Das Leben am Fluss hat die Menschen im östlichen Mitteleuropa geprägt. Oder, Weichsel und Memel waren Lebensader und Handelsraum für Deutsche, Polen und Litauer. An ihren Trockenlegungen wirkten Kolonisten aus ganz Europa mit. Erst mit dem Einzug der Moderne ersetzte der nationale „Lebensraum“ die vornationale „Lebenswelt“. Im gemeinsamen Europa knüpft man wieder an das unmittelbare Verhältnis von Mensch und Fluss an.
"Eines der üblichen und häufigsten Missverständnisse ist, dass jeder Mensch seine bestimmten Eigenschaften habe, dass der eine Mensch gut sei, ein anderer schlecht, klug, dumm, energisch, apathisch usw. So sind die Menschen nicht. Die Menschen sind wie Flüsse: Das Wasser ist überall genau gleich, aber einige Flüsse sind schmal, andere breit, einige fließen schnell, andere langsam, einige Flüsse sind klar und kalt, andere trüb und warm. So ist es auch mit den Menschen. Jeder Mensch trägt in sich den Keim aller menschlichen Eigenschaften und zeigt bald diese, bald die andere, und oft geschieht es, dass ein Mensch nicht einmal sich selbst gleicht, obwohl er die ganze Zeit ein und derselbe bleibt."
Der russische Dichter und Religionsphilosoph Lew Tolstoj wählt den Vergleich von Flüssen und Menschen nicht von ungefähr: Der Lauf eines Flusses – von der Quelle bis zur Mündung – unterliegt wie der Lauf des menschlichen Lebens – von der Geburt bis zum Tod – Veränderungen, die oft nicht vorhersagbar sind.
Auch Thomas von Aquin stellte den Zusammenhang zwischen Natur, Mensch und dem Kreislauf der Dinge her. Das menschliche Dasein vergleicht der Scholastiker mit dem Lauf von Flüssen. In den Worten "Die Flüsse kehren zum Ort ihres Ursprungs zurück" machte Thomas von Aquin das Mysterium der Inkarnation als Kern des christlichen Glaubens aus. Der Ort, in dem die Flüsse entspringen, ist Gott selbst. Nach von Aquin sind die Flüsse von Gott gegebene Natürlichkeiten, die den Menschen "Sein", "Denken" und "Leben" vermitteln. Alles Leben erscheint dabei im Fluss und bildet einen Kreislauf.
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„Sie wissen, ich habe oft gesagt, ich liebe Flüsse. Über Flüsse werden sowohl Ideen als auch Waren befördert. Alle Phänomene der Schöpfung haben ihre großartige Aufgabe. Flüsse, riesigen Trompeten gleich, singen dem Ozean das Lied von der Schönheit der Erde, der Feldbestellung, der Pracht der Städte und der Menschen Ruhm.“
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„Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluss der Zeit ist ein Fluss, der seine Ufer mitführt.“
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„Sollte es sich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen problemlos erlernbar sind, dass Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem Hotel genauso zurechtfinden können wie in jedem Buch, ganz gleich wie exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen.“
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„Flüsse sind zweifellos ein Segen für diese Welt. Besser gesagt: Sie könnten ein Segen werden, wenn wir mit der Welt behutsamer umgingen. Wie alle im Sternzeichen Fisch Geborenen lasse ich mich vom Flusswasser hypnotisieren, besonders im Sommer. Nein, auch Seen haben ihre Vorzüge, ein See ist genauso wunderbar. Aber jetzt geht es mir um die Strömung, ihre Anmut und Elastizität, die Möglichkeit, im Wasser und mit dem Wasser zu schwimmen, ganz zu schweigen von der anderen, genauso verführerischen – den Widerstand der Strömung zu überwinden. Sorry, wenn Ihnen das wie eine Metapher erscheint.“
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„Wer den Fluss achtet, achtet auch seinen Nächsten.“
Göttlicher Fluss und sentimentaler Fