlinge noch nichts wissen.

Nun zerreißet in Folge des schwellenden Stromes die noch nicht mürbe gewordene Eisdecke; die Schollen, hart wie Glas und nicht zu zertrümmern, wälzen sich auf-, durch einander, thürmen sich zu Bergen und zerstören was ihnen hemmend in den Weg tritt, die vor ihnen sich noch hindehnende Eisdecke, die Dämme, sie bald überfluthend, bald "abschälend" und unterminirend. Es öffnet sich ein Theil des Deiches und heraus bricht die entfesselte Fluth über die tief unter dem Niveau des Strombettes liegenden Ebenen, die Saaten, die Wohnplätze der rathlosen Menschen. Mit dieser Art der Vernichtung, mit dieser Zerstörungslust, welche in den entfesselten Fluthen und Eismassen liegt, kann die dämonische Gewalt des Feuers gar nicht verglichen werden. Schon räumlich will eine Feuersbrunst gegen einen solchen Durchbruch eines Stromes nichts bedeuten; aber auch in Betreff des verloren gegangenen Lebens, des vernichteten Besitzes, der nachhaltigen Wirkungen, wie bei Versandungen ganzer Landstriche, läßt sich zwischen beiden Elementen keine Parallele ziehen. Wir werden später noch speziell auf die Erscheinungen, welche bei solchen Dammbrüchen vorkommen, zurückgehen; hier mag die Andeutung der Wirkungen solcher Katastrophen genügen.

Damit dergleichen entstehen, ist aber erforderlich, daß der Strom – wenigstens in seinem untern Laufe – mit einer starken Eisdecke belegt werde. Der Rhein fließt gleichfalls von Süden nach Norden, auch kommt es wohl vor, daß er gefriert. Dieses geschieht aber in einem so geringen Grade, daß die Eismassen als solche selten eine schädliche Wirkung ausüben, daß sie sich wegen ihrer geringern Dicke niemals zu solchen Bergen zusammenthürmen können wie bei der Weichsel. Außerdem tritt der Frühling und die Schneeschmelze im Westen ziemlich gleichmäßig ein; in Folge des Einflusses des Meeres ist zwischen den nördlichen Gegenden des Rheins und den südlichen keine große Differenz.

Differenz zwischen Süden und Norden

Ansicht von Dirschau, heute Tczew, um 1900. (Urheber unbekannt; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Die in seinem obern Laufe anschwellenden Wasser treffen daher selten auf Eis, höchstens wieder auf Wasserrnassen, mit denen sie sich zu einem normalen Stromlaufe vereinigen. Bei der Weichsel ist die Differenz zwischen Süden und Norden aber außerordentlich groß. In Polen ist mitunter schon die volle Schneeschmelze eingetreten, während in der Provinz Preußen noch der Winter herrscht; oft pflanzt sich das Schmelzen und Aufbrechen der Eisdecke so langsam fort, daß man sich durch bloße Fußboten von dem Beginne des Eisganges in Kenntniß setzt und in Thorn dem von Warschau aus gemeldeten Eisgange wie einem erst in einigen Tagen herannahenden Ereignisse entgegensieht.

Dieses ist aber stets die gefährlichste Art des Eisganges. Denn die Gefahr liegt nicht sowohl in der Bewegtheit, dem Anschwellen, dem Eistreiben des Stromes, sie liegt ganz besonders darin, daß sich die Eismassen vor der noch nicht geschmolzenen und zerkleinerten Eisdecke stopfen, zu Bergen ansammeln, das ganze Strombett erfüllen und den Abfluß des Wassers hemmen. Gewöhnlich bewirkt der fast in quadratischer Progression wachsende Wasserdruck ein Weichen, einen Durchbruch durch den Eiswall. Geschieht es nicht, dann ist eben ein Deichbruch – ein sogenannter Grundbruch – die nothwendige Folge. Eine solche Stopfung findet aber ganz besonders da statt, wo die herankommenden Eisschollen durch das sogenannte Grundeis aufgehalten werden.

Wenn sich nämlich im Winter das Wasser an der Oberfläche erkältet, sinkt das spezifisch schwerer gewordene zu Boden und krystallisirt an den hervorragenden Theilen des Bodens zu Eis. Durch fortwährendes Ansetzen wächst dieses Grundeis zu ungeheuren Massen an. Kommt nun die Schmelze, dann löst es sich massenweise, oft in weitester Ausdehnung, vom Boden los, zerberstet, wird weiter gerissen und füllt das Strombett mit seiner Masse aus. Es ist klar, daß da, wo dieses schwimmende Grundeis auf das noch am Boden festliegende trifft, eine Stopfung leichter stattfinden wird als da, wo das tiefere Flußbett keinen Widerstand leistet.

Bei solchen Stopfungen hat man wohl auch durch Pulverminen, Kanonenschüsse eine Oeffnung künstlich hervorzurufen versucht, aber fast immer ohne einen wesentlichen Erfolg. Der Mensch vermag in solchen Fällen nicht mehr als der Arzt einer Fieberkrankheit gegenüber; er kann nichts als abwarten, "ob die Natur sich nicht selber helfen werde"; und wenn es nicht geschieht, da mag er müßig der Götterstärke weichen, und wohl ihm, wenn er "ruhig und bewundernd" seine Werke untergehen sieht.

Wie schwierig, gefährlich und oft unmöglich bei solchen Verhältnissen das Ueberschreiten des Stromes ist, liegt auf der Hand.

Warten auf den Fährmann

Im Sommer wird der Verkehr leicht durch eine Schiffbrücke unterhalten, im Frühjahre und Herbste durch Fähren, sogenannte Prahme. So lange nun offenes Wasser ist, geschieht dieses leicht und mit Sicherheit; wenn aber das Eis zu treiben beginnt, dann wird jede Verbindung bis zu der Zeit, daß dasselbe zum Stehen gekommen, aufgehoben, und es geschieht nicht selten, daß die Reisenden Tage lang auf der einen Seite des Stromes verweilen und mit sehnsüchtigen Blicken nach dem so nahen und doch so unerreichbaren "andern Ufer" schauen.

Für die von Marienburg her Kommenden entwickelt sich in einer solchen Zeit oft ein lustiges Leben in dem auf dem rechten Weichselufer gelegenen "Fährkruge“, das einander menschlich nahe zu rücken zwingt und an die Regentage auf dem Rigi oder der Schneekoppe erinnert. In solcher Zeit wird in den Bahnhöfen zu Danzig und Königsberg die Art des Trajektes auf einer Tafel angeschreiben; und wie in Berlin nach der Uhr der Akademie, so sieht jeder Reisende nach der verhängnißvollen Tafel; während der Fahrt bildet aber der Trajekt den Inhalt aller Gespräche.

Ist das Eis nun zum Stehen gekommen und wäre es auch nur so, daß es "nicht hält und nicht bricht", dann wird quer über den Strom eine Eisbahn gegossen. Das Wasser gefriert sofort und bildet bald einen sichern Weg, den erst Fußgänger auf Brettern und dann selbst die schwersten Fuhrwerke passieren können. So geht es nun meist bis zu dem allgemeinen Eisgange im Frühling; denn nur selten kommt es vor, daß die Eisdecke schon im Winter aufthaut.

Sobald aber die von Station zu Station aufgestellten "Eiswachen" die nahende Gefahr verkünden, wird jede Kommunikation unterbrochen; selbst die kühnsten Schiffer und Beamten wagen sich dann nicht hinüber; aller Personenverkehr von Ufer zu Ufer hört auf und nur der Postbriefbeutel wird zuweilen auf schwankendem Faden von einer Seite zur andern gezogen. Der Güterverkehr stockt in solchen Zeiten aber oft wochenlang.

Denn selbst wenn endlich der Verkehr durch Spitzprahme und Schiffbrücken möglich geworden, reichen die vorhandenen Kräfte nicht aus, um die ungeheuren Waarenmassen zu befördern; und es ist namentlich während des russischen Krieges nicht selten vorgekommen, daß Kaufleute die lange vor Weihnachten eingekauften Spielzeugwaaren erst im Spätwinter erhielten, daß bei dem Mangel an Räumlichkeiten in Dirschau die kostbarsten Waaren vom Regen durchnäßt wurden und verdarben. Als es aber von Berlin nach Königsberg noch keinen Telegraphen gab, da mußte man oft tagelang selbst auf jede briefliche Nachricht verzichten und ich erinnere mich noch, daß im Jahre 1848 und 1849 zuweilen in zwei bis drei Tagen keine einzige politische Mittheilung aus dem Westen die Weichsel passieren konnte, in einer Zeit, das den Zeitungsblattern nothwendig noch die Feuchtigkeit aus der Offizin anhaften mußte.

Lob der Brücke

In solchen Momenten bildet die Weichsel ein ergötzliches Tagesgespräch: Man verlangt nach einem bereits vor sechs Wochen in Leipzig angekündigten, interessanten Buche, der Buchhändler erwiedert achselzuckend: die Weichsel; man bestellte vor vier Wochen in Berlin einen neuen Rock, der dortige Schneider schreibt, er läge schon längst – an der Weichsel. Eine Reise wird aufgehoben wegen – der Weichsel. Noch im vergangenen Jahre bei der großen Ueberschwemmung kam ein Offizier aus Berlin zur Verlobung mit seiner Braut genau acht Tage nach dem festgesetzten Termin über – die Weichsel.

Kurz "man drehe sich rechts, man drehe sich links", der "Weichselzopf" ist nicht los zu werden und hängt Allen hinten.

Wer zweifelt nun noch, daß sich trotz aller Bedenken und Hindernisse die dauernde Ueberbrückung der Weichsel als eine unabweisliche Nothwendigkeit herausstellte?

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ludwig Passarge wurde 1825 in Wollitnick in Ostpreußen, heute Primorskoje, geboren. In Königsberg und Heidelberg studierte er Jura. Neben seiner Arbeit als Kreisrichter in Heiligenbeil widmete er sich der Schriftstellerei. Er reiste unter anderem nach Skandinavien und auf den Balkan und war mit E.T.A. Hoffmann und Ernst Wichert befreundet. Passarge übersetzte unter anderem die Werke des litauischen Dichters Kristijonas Donelaitis ins Deutsche. "Aus dem Weichseldelta" veröffentlichte er 1857, dem Jahr, in dem die Eisenbahnbrücke bei Dirschau eröffnet wurde. Passarge starb 1912.