An die Donau denken
Ich versuche, in die Zukunft zu schauen. Entlang des Donauwassers. Der zielstrebigen Weite. Ich versuche mir ein anderes Europa auszumalen. Eine europäische Nation. Menschen mit anderer Gedankenlast, anderen Erinnerungen, anderen Erfahrungen, als sie mein Vater hatte. Als ich sie hatte. Menschen, die in der Donau das Verbindende sehen. Nicht die Grenze, den Eisernen Vorhang, die aufgedunsenen Leichen, die einst verkrüppelten Brücken. Die Wunden. Die Spuren der Zerstörung. Das Trennende.
Ich versuche, an meine Töchter zu denken. Wie sie, einmal erwachsen, nur Schönes mit der Donau verbinden. Wie sie in diesem graubraunen Wasser die Hoffnung sehen. Das Zusammenleben. Die Vielfalt. Wie sie den Kontinent als ihr Zuhause empfinden. Wie sie ungläubig staunen, wenn sie Geschichten über die erbarmungslosen Zeiten an der Donau zuhören. Sie werden sich über ihren jüdischen Großvater mit dem Grauen des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen können. Sie werden erfahren, wie er als Kind an der Donau auf seine getöteten Eltern wartete. Wenn sie groß genug sind, werde ich ihnen auch erzählen, wie die NATO Donaubrücken in Serbien bombardierte. Als amerikanische, britische, französische Kampfflugzeuge über Belgrad flogen. Deutsche Tornados. Wie ich auf einer dieser Brücken stand, dem Donnern der Bomben lauschte, in der Finsternis das Feuerwerk der Flak bewunderte. Sie werden mich fragen "Warum?", und ich werde ihnen keine wirkliche Antwort darauf geben können. Nur meine Wahrheit.
Wenn man in Brüssel von der Donau redet, vergisst man oft, dass die europäische Kriegsgeschichte nicht im April 1945, sondern im Juni 1999 aufhört. Vorübergehend. Oder für alle Zeiten. Endlich. Die Deutschen im Schwarzwald und die Serben in Belgrad und Novi Sad waren vor nur vierzehn Jahren Kriegsparteien. Wieder einmal die Menschen in den Donauanrainerstaaten.
"Nie wieder Auschwitz", sagte damals der deutsche Außenminister Joschka Fischer. Er meinte, dass "die Serben" im Kosovo mit Albanern wie einst die Nazis mit Juden umgingen. Schreckliches taten serbische Streitkräfte, Polizei, paramilitärische Einheiten, als das sozialistische Jugoslawien zerfiel. In Kroatien, in Bosnien, im Kosovo. Aber Auschwitz?! Angesichts dessen schien es den meisten Deutschen gerechtfertigt zu sein, dass serbische Donaubrücken bombardiert und zerstört werden. Dass Serbien fast drei Monate lang bombardiert wird. Den Serben erschien und erscheint es nicht so.
Ich versuche, mir ein Europa auszumalen, in dem Geschichte gelernt und nicht gelebt wird. In dem die Brücken zwischen Erinnerungen ausgebaut werden. Ich will hoffen, dass das mit meinen Töchtern beginnt. Es wird aber Generationen brauchen, die nicht vom Krieg berührt werden. An der Ader Europas. An der Donau.
Als die Welt noch in Ordnung war
Wie für ein jedes Belgrader Kind gehörten auch für mich die Flüsse in den Bereich der Selbstverständlichkeit. Die Donau und die Save waren da, soweit das Erinnern reicht. Sie waren Heimat. In ihrem Anblick gab es nichts Aufregendes, anders als wenn man nach langer Autofahrt, hoch in den Bergen Montenegros, das fremde Blaue der Adria im grellen Sonnenschein erblickte. Das andere, große Wasser. Die unendliche Breite.
