Die DDR machte aus dem Stettiner Haff das Oderhaff. An die zweitgrößte Stadt am Fluss sollte nicht erinnert werden. Nun heißt das Haff wieder nach Stettin – und die Naturlandschaft ist so bezaubernd wie eh und je. Auf der polnischen wie auf der deutschen Seite.
Ich stehe auf einem Holzsteg. Wasser, nichts als Wasser und wie von Künstlerhand drapiert einige Segelboote irgendwo in der Ferne. Der Dammsche See, Polens viertgrößtes Binnengewässer, ist zugleich ein mögliches Ende der Oder.
Hier bei Stettin ist sie plötzlich verschwunden, die, die so stolz durch Breslau fließt, die sich im Oderbruch hollandisieren ließ und die im Unteren Odertal zum Nationalpark erklärt wurde, ist einfach weg.
Im Norden der polnischen Hafen- und Großstadt verliert sich die Oder zwischen Papenwasser, Dammschem See und Stettiner Haff. Letzteres durfte noch eine kurze Episode lang seinen alten Namen aus der DDR-Zeit tragen. Doch schon die ersten nach dem Versinken der demokratischen deutschen Republik neu gedruckten Karten machten aus dem Oderhaff wieder das Stettiner Haff.
Das alles war vor etwa 20 Jahren, und auf dem Holzsteg stand ein Herr neben mir, der sehr schnell merkte, dass ich deutsch verstehe. Also muss ich wohl ein Verbündeter sein, dem man es ja sagen kann, dass dieses Land, so weit und schön, doch gar nicht Polen sei. Wir müssten es uns ja eigentlich zurückholen, sagte dieser Mann aus dem großen Frankfurt, das nicht an der Oder liegt, und redete dabei mit einem sehr hessischen Akzent.
Zeit der Heimattouristen
Damals, Anfang der 90er Jahre, die Grenzen waren gerade ohne Visa passierbar geworden, bestanden wohl die meisten Reisegruppen, die sich in diese Gegend trauten, aus Interner Link: "Heimattouristen". Sie suchten die Heimat der Eltern und Großeltern, kamen in Bussen und wurden rundum betreut von Reiseleitern der alten Schule. Für diese Reisenden, die wenigsten redeten so wie jener Hesse, war Stettin und die Region am Stettiner Haff zumeist nur Zwischenstopp auf dem Weg nach Hinterpommern, Danzig oder Ostpreußen.
Hotels wurden modernisiert oder neu gebaut, und die Welt der Taxifahrer blühte auf. Sie waren die Dienstleister für die individuelle Spritztour am Rande der Gruppenreise. Bei ihnen wurde Geld gewechselt, und zumeist besaßen sie eine Liste alter deutscher Ortsnamen, um schnell verstehen zu können, wohin die Erinnerung den deutschen Gast führen sollte.
Heute fehlen diese Busse fast gänzlich, und auch die Taxifahrer sind um 20 Jahre gealtert. Oft haben sie ihren Job schon an den Nagel gehängt. Vielleicht trifft der eine oder andere von ihnen auf einen damaligen Kunden, wenn beide sich zufällig zur Kur in ein Sanatorium an der Ostsee begeben. Denn dorthin fahren heute die Busse und holen nach zwei Wochen ihre Kundschaft wieder ab, Rheumadeckenverkauf inklusive.
Information
Das Stettiner Haff, auf Polnisch Zalew Szczeciński, ist nach dem Kurischen Haff das zweitgrößte Haff in der Ostsee. Hier mündet die Oder nach 860 Kilometer Länge. Das Haff wiederum entwässert über die Peene, die Swine (Swina) und die Dievenow (Dziwna) in die Ostsee. Den nördlichen Teil auf der deutschen Seite bildet die Südseite der Insel Usedom mit dem reizvollen Hafen Kamminke. Ebenfalls auf der deutschen Seite liegt Ueckermünde mit seinem Haffstrand. Auf der polnischen Seite begrenzen der Süden der Insel Wollin und die Ostküste bei Kopice das Haff. Bei Trzebież (Ziegenort) beginnt der Mündungstrichter der Oder. Nach dem Wegfall der Grenzen kann man das Haff, zum Beispiel mit dem Fahrrad mühelos umrunden.
