Als "Stadt der Begegnung" lockt Breslau heute Touristen. Die Bewohner selbst haben schon vor der Wende das deutsche Erbe entdeckt. Städtebaulich wendet sich Breslau wieder der Oder zu. Was daran ist regionale Identität, und was ist Stadtmarketing?
Versucht man, dem neuen Verhältnis von Stadt und Fluss in Wrocław/Breslau auf die Spur zu kommen, lässt sich in den letzten Jahren sicherlich ein Wandel feststellen. Markante Gebäude an der Oder werden wieder zur Geltung gebracht, in dem sie in der Nacht illuminiert oder neu genutzt werden, so wie der alte Wasserturm gegenüber der Technischen Universität. Der Neubau der Universitätsbibliothek an der Oder ist sogar eine Trotzreaktion auf das Hochwasser 1997. Damals hatten die Fluten die Altbestände der Bibliothek bedroht. Zuletzt entstand mitten im Stadtzentrum, zwischen beiden Oderufern, eine privat betriebene Marina mit Klub und Restaurant; hier hofft man auf die Entwicklung des Wassertourismus. In Planung befindet sich ein ambitioniertes Projekt für den zentral gelegenen Bürgerwerder, einst Industrie- und Kasernenstandort. Dort sollen höherwertige Mehrfamilienhäuser, Gewerbe- und Bürobauten und Hotels entstehen. In anderen Stadtteilen entstehen moderne Wohnsiedlungen, deren Namen sich mit dem Bezug zum Fluss schmücken, etwa der Odra Tower.
So groß die Symbolkraft dieser Projekte sein mag, sind sie doch Teil einer übergeordneten Entwicklung. Da ist einmal der Immobilienboom, den der polnische EU-Beitritt ausgelöst hat. Neben den üblichen Wohnparks im Umland entstanden auch zahlreiche Mehrfamilienhäuser auf ehemaligen Brachen innerhalb der Stadtgrenzen. Weitere Lücken werden nach und nach geschlossen, wobei die zur Verfügung stehenden Grundstücke in der Innenstadt immer kleiner, und die Preise immer höher werden.
Die Wiederentdeckung der Oder wie auch der Neuaufbau der Breslauer Innenstadt hängen also stark mit der polnischen Systemtransformation und einem gesteigerten Bedarf an modernen Wohn- und Bürobauten zusammen. Dass sich einzelne Projekte namentlich auf die Oder beziehen, ist eher beiläufig. Lediglich die genannte Marina deutet auf ein tatsächliches Wasserthema hin: die Nutzung des Flusses als Erholungsgebiet in der Stadt.
Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Oder als Ausflugsgebiet der Breslauer Bevölkerung genutzt worden. Seit der Schleifung der Festungsmauern hatte der Stadtumbau neben dem Hochwasserschutz stets die attraktive Umgestaltung der flussnahen Gebiete für Promenaden, Boulevards (auf dem deutschen "Bollwerk" entstanden) und Uferterrassen zum Ziel. Da "bürgerliches Freizeitverhalten" im kommunistischen Polen verpönt war und sich – nach einem kurzen Wirtschaftsaufschwung – die Lage seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend verschlechterte, fehlte es aber an den nötigen Geldern, um Uferwege, Anlegestellen oder Freizeitanlagen zu gestalten. Erst mit der Verwaltungsreform von 1999, die mehr Befugnisse in die Hände der Stadtoberen übergab, und dem Breslauer Wirtschaftsboom der letzten zehn Jahre, wird dem Erscheinungsbild der Stadt, und dabei vor allem ihrer "Schokoladenseite" am Oderufer, mehr Zeit und Geld gewidmet.
Investitionen in die Infrastruktur
Eine wichtige Rolle bei dieser neuerlichen Hinwendung zur Oder spielt neben der Gestaltung der Flussufer auch die Passagierschifffahrt. Parallel zum Ausbau der Oder zur Wasserstraße im 19. und 20. Jahrhundert wurde die innerstädtische Oder in Breslau von Fahrgastschiffen befahren. Damit war aber in den Nachkriegsjahrzehnten Schluss, was nicht nur mit der wirtschaftlichen Lage, sondern auch mit dem Zustand der Oder als Wasserstraße zusammen hing. Seit dem Umbruch von 1989 werden allerdings wieder neue Initiativen gestartet, um den Fluss als Ort der Erholung neu zu erfinden.
