Die Weichsel ist der nationale Fluss der Polen. Während der Teilung zwischen Preußen, Russland und Österreich hat sie die Nation zusammengehalten. Aber warum kennt kaum jemand ihre Quelle?
Ob hierzulande jemand weiß, dass auch die polnische Nationalhymne ihre Flüsse hat? Im Gegensatz zum "Lied der Deutschen" werden zwar nur zwei genannt, dafür aber solche, die im Herzen des Landes fließen, und nicht solche, die die Grenzen des Landes abstecken sollen. In der dritten Strophe heißt es: "Wir werden Weichsel und Warthe durchqueren. Wir werden Polen sein". Die Tatsache, dass in derselben Strophe Napoleon Bonaparte als siegreiches Vorbild genannt wird, kann man aus heutiger Sicht nur belächeln, verweist jedoch auf die Entstehungszeit von "Dąbrowskis Mazurka" Ende des 18. Jahrhunderts.
Mit der Entstehung des Liedes sind noch mehr Paradoxien verbunden. Bevor es 1927 zur polnischen Nationalhymne wurde, wurde es von Soldaten der Polnischen Legionen gesungen, die an der Seite der französischen Invasionstruppen in Norditalien kämpften. Einen polnischen Staat gab es damals nicht – er war 1795 zum dritten Mal und endgültig zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden. Zwar gewährten Napoleon 1807 mit dem Herzogtum Warschau und der Wiener Kongress 1815 mit dem Königreich Polen eine Art Unabhängigkeit, doch die war nur zum Schein. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden schließlich alle Reste staatlicher Eigenständigkeit von den Teilungsmächten getilgt. Bekannterweise sind aber die Jahrzehnte nach der Französischen Revolution diejenigen, in denen sich das moderne Nationalbewusstsein in Europa entwickelte. Wie sollte nun ein Polentum ohne Staat entstehen?
Wie Beata Halicka Interner Link: in ihrem Beitrag festhält, sind die 123 Jahre, in denen es kein Polen auf der Landkarte gab, genau die Jahre, in denen der "Mythos Weichsel" entstand. In Literatur und Malerei wurden ihre Eigenschaften wie (Vaterlands-)Treue, Würde oder Geschichtsträchtigkeit besungen. Die Weichsel sollte die Verbundenheit des geteilten Landes symbolisieren, die alten Königsstädte Krakau und Warschau verbinden und zur nationalen Einheit beitragen. Die symbolische Überhöhung des Flusses stand dabei allerdings in eklatantem Widerspruch zu seiner Vernachlässigung als Wasserstraße. Russland, Österreich und Preußen (ab 1870/71 das Deutsche Reich) richteten ihre Aufmerksamkeit lediglich auf ihr jeweiliges Teilstück der Weichsel. Von einer durchgehenden Schiffbarkeit oder einem abgestimmten Hochwasserschutz konnte keine Rede sein.
Mit diesem Erbe musste sich der 1918 wieder entstandene polnische Staat auseinandersetzen. Bis heute ist die Wahrnehmung der Weichsel stark durch nationale Symbolik einerseits, und mangelnde Bewirtschaftung andererseits bestimmt.
Quellensuche zum Ersten: Wisła
In deutlichem Widerspruch zur nationalen Symbolik steht auch die allgemeine Unkenntnis über den Lauf der Weichsel und den Ort, an dem sie entspringt. Fast bekommt man den Eindruck, dass der Fluss immer vom Ende her gedacht wurde – von der Mündung in die Ostsee bei Danzig, das über die Jahrhunderte Polens Tor zur Welt war. Man kennt die Weichsel in Warschau und Krakau, auch das malerische Kazimierz wird mit dem Fluss verbunden, doch der Oberlauf scheint gänzlich unbekannt zu sein.
Fragt man etwa in Wisła, einem populären Touristenort in den Beskiden, nach der Weichselquelle, bekommt man als Antwort meist ein Achselzucken. Wisła ist bekannt als Geburtsort des Skispringers Adam Małysz, als das polnische Zentrum des Protestantismus oder vielleicht noch wegen der Präsidentenvilla aus den dreißiger Jahren. Aber die Weichselquelle?
Man kann zwar vom blauen Wanderweg zur Barania Góra abzweigen – das erfahre ich von einer ortskundigen Parkplatzwächterin –, aber ausgeschildert ist der Ort nicht. Schließlich ist das hier sensibles Terrain: Naturschutzgebiet. Und überhaupt, welche Quelle ist gemeint? Unterhalb des Berggipfels der Barania Góra entspringen in einiger Entfernung voneinander die "weiße" und die "schwarze" Weichsel (Biała und Czarna Wisełka). Erst nachdem sie sich im Stadtgebiet von Wisła vereinigt haben, entsteht die Wisełka – interessanterweise wurde an diesem Zusammenfluss in den sechziger Jahren ein Stausee angelegt, als Interner Link: Trinkwasserreservoir und Hochwasserschutz.
Damit es noch etwas komplizierter wird, spricht man von der eigentlichen Weichsel erst, nachdem einige Kilometer hinter dem Stausee der Bach Malinka einmündet. Und schiffbar wird sie erst kurz vor Auschwitz (an einem Nebenfluss, der Soła, gelegen). Ab da beginnt die eigentliche Kilometerzählung an der Weichsel.
Quellensuche zum Zweiten: Das Dreikaisereck
Der Kilometer "0" der Weichsel wird durch den Zufluss der Przemsza markiert, einem knapp 100 Kilometer langen Flüsschen, das früher die Grenze zwischen (Klein-)Polen und Schlesien darstellte. Der Zusammenfluss der "weißen" und "schwarzen" Przemsza wiederum ging in die Geschichte als "Dreikaisereck" ein. An dieser Stelle trafen zwischen 1846 und 1914 die Grenzen von Preußen, Österreich und Russland aufeinander.
Später verwilderte das Gebiet, denn die großen Kaiserreiche waren nach dem Ersten Weltkrieg untergegangen und mit ihnen ihre alten Grenzen. Als nach dem Krieg noch Teile Oberschlesiens Polen zuerkannt wurden, geriet das Dreikaisereck in Vergessenheit. 1937 wurde, nach nur dreißig Jahren Existenz, der nahe gelegene Bismarckturm abgetragen.
Erst als Anfang der 2000er Jahre einige Lokalaktivisten in Myslowitz und Sonsowiec auf die Idee kamen, den historischen Ort touristisch zu nutzen, erwachte er wieder zum Leben. Im Jahr des polnischen EU-Beitritts 2004 wurde am früheren Dreikaisereck sogar eine Gedenktafel enthüllt. Die verklärte zwar die Geschichte etwas sehr in eine europäische Richtung, aber immerhin: Die Hoffnung war da. Ein Ort der Begegnung mitten in Polen: Auch das bietet die Weichsel.
Leider ist in den knapp zehn Jahren seitdem nicht viel passiert. Der Enthusiasmus in den angrenzenden Städten durchlief Höhen und Tiefen. Einige Projekte aus EU-Mitteln scheiterten an der fehlenden Kofinanzierung, die die chronisch unterfinanzierten Kommunen nicht zur Verfügung stellen konnten oder wollten. Hinzu kamen die üblichen Streitereien um die "richtige" Deutung der Geschichte. Angesichts dessen ist es fast schon verwunderlich, dass es die Enthusiasten weiterhin gibt. Mithilfe verschiedener Events wollen sie den Ort ins Bewusstsein der Bewohner und Besucher zurückbringen.
"Das ist eine der wenigen Attraktionen von Myslowitz", sagt auch die Empfangsdame im einzigen Hotel der Stadt, das bezeichnenderweise den Namen "Trojak" (Drilling) trägt. Der örtliche Touristenverein PTTK hat für die Wegweiser gesorgt, und Anfahrtsbeschreibungen erhält man überall auf Anfrage. Das Dreikaisereck ist ein Kristallisationspunkt des lokalen Geschichtsbewusstseins, im Guten wie im Schlechten. Und zumindest für einige ist es auch ein Hoffnungszeichen für eine touristische Belebung der Region. Die Teilungszeit als glorreiches Kapitel der Ortsgeschichte: Geht das überhaupt im heutigen Polen?
Die nationale Dürreperiode: Das 19. Jahrhundert
Im nationalen Geschichtskanon gilt die Teilungszeit als eine finstere Epoche. Nicht nur wurde der Staat ausgelöscht, und damit – neben der Russifizierungs- und Germanisierungspolitik – die Herausbildung einer selbstbewussten nationalen Identität behindert. Die Teilung Polens bedeutete auch ein Auseinanderreißen des über Jahrhunderte gewachsenen Wirtschaftsraumes, in dem die Weichsel eine zentrale Rolle spielte.
Schon immer hatte die Weichsel die alten Königsstädte Krakau und Warschau verbunden. Über die Zuflüsse Bug, Narew und San wurde ein Großteil der polnischen Ausfuhren abgewickelt, so dass Danzig zu jener Zeit einer der wichtigsten Handelshäfen Europas war. Die Bedeutung Danzigs fasste angeblich Friedrich der Große so zusammen, dass der wahre Herrscher Polens nicht der König in Warschau sei, sondern derjenige, der Danzig und die Interner Link: Weichselmündung kontrolliere.
Kein Wunder also, dass der preußische König, kaum hat er mit der ersten Teilung Polens 1772 große Teile von Großpolen und Pommerellen (außer Danzig und Thorn) unter seine Kontrolle gebracht, die Handelsströme umzuleiten versuchte. Er griff ältere polnische Pläne auf und ließ innerhalb weniger Jahre den Netzekanal (auch Bromberger Kanal genannt) errichten, der die untere Weichsel über die Netze und Warthe mit der Oder, und somit Brandenburg und Hinterpommern verbinden sollte. Über die Umlenkung der Schiffswege und durch Sperrzölle sollte Danzig ausgehungert werden.
Die Rolle der Weichsel hatte sich also Ende des 18. Jahrhunderts gewandelt. Da es keinen polnischen Staat mehr gab, zerfiel der Weichselraum in mehrere Teile. Die Österreicher am Oberlauf hatten kein Interesse, den ohnehin spärlichen Handel Galiziens über Danzig abzuwickeln, so dass hier nur das Nötigste getan wurde, um die Weichselufer weniger anfällig für Überschwemmungen zu machen.
Preußen nutzte den industriellen Boom in Schlesien, um das Gebiet über die Oder und kleinere Kanäle (vor allem den Klodnitzer Kanal) stärker ans Kernland in Brandenburg anzubinden. Der Interner Link: Unterlauf der Weichsel im nun "Westpreußen" genannten Pommerellen ("Preußen königlichen Anteils") war über die Mündungsarme ohnehin gut mit der Ostsee verbunden – und über den Netzekanal mit der Oder.
Das "Königreich Polen" genannte russische Teilungsgebiet verfügte zwar vorübergehend über einige Autonomie in Wirtschaftsfragen, wurde aber im Laufe des 19. Jahrhunderts immer enger mit dem großen Binnenmarkt des Zarenreiches verzahnt. Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur tat ein Übriges. Russland suchte nun den Anschluss an die russischen Ostsee- und Schwarzmeerhäfen, um die Abhängigkeit vom Handelszentrum Danzig zu verringern. Während der Augustowski-Kanal, der die Weichsel über die Narew mit Interner Link: der Memel verbinden sollte, seine Rolle nie voll entfalten konnte, verlagerten sich die Handelsströme auf den Dnjepr – ein weiterer Schritt zur Auflösung des alten polnischen Staatsgebietes.
Dieser Desintegrationsprozess wurde durch den Bau von Eisenbahnlinien noch verstärkt: Die neu gebauten Strecken verbanden die Teilungsgebiete mit dem jeweiligen Kernland in West-Ost-Richtung, eine der Rheinbahn vergleichbare Linie wurde nie gebaut.
Ihre wirtschaftliche Bedeutung hatte die Weichsel also verloren, stattdessen wurde sie nun von den Teilungsmächten als Verteidigungslinie militarisiert und befestigt. Das alte Krakau wurde in Österreich-Ungarn zur provinziellen Garnisonsstadt, während Lemburg zur Landeshauptstadt Galiziens aufstieg.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte diese strategische Rolle der Weichsel nur bedingt zum Tragen kommen. Hatte der Fluss als natürliches Hindernis in den militärischen Plänen der Vergangenheit noch eine Bedeutung, lehrte der Erste Weltkrieg das Gegenteil: Die Front ging blitzschnell über sie hinweg. Erst 1944/45 sollte sie den Vormarsch der Roten Armee für einige Monate aufhalten, was aber nicht kriegsentscheidend war. Auch das "Wunder an der Weichsel", mit dem Polen 1919/1920 den Vormarsch der Roten Armee gestoppt hatte, war eigentlich gar kein Weichselwunder. Die Festung Modlin an der Narewmündung spielte dabei eine viel größere Rolle als der Fluss selbst. Der Mythos aber passte ganz gut in die Erzählung von der Weichsel als polnischem Nationalfluss.