Auf der linken Seite des Haffes ließ sich damals Ähnliches beobachten, und doch war es hier ganz anders. Heimattourismus ja, aber weniger per Reisebus. Die neugierigen Wessis, die sich in den ersten Jahren der neuen Bundesrepublik bis ans Haff oder auf die Insel Usedom wagten, kamen mit dem eigenen Wagen. Doch dank der teils langen Schlangen an den Grenzkontrollen oder der Wirkung der bekanntesten Polenwitze blieben die meisten von ihnen auf der deutschen Seite.
Mitte der 90er Jahre veränderte sich die Lage. Das Stichwort der Stunde lautete "grenzüberschreitende Zusammenarbeit". Unzählige Planungsbüros hatten den wilden Osten entdeckt, und jeder Kommunalpolitiker führte den "Ausbau touristischer Strukturen" oder noch besser "die Schaffung gemeinsamer touristischer Produkte" im Munde.
Zahlreiche gute Ideen wurden geboren, wie etwa der "Internationale Radrundweg rund ums Stettiner Haff". Die "Naturfreunde Internationale" erklärte die Odermündung zur "Europäischen Landschaft des Jahres". Gemeinden schlossen sich zur Euroregion zusammen. Vereine und Initiativen entstanden und lernten sich trotz Grenze und Sprachhürden kennen.
Nicht mehr die Suche nach der Heimat – die Neugier auf diesen neuen Teil Europas wurde zum hauptsächlichen Reisegrund für die Besucher der Region. Und auch die Reisemittel wurden vielfältiger: Dem Bus stellten sich Bahn, Auto und Fahrrad zur Seite. Noch aber bestanden die Grenzkontrollen, war es schwierig das Fremde, Polnische zu erfahren, ohne sich einer organisierten Gruppe und einem klar festgelegten Programm anzuschließen. Deutsche Reiseveranstalter suchten nach neuen Programmen, abseits der ausgefahrenen Heimatrouten.
Ich erinnere mich an eine Gruppe von Busunternehmern, denen wir nicht nur den Grenzübertritt erleichterten, indem der Bundesgrenzschutz ihre Reisebusse an den Schlangen vorbei eskortierte, sondern denen wir auch ein ganz besonderes Programm organisierten. Noch Jahre später sprachen mich einige von ihnen auf der Touristikmesse in Berlin an, weil sie immer noch gerne an den Strandabend zurückdachten, an dem ich ihnen am Lagerfeuer die Legende von der Piratin Stenka erzählte. Atmosphäre und Gastfreundschaft wiegen stärker als Hotelzimmer und Stadtrundfahrt.
Was aber soll man zeigen in einer Region, die in erster Linie aus Weite und aus Wasser besteht? Gegenden aus Wasser und Wald finden sich schließlich überall.
Radwege standen in den 90er Jahren noch ganz oben auf der Prioritätenliste. Die ersten Radreisen führten über Feld- und Waldwege und über die kleinen, ruhigen Asphaltstrassen der polnischen Provinz. Heute ist das Radwegenetz auf der westlichen Seite ausgebaut und gut beschildert. Die östliche Seite zieht ganz langsam nach, nur mit der Beschilderung geht es schneller.
Aber von Gemeinsamkeiten ist kaum noch etwas zu spüren. Fernradwege, wie das "Grüne Band Oder", der "Oder-Neiße Radweg" und der "Berlin – Kopenhagen Radweg" bieten kaum eine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Die Beschilderungen sind einfach zu unterschiedlich und die Informationen zu spärlich. Was wurde aus dem Haffrundweg, dieser Idee, die bereits seit 1996 in den Schubladen von Planern und Behörden liegt?
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Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher und allen Umständen, und zwar umso mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, dass die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muss. (…) Flussregulierungen sind nicht unsre starke Seite.
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Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.
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Die Oder, der Fluss, der von weither kommt (…) Hier geschieht das Vollkommene nicht, hier bändigt niemand zu edlem Maße das Ungebärdige, und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung ungeschieden vom Hellen.
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Ich ging weiter über die Brücke. Rechts neben mir war ein Gitter. Unter mir war ein Fluss. Ich ahnte sofort, dass der Fluss Oder hieß, und ich stellte mich erst mal an das Gitter, um in die Oder zu spucken. Nach Möglichkeit spucke ich von jeder Brücke, vorausgesetzt, unter der Brücke ist Wasser.
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Die Oder ist wie eine Enzyklopädie. Zwischen Mährischer Pforte und Oderhaff bekommt man fast alles zu sehen, was die Welt Mitteleuropas zu bieten hat.