Auch die Stadtverwaltung hat sich aktiv in die Suche nach privaten Betreibern einer Passagierflotte mit Flussdampfern, Gondeln und Ausflugsschiffen eingeschaltet. Mittlerweile stellt die "Weiße Flotte" einen festen Bestandteil des Freizeitangebots der Stadt dar, die sich 2012 zur Fußball-Europameisterschaft und den erwarteten Touristenansturm rüstete. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt sollte ein Teil des Verkehrs von den chronisch verstopften Straßen aufs Wasser gebracht werden.
Selbst der Hochwasserschutz blieb Flickwerk. Auch nach dem Hochwasser 1997 ist die Regierung in Warschau mit der Instandsetzung des Breslauer Wasserwegs, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Oderverlauf neu regelte und neue Kanäle und Umfluter schuf, nicht weitergekommen. Da die Verantwortung für den Umbau der Wasserstraßen weiter in der Hand staatlicher Stellen bleibt, können die Verantwortlichen vor Ort lediglich an die Regierung appellieren. Der Handlungsbedarf ist da: Aufgrund kaputter Wehre und Schleusen stellt die Oder im Stadtzentrum eine "Sackgasse" dar. Das hat auch Auswirkungen auf die Fahrgastschifffahrt. Ausflugsschiffe verkehren nur punktuell, reguläre Verbindungen zwischen den Städten sind nicht möglich, ganz abgesehen von Oder-Kreuzfahrten. Die Infrastruktur der Oder gleicht einem "technischen Freiluftmuseum", wie es der Breslauer Professor Stanisław Januszewski formuliert – nur dass die Anlagen weiter genutzt werden.
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Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher und allen Umständen, und zwar umso mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, dass die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muss. (…) Flussregulierungen sind nicht unsre starke Seite.
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Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.
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Die Oder, der Fluss, der von weither kommt (…) Hier geschieht das Vollkommene nicht, hier bändigt niemand zu edlem Maße das Ungebärdige, und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung ungeschieden vom Hellen.
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Ich ging weiter über die Brücke. Rechts neben mir war ein Gitter. Unter mir war ein Fluss. Ich ahnte sofort, dass der Fluss Oder hieß, und ich stellte mich erst mal an das Gitter, um in die Oder zu spucken. Nach Möglichkeit spucke ich von jeder Brücke, vorausgesetzt, unter der Brücke ist Wasser.
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Die Oder ist wie eine Enzyklopädie. Zwischen Mährischer Pforte und Oderhaff bekommt man fast alles zu sehen, was die Welt Mitteleuropas zu bieten hat.
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Es flanieren viele Leute entlang der Oder. In Frankfurt sind das eher Rentner, die viel Zeit haben und die schönen Aussichten und den schönen Boulevard genießen. In Slubice sind es eher Leute, die Hunde haben, da der Oderdamm eine hervorragende Hundespazierstätte ist. Mit der Zeit wird es sich so entwickeln, nehme ich an, dass die Strecken sich verzweigen werden. Die Rentner werden über die Brücke gehen und ihren Spaziergang auf der polnischen Seite fortsetzen. Und die Hundefreunde werden in den Hundeladen in den Oderturm gehen, wo sie gutes Futter kaufen können. Und das ist auch richtig so.
Geschichte im Fluss
Dass Aktivisten wie Januszewski auf die Technik- und Kulturgeschichte der Oder hinweisen, wenn sie für die Erhaltung und Instandsetzung der Infrastruktur plädieren, scheint selbstverständlich. Dass dabei unterschwellig der Vorwurf formuliert wird, die polnische Verwaltung habe die Infrastruktur, die zu deutschen Zeiten vorbildlich ausgebaut wurde, dramatisch vernachlässigt, verweist auf ein übergeordnetes Phänomen: die Auseinandersetzung mit der Ortsgeschichte in Breslau und Niederschlesien nach 1989. Seit dem politischen Umbruch in Polen und Mitteleuropa werde die deutsche Vergangenheit der Region wieder entdeckt und offen diskutiert. So zumindest lautet die verbreitete Überzeugung.
Tatsächlich erforschen die polnischen Bewohner der ehemaligen deutschen Ostgebiete immer häufiger ihre Lokalgeschichte, suchen Kontakt zu früheren, deutschen Einwohnern, und entwickeln dabei eine offene, moderne, ja "europäische" Version ihrer Geschichte. Nicht zuletzt war die Oderflut von 1997 ein wichtiger Auslöser dieser Entwicklung. Als die historischen Schätze Breslaus akut bedroht waren, wurden sie von den polnischen Bewohnern gerettet, die sich damit die fremde Vergangenheit aneigneten.
Kein Zweifel: Das Verhältnis der Breslauer zu ihrer Stadtgeschichte hat sich gewandelt. Breslau wird in Wrocław nicht nur offen thematisiert. Die deutsche Vergangenheit wird auch als die eigene akzeptiert, ja sogar zur Zierde hochgehalten. Dabei verweist man auf herausragende Baudenkmäler wie die Jahrhunderthalle von Max Berg, bedeutende Persönlichkeiten, darunter zahlreiche Nobelpreisträger, oder auf die historische Stellung der Stadt in Mitteleuropa. Nicht nur die vermeintlich "polnischen" Kapitel der Geschichte im Mittelalter und die böhmisch-habsburgische Epoche vom 14. bis zum 18. Jahrhundert gelten heutzutage als wichtige historische Referenz im Selbstverständnis Breslaus, sondern auch die Entwicklung der Stadt in Preußen.
Feierlich beging man in den letzten Jahren das tausendjährige Bestehen des Bistums und somit die historische Ersterwähnung Breslaus im Jahre 1000 sowie das 300. Jubiläum der jesuitischen Akademie "Leopoldina", einer habsburgischen Gründung von 1702. Auch wurde an bedeutende Ereignisse der preußischen Geschichte wie etwa die Befreiungskriege erinnert. Anschaulich dargestellt wurde diese vielschichtige Geschichte zuletzt in der Dauerausstellung des neuen Stadtmuseums, die 2009 in der sanierten ehemaligen Hohenzollernresidenz eröffnet wurde. Allerdings wurde in der polnischen Presse die Bezeichnung "Königsschloss" für die neue Einrichtung kritisiert, habe es doch Königsresidenzen in Polen lediglich in Krakau und Warschau gegeben. Die Breslauer Namensgebung aber sei preußisch und übertrieben. War das ein Rückschritt in die Zeiten der lokalen Suche nach einer historischen Identität unmittelbar nach der Wende von 1989?
Wrocław zwischen 1945 und 1989
Ganz so einfach sollte man es sich jedoch nicht machen. Zum einen dauert das Breslauer Selbstgespräch mit der Geschichte viel länger und lässt sich nur schwerlich auf politische Zäsuren festlegen. Im Grunde begann die Suche nach historischen Bezügen für die Nachkriegsbevölkerung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verschiebung der polnischen Grenzen nach Westen. Die offizielle Propaganda betonte die historischen Rechte Polens auf Schlesien und nahm Bezug auf die mittelalterliche Herrschaft der Piasten-Dynastie.
Schon früh aber suchten lokale Eliten, darunter häufig Historiker, nach regionalen Spezifika, die den Bewohnern einen kulturellen Bezug zur neuen Heimat geben sollten. Dieser Regionalismus war von den kommunistischen Machthaber in Warschau nicht immer erwünscht. Zwar förderte er den Zusammenhalt der bunt zusammengewürfelten Bevölkerung und die Abgrenzung gegenüber der deutschen Geschichte. Aber er brachte eben auch ein Sonderbewusstsein hervor, das sich nicht ohne Weiteres in ideologische Vorgaben pressen ließ.
So gehörte die Geschichte Breslaus in Wrocław bereits in den 1960er und 1970er Jahren unter Geschichtskennern zum Allgemeingut – und spätestens mit der Herausbildung einer politischen Opposition im kommunistischen Polen in den späten Siebzigern entstand eine konkurrierende Darstellung zur offiziellen Geschichtspolitik. Ein Merkmal dieses Gegendiskurses war die offene Auseinandersetzung mit schwierigen Kapiteln der Geschichte, den so genannten "weißen Flecken", zu denen die deutsch-polnische und polnisch-russische Nachbarschaft im 20. Jahrhundert gehörte.