Irgendwann stieg man als Kind mit den Eltern auf die mittelalterliche, von den Türken gebaute Festung Kalemegdan und schaute, wie die Save in die Donau mündet. Das Bild prägte sich ins Gedächtnis. Noch vor dem Geographieunterricht. Noch vor den vielen Antworten, die man auf die Frage "Donau" in der Schule lernen musste. Radfahren. Ballspielen. Pfannkuchen mit Blick auf die Donau. Die Flüsse gehörten zur Kindheit. Die Sandstrände. Die Boote. Die Flöße.
Und die Brücken. Will man nach Neubelgrad oder Zemun, muss man die Save überqueren. Will man in die Vojvodina, nach Budapest und weiter nach Wien und Deutschland, muss man über die Donau. Die Flüsse waren eine natürliche Hürde. Die Menschen mussten Brücken schlagen, um einander besuchen zu können.
Oder zu erobern, wie wir alle ab einem gewissen Alter lernten. Und wie es auch im alten k.u.k.-Soldatenlied heißt:
Prinz Eugen der edle Ritter
wollt dem Kaiser wird'rum kriegen
Stadt und Festung Belgerad!
Er ließ schlagen eine Brukken,
daß man kunt hinüberrucken
mit der Armee vor die Stadt
Als die Brucken nun war geschlagen
daß man kunnt mit Stuck und Wagen
frei passir'n den Donaufluß,
bei Semling schlug man das Lager
alle Türken zu verjagen
ihn'n zum Spott und zum Verdruß
Die Save wird hier simpel als "Donaufluss" bezeichnet. Das Schlachtfeld war 1717 unterhalb von Kalemegdan. Der edle Ritter von Savoyen ließ eine Pontonbrücke bauen, griff nicht, wie erwartet, vom Land, sondern vom Wasser an und besiegte die Türken.
In der Familiensaga mütterlicherseits heißt es, dass mein im Kosovo geborener Urgroßonkel Velja in Wien meine österreichische Urgroßmutter Leopoldine kennenlernte und dass sie mit ihm gegen den Willen ihrer Familie nach Belgrad floh. Ihre Eltern aus dem Wienerwald wollten die Tochter nicht in dieses wilde Serbien ziehen lassen. Ins Unbekannte, entlang des Donaustroms. Zu diesen Osmanen. Vielleicht haben sie auch die Ironie von Karl Krauss nicht verstanden, als er dichtete "Serbien muss sterbien". Oder die Schlacht Prinz Eugens an den Mauern Belgrads. Serbien war ein Feindbild in Wien. Leopoldine und Velja mussten nach der langen Reise letztendlich die Save aus Zemun auf einer Fähre überqueren. Die Brücken unterhalb von Kalemegdan wurden viel später gebaut.
Von der Donau an den Rhein
Die Donau fließt 588 Kilometer durch Serbien. Über sie führen dreizehn Brücken, sieben davon verbinden Serbien mit den Nachbarstaaten. Schon der römische Kaiser Traian (53-117) ließ eine gigantische Brücke über die Donau im Eisernen Tor (an der heutigen Grenze von Serbien und Rumänien - d.R.) bauen, an die inzwischen nur noch eine Tafel, die Traianus-Tafel, erinnert. Er brauchte die Brücke für seine Feldzüge.
Als Verbindung mit dem Westen wurde in Titos sozialistischem Jugoslawien 1975 eine Brücke bei dem Ort Beška in der Vojvodina gebaut. Es war die Zeit der Brüderlichkeit und Einigkeit der jugoslawischen Völker. Der Weltoffenheit. Zu dieser Zeit lebte ich vorübergehend mit meiner Familie an einem anderen Fluss, dem Rhein. In Bonn. Mindestens ein Mal im Jahr fuhren wir nach Belgrad. Und nicht die Staatsgrenze, nicht die Städte Subotica oder Novi Sad – erst diese Brücke über die Donau bedeutete für mich Heimat. Und Abschied, wenn es wieder zurück, ins Rheinland, ging. Wenn ich in dieses Wasser springen würde, dachte ich, würde es mich rasch nach Hause bringen. Nach Belgrad.
Zum ersten Mal machte ich mir als Zehnjähriger bewusst Gedanken über die Donau. Und die Save. Durch den Umzug war die Selbstverständlichkeit ihres Anblicks verschwunden. Es war der erste große Umbruch meines Lebens. Es ist mir bewusst geworden, dass nicht alles bleiben wird, wie es ist. Und dass Veränderung nicht schlecht sein muss. Nach den Spielen auf alten, verrosteten Kanonen in Kalemegdan lernte ich die Loreley kennen, so wie Heine von ihr gedichtet hatte. Andere Flüsse – andere Märchen, andere Mythen.
Doch ob an der Donau, dem Rhein oder der Elbe, Menschen an den Flüssen haben etwas Gemeinsames: Stets müssen sie das nahe Wasser überqueren, damit sie weiter kommen. Sie müssen Brücken bauen. Zueinander.
Viel später erzählte mir der Flieger, Kommunist, Spanienkämpfer, Literat und Kunsthistoriker Oto Bilji-Merin, der in Zemun, die Donau vor den Augen, groß geworden ist, von Brücken. Der Mensch baut Brücken der Verständigung, sagte er, der Sprache, der Kunst, des Mythos und des Wissens. Brücken zu Menschen, zu Göttern und zu sich selbst. Die Brücken über die Flüsse und Abgründe, über Meerengen, das sei nur ein geringer Teil des Menschlichen Strebens, Hindernisse zu überwinden.
Bihalji gab das Buch Brücken der Welt heraus. "Der Mensch (…) baut Brücken zum Mond und zu unbekannten und unerforschten Welten", schrieb er. "Vor allem aber Brücken zur Überwindung der Fremdheit, des Hasses und der Vorurteile zwischen Völkern, Rassen und Religionen – Brücken der Gleichheit und des Friedens."
Etwa ein Jahrzehnt nach diesem poetischen Gespräch mit dem unverbesserlichen Philantropen stand ich an der zerstörten Alten Brücke in Novi Sad. Sie war zu einem strategischen Ziel der NATO erklärt worden.
Freude schöner Götterfunken
Es war reiner Zufall, dass mich die Donau Zeit meines Lebens an einen eigenartigen Krieg erinnern würde. An den Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Gegen Serbien. An die erste Kriegshandlung der NATO gegen einen souveränen, europäischen Staat. Ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats.
Am Abend des 24. März 1999 saß ich in einem Lokal in Zemun und schaute auf den beruhigenden Strom der Donau. Ich war Journalist, und es waren turbulente Zeiten. Weg vom Stadtzentrum wollte ich ein wenig Ruhe haben. Meine Berichte an den Wiener Standard und die Berliner Tageszeitung taz hatte ich schon geschickt. "Serbien wartet auf die Bomben", schrieb ich. Die Verhandlungen über den friedlichen Abzug serbischer Streitkräfte aus dem Kosovo und den Einmarsch der NATO-Truppen dorthin waren am Tag davor endgültig gescheitert. Der Westen, angeführt von den USA, war entschlossen, dem Wüten der serbischen Soldateska im Kosovo ein Ende zu setzen. Das serbische Regime glaubte, dass die NATO es nicht wagen würde, ein europäisches Land zu bombardieren.
Gerade als mir eine nette Kellnerin das zweite Bier brachte, hörte ich sie zum ersten Mal. Die Sirenen. Den Luftalarm. Den aufheulenden, eindringlichen Ton in der Ferne. Es geht also tatsächlich los, dachte ich. Die NATO-Aktion unter dem Code "Barmherziger Engel" hat begonnen. Die Kellnerin schaute erschreckt in den sonnigen Abendhimmel. Sie erwartete Bomber zu sehen, wie man es aus Kriegsfilmen kannte. Man bekam jedoch die Kampfjets nie zu sehen. Sie flogen zu hoch. Nur manchmal war ein tiefes Brummen im Himmel zu hören. Dann das Zischen der Marschflugkörper. Darauf die Explosion. Es sollte ein Hightech-Krieg werden. Per Knopfdruck und Joystick. Er würde 78 Tage und Nächte dauern. Die NATO würde 38.000 Einsätze fliegen.