Polnische Ausbaupläne
Als Polen in den Friedensverhandlungen von Versailles und den nachfolgenden Kriegen wiedererstanden und militärisch abgesichert war, machte es sich an die praktische Arbeit. Der in Woodrow Wilsons 14-Punkte-Plan zugesicherte Zugang zur Ostsee konnte allerdings nur bedingt umgesetzt werden. Zwar erhielt Polen ein Stück Pommerellen mit der Helahalbinsel, aber Danzig selbst wurde zur Freien Stadt. Immerhin hat man die von deutscher Seite angedachte Internationalisierung der Weichsel, wie sie teilweise an der Oder und Memel durchgeführt wurde, verhindern können.
Erst mit dem Ausbau des Fischerdörfchens Gdynia zum großen Ostseehafen Mitte der 1920er Jahre konnte ein unabhängiger Meereszugang gesichert werden, jedoch auf Kosten der Weichsel. Die Warentransporte nach Gdynia (und zum großen Teil auch nach Danzig) wurden nun zum größten Teil mit der Eisenbahn getätigt. Die Folge waren Vorwürfe, Polen wolle die Weichsel als Wasserstraße schädigen und Danzig boykottieren.
An ehrgeizigen Ausbauplänen hat es nicht gemangelt. Wiederholt wurden in der Zwischenkriegszeit Regulierungspläne vorgelegt, die freilich alle an fehlenden Finanzmitteln des jungen Staates scheiterten. Noch Ende der 1930er Jahre plante man eine Reihe von Stauseen, von denen nur einer teilweise umgesetzt und dann während des Krieges von den deutschen Besatzern zu Ende gebaut wurde. Auch nach 1945 versuchte man den Spagat zwischen Größenwahn und Realisierungsmöglichkeiten zu meistern. In wiederkehrenden Abständen wurden Pläne erarbeitet, wie die gesamte Weichsel oder einzelne Abschnitte zum Zwecke der Schifffahrt und des Hochwasserschutzes ausgebaut werden könnten.
Tatsächlich gebaut wurden aber nur ein paar Staustufen, etwa in Włocławek, die teilweise als Trinkwasserreservoir und/oder Wasserkraftwerk dienen. Polen steuerte zu der Zeit, auch aufgrund missglückter, mit westlichen Krediten finanzierter Großprojekte, sehenden Auges in eine große Wirtschaftskrise. Die führte dann auch zu Arbeiterunruhen und Streiks und bereitete den Nährboden für die Entstehung der "Solidarność" 1980, so dass alle hochfliegenden Pläne ad acta gelegt werden mussten.
Nation building im Fluss
Und so erfüllt die Weichsel ihre Rolle als nationales Geschichtssymbol auf paradoxe Weise: An ihrem Zustand lässt sich ablesen, wie das geteilte Land zusammenwuchs und immer noch zusammenzuwachsen versucht. Während die Weichsel nie die Funktion einer politischen Grenze hatte, lassen sich die Regulierung im Oberlauf, der Ausbau im Unterlauf und der frei fließende Strom zwischen Warschau und der ehemaligen preußischen Grenze bei Silno als Zeugnisse der Teilungen lesen.
Übrigens kann man auch knapp einhundert Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit die früheren Teilungsgrenzen an den Wahlergebnissen in Polen ablesen. Der Osten wählt konservativ und europaskeptisch, der Westen liberal und europafreundlich. Das ist auch ein Hinweis auf die Beständigkeit alter kultureller und wirtschaftlich-gesellschaftlicher Trennlinien.
Was uns das sagt? Der Ausbau der Weichsel – und im übertragenen Sinne auch der nationalen Zusammengehörigkeit – lässt sich nicht im Hauruckverfahren herstellen. Vielleicht bleibt die vielfach beschworene identitätsstiftende und verbindende Rolle der Weichsel vorerst ein literarischer und künstlerischer Topos.
Mateusz Hartwich, geboren 1979 in Wroclaw, hat an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Kulturwissenschaften studiert. Er promovierte 2010 zur Kulturgeschichte der Riesengebirgsregion nach dem Zweiten Weltkrieg.
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