Die Neubewertung der deutschen Vergangenheit Breslaus nach 1989 hatte also wichtige Vorläufer seit den 1950er Jahren und entwickelte nach dem Systemumbruch eine neue Dynamik. Den Wandel der lokalen Geschichtskultur prägte zunächst Stadtpräsident Bogdan Zdrojewski, ein studierter Kulturwissenschaftler und ehemaliger Aktivist eines unabhängigen Studentenverbands. In seinen Regierungsjahren (1990-2001) wurde auch der Grundstein für den aktuellen Umgang mit der Lokalgeschichte gelegt. Nicht zufällig war der erste Schritt des neu, demokratisch gewählten Stadtrats 1990 die Wiedereinführung des historischen Stadtwappens, das zuerst die Nazis 1938 und dann die Kommunisten 1948 geändert hatten.
Mit der Öffnung Polens nach 1990 und dem Prozess der deutsch-polnischen Verständigung begann auch der Wandel der Geschichtskultur. Die deutschen Kapitel der Stadtgeschichte wurden ausführlicher und positiver behandelt, die Verwendung der Bezeichnung "Breslau" nicht mehr so stark geächtet, das bis dahin politisch forcierte positive Bild der Nachkriegsepoche immer differenzierter betrachtet. Das Bewusstsein, dass die "eigene" und nicht die "fremde" Geschichte im Sommer 1997 aus den Fluten gerettet wurde, war somit kein unerwartetes Interner Link: "Wunder an der Oder". Es war das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung, die von der Zivilgesellschaft getragen und von der lokalen Politik aufgegriffen wurde.
Geschichte und Marketing
Seit Beginn der 2000er Jahre wurde die ausgeprägte lokale Identität zur Marke Breslaus – und somit auch zum Bestandteil des Stadtmarketings. Breslau wirbt seit einigen Jahren mit dem Slogan "Stadt der Begegnung" und verweist damit auf den "interkulturellen" Charakter der Stadt, vor allem in seiner Geschichte. Kurz nach der Jahrtausendwende beauftragte man den in Polen sehr populären britischen Historiker Norman Davies, eine Monographie Breslaus zu schreiben, die 2002 gleichzeitig in Deutsch, Polnisch und Englisch erschien. Der deutsche Titel lautete Die Blume Europas, der polnische Mikrokosmos. Ziel war es, die Geschichte der Stadt auf dem neuestem Stand der Forschung einem breiten Publikum zugänglich zu machen und sich damit auch international zu präsentieren.
Dass Geschichte fürs Stadtmarketing instrumentalisiert wird, ist nichts Neues. Das Besondere am Breslauer Fall ist der Annäherungsprozess an die "fremde" Vergangenheit, bis hin zu einer allmählichen Überwindung alter Hemmschwellen wie der erwähnte Umgang mit der Preußenzeit. Diese Prozesse sind Teil eines weiteren übergreifenden Phänomens im Nachwendepolen: Die Dezentralisierung im bis dahin zentralistisch von Warschau regierten Staates brachte auch eine Regionalisierung der Erinnerung hervor.
All das wurde von einer Identitätssuche der neuen lokalen Eliten begleitet. Während sich die zentral- und ostpolnischen Regionen dabei auf eine relativ ungebrochene Geschichtsnarration stützen konnten, die hie und da von kommunistischen Elementen gereinigt werden musste, nahm der Prozess im Westen Polens die Form einer kritischen Auseinandersetzung mit nationalistisch-sozialistischen Interpretationen der Lokalgeschichte an und führte zur Annäherung an die deutsche Geschichte. Diese so genannte "Bewegung der kleinen Vaterländer" war in den Neunzigern ein wichtiges gesellschaftliches Phänomen, das zur Herausbildung einer anderen Perspektive auf die bis dato verordnete Interpretation beitrug.
Zugleich ermöglichte dieser offene Zugang zur eigenen Geschichte einen guten Übergang zum europäischen Diskurs, der seit der Jahrtausendwende immer dominanter wurde. Alle Regionen wollen demnach schon immer Teil Europas beziehungsweise der europäischen Geschichte gewesen sein, bewerben sich als "interkulturell", "multikonfessionell" und "grenzüberschreitend kooperierend". Diese neue Masternarration wird durch EU-Fördermittel für kulturelle und infrastrukturelle Projekte begünstigt, stößt aber in der Realität der polnischen Provinz auf ihre Grenzen. Auch im weltoffenen Breslau wird "Multikulti" nur im Stadtmarketing, nicht aber im Stadtbild geschätzt.
Selbsttäuschung an der Oder
Von Warschau, für das die neuen Westgebiete ohnehin immer Peripherie waren, in die Freiheit aber auch in die Ungewissheit entlassen, versucht Breslau seit gut zwanzig Jahren, seine Lage neu zu bestimmen. Die starke Anbindung an Berlin und das Deutsche Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat bis heute Auswirkungen auf die Verkehrs- und Wirtschaftsinfrastruktur. Allein deshalb war eine Hinwendung zum Westen, in diesem Falle zu den östlichen Bundesländern, naheliegend. Das zur selben Zeit neu entfachte Interesse für die bis 1989 teils verschwiegene, teils manipulierte deutsche Geschichte der Region, beförderte diese Wiederentdeckung. Schon nach wenigen Jahren stellte sich aber heraus, dass weder die Unabhängigkeit von der "Warschauer Zentrale", noch das Interesse Ostdeutschlands an einer engen Kooperation, geschweige denn die wirtschaftliche Potenz der Grenzregion, stark genug waren, um diesen Paradigmenwechsel zu ermöglichen. Es folgte eine Übergangszeit mit teils dramatischem Niedergang der traditionellen Industrie und Landwirtschaft sowie eine mühevolle Anpassung an globale Konkurrenz und europäische (Förder-)Strukturen.
Fehlende Kompetenzen vor Ort, fehlende Investitionsmittel und fehlende Zukunftsvisionen jenseits punktueller Infrastrukturausbesserung führten dazu, dass grenzüberschreitende Kooperation und abgestimmte Strategien vor allem EU-"Antragsprosa" blieben. Hierbei bleibt die Oder ein punktuell wahrgenommenes Identitätsmerkmal, aber kein Synonym für wirklich europäisch begriffene Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.
Das Verhältnis Breslaus zu seinem Fluss ist daher am ehesten als Mischung von pragmatischem Interesse, symbolischem Wert und struktureller Überforderung zu bezeichnen. Die Beschäftigung mit der Kultur- und Technikgeschichte der Oder hat weniger zur Ausarbeitung kluger Nutzungsstrategien, als eher zur Ernüchterung bezüglich der Umsetzbarkeit von umfassenden Plänen und Visionen beigetragen. Die Rolle der Oder für die Stadtidentität wird bewusster als noch Anfang der 1990er gesehen. Die größte Veränderung betrifft in diesem Bereich aber die Narration: Wurde die Oder bis in die 1980er Jahre hinein gleich gesetzt mit einer historischen und politisch hochbrisanten Grenze, wird sie vor dem Hintergrund der beschriebenen politischen und kulturellen Entwicklungen nun vor allem als Bindeglied nach Europa gesehen.
Chronologie
1000: Auf der Dominsel wird die erste herzogliche Burg der Piasten errichtet.
1241: Zerstörung der Stadt durch die Mongolen und Wiederaufbau. Breslau bekommt das Magdeburger Stadtrecht.
1335 Breslau wird böhmisch.
1526: Zusammen mit Böhmen wird Schlesien österreichisch.
1740-1763: Nach den schlesischen Kriegen wird Schlesien preußisch. Später wird Breslau zur Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien.
1813: Breslau ist eines der Zentren der Befreiungskriege gegen Napoleon. König Friedrich-Wilhelm III. formuliert hier seinen Aufruf "An mein Volk".
19. Jahrhundert: Mit der Industrialisierung werden Schlesien und Breslau zu den wichtigsten Regionen des 1871 gegründeten Deutschen Reichs. Ende des 19. Jahrhunderts hat die Stadt 500.000 Einwohner.
1918: Nach dem Ersten Weltkrieg wird Polen zum souveränen Staat. Der östliche Teil Oberschlesiens geht an Polen.
1938: In der Reichspogromnacht wird die Neue Synagoge aus dem Jahre 1872 zerstört.
1945: Kapitulation der Festung Breslau am 6. Mai.
1945-1945: Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung und Neubesiedlung durch Polen aus Zentral- und Ostpolen. Viele kommen aus Lemberg, das nach 1945 sowjetisch wurde. Aus Breslau wird Wrocław.
1989: Wende in Polen. Breslau bekommt wieder sein altes Wappen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus. Breslau wirbt mit dem Slogan "Stadt der Begegnungen".
Mateusz Hartwich, geboren 1979 in Wroclaw, hat an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Kulturwissenschaften studiert. Er promovierte 2010 zur Kulturgeschichte der Riesengebirgsregion nach dem Zweiten Weltkrieg.
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