Der "NATO-Aggressor fliegt auf Belgrad zu", verkündete man im Radio. "Geht in die Luftschutzbunker. Meidet die Nähe von militärischen Objekten, Raffinerien, Tankstellen und Brücken." Wie soll das denn gehen, fragte ich mich. Die Hälfte meiner Familie und Freunde lebte auf der anderen Seite der Save. Ich musste aus Zemun die Save überqueren, um ins Büro zu kommen. Alles schien unwirklich.
Am 1. April 1999 bombardierte die NATO die Petrovaradin-Brücke in Novi Sad. Ein neunundzwanzigjähriger Mann kam ums Leben. Oleg Nasov. Er war zur falschen Zeit auf der falschen Brücke. Vielleicht dachte er, dass die wacklige alte Brücke kein militärisches Ziel der NATO sein könne. Nicht einmal größere LKW durften über sie fahren. Die Brücke wurde zerstört. "Diese Brücke ist nach allen Normen ein ziviles Objekt. Das hier ist die Verletzung der Genfer Konvention", beklagte sich damals der Bürgermeister von Novi Sad. Am 3. April wurde auch die Brücke der Freiheit zerbombt. Mehrere Menschen kamen ums Leben. Am 26. April endlich die letzte Brücke über die Donau in Novi Sad – die Žeželj-Brücke.
Ich musste das einfach mit eigenen Augen sehen. Ich war neugierig. Und Reporter. Es herrschte Krieg. Als einer der wenigen Journalisten für ausländische Medien, die im Land geblieben waren, holte ich mir von den Belgrader Kriegsbehörden mit großer Mühe eine Reisegenehmigung. Ich fuhr nach Novi Sad. Die Straßen waren menschenleer. Da stand es vor mir: das Wrack der Petrovaradin-Brücke in die Donau gesenkt. Eine Kriegskulisse. Was hat denn diese alte Brücke mit dem Kosovo zu tun, fragte ich mich. Spinnen die? Auch später kam keine Erklärung, was die Zerstörung dieser drei Brücken 500 Kilometer nördlich vom Kosovo mit der "militärischen Lösung der humanitären Katastrophe im Kosovo" zu tun hatte. Ich erinnerte mich, wie ich diese Brücke einmal im Morgengrauen mit Freunden nach einer Party zu Fuß überquerte.
Die 341 Meter lange Brücke war 1928 von deutschen Firmen aus Dortmund und Stettin erbaut und "Prinz Tomislav Brücke" getauft worden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 1941 wurde sie vom jugoslawischen Heer gesprengt. 1945 flickten sie deutsche Kriegsgefangene zusammen. Im Jahr 2000 wurde sie endgültig durch die neue "Regenbogenbrücke" ersetzt, die heute wieder Petrovaradin-Brücke heißt. Sie verbindet den Stadtkern von Novi Sad mit Petrovaradin – Peterwardein – am anderen Donauufer. Dort befindet sich die gleichnamige österreich-ungarische Festung aus dem 17. Jahrhundert, die größte in Europa zu dieser Zeit. Hier findet seit Jahren eines der größten internationalen Musikfestivals statt, "Exit". Dutzende Tausende, vorwiegend junge Menschen aus aller Welt, kommen jeden Sommer. Sie können sich die Kriegsbilder am Donauufer vor nicht so langer Zeit nicht einmal vorstellen. Die Donau ist von Trümmern geräumt. Die Brücken stehen wieder. "Exit" ist eines der Markenzeichen Serbiens geworden. Es war einmal ein Krieg.