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Es flanieren viele Leute entlang der Oder. In Frankfurt sind das eher Rentner, die viel Zeit haben und die schönen Aussichten und den schönen Boulevard genießen. In Slubice sind es eher Leute, die Hunde haben, da der Oderdamm eine hervorragende Hundespazierstätte ist. Mit der Zeit wird es sich so entwickeln, nehme ich an, dass die Strecken sich verzweigen werden. Die Rentner werden über die Brücke gehen und ihren Spaziergang auf der polnischen Seite fortsetzen. Und die Hundefreunde werden in den Hundeladen in den Oderturm gehen, wo sie gutes Futter kaufen können. Und das ist auch richtig so.
Auf eigene Faust
Die Antwort bleibe ich ihnen lieber schuldig und verweise sie an die gemeinsame Tourismusinformation im Stettiner Schloss. Mit etwas Glück finden sie hier eine der beiden Karten, auf denen die Route seit Jahren eingezeichnet ist.
Baudenkmäler wären ein weiterer Grund, eine Region zu bereisen. Oft sind sie der Schlüssel zu Kultur und Leben der Menschen. Sie liegen vor allem in den kleinen Städten. Backsteingotik, die Architektur aus der großen Zeit der Hanse, wäre ein mögliches, verbindendes Element in dieser Region. Nur stehen wir hier mitten im Trümmerfeld deutscher und polnischer Befindlichkeiten.
Ähnlich sieht es mit der Schlösserarchitektur aus, die in diesem einst vom Adel geprägtem Landstrich nicht wenige Spuren hinterlassen hat. Scheinbar muss man in noch weiter zurückliegende Zeiten schweifen, um auf Gemeinsamkeiten zu stoßen. Eine gute Zusammenarbeit verbindet das deutsche Slawendorf Ukranenland, das an der Uecker in Torgelow entstanden ist, mit dem polnischen Wikingerhafen Vineta. Wasser verbindet, und wenn die Torgelower mit ihren nachgebauten Slawenbooten im Hafen vor der Stadt Wolin anlegen, treffen sie auf das dort nachgebaute Wikingerschiff. Deutsche Slawentechnologie trifft auf polnisches Germanentum, so absurd kann die Welt am Stettiner Haff sein.
Und das ist einer der schönsten und wichtigsten Gründe, diese Region, diese Grenzlandschaft zwischen Polen und Deutschland, zu bereisen. Hier lebt der Wolf im zivilisierten Deutschland, und im wilden Polen geht man in die Oper.
Heute sind die Grenzkontrollen weg, und jeder Waldweg führt zum Nachbarn. Und so wurde die Region am Stettiner Haff nicht zur Urlaubsregion der Berliner, sondern vielmehr Ausflugsziel der Stettiner. Ob im Frühjahr, wenn die Fahrräder wieder hervorgeholt werden, oder im Herbst, wenn es zur Pilzsuche in den Wald geht, überall sieht man die Großstädter, die es hinaus ins Grüne treibt. Mit Kind und Kegel vermischen sie sich mit den Reisenden auf dem Oder-Neiße Radweg, von denen nicht wenige in Tschechien zuhause sind. Dabei ist es nicht so sehr die Neugier auf den Nachbarn, sondern einfach das gut ausgebaute Wegenetz, das die Menschen über die Grenze treibt. Fast schon automatisch stoßen sie dabei auf Vieles, was auf den ersten Blick unverständlich scheint. Auf Heimatstuben, die von Zugereisten betreut werden, oder auf junge Menschen, die obwohl 40 Kilometer entfernt geboren, noch niemals Stettin besucht haben, weil die Großmutter gesagt hat, zu den Polen fährt man nicht.
Sie kehren ein in die wenigen noch geöffneten Kneipen am Wegesrand, wo die Wirte nicht selten Polen sind, und letztlich werden sie auch das Rätsel der Oder lösen. Sie schafft sich drei verschiedene Ausgänge in die Ostsee. Die Peene im Westen, die Swine in der Mitte und im Osten die Dievenow. Dazwischen aber liegt das Stettiner Haff – fast zu schön zum Weitersagen.
Mathias Enger lebt seit über 20 Jahren im polnischen Stettin, wo er als freier Journalist, Übersetzer und Reiseleiter tätig ist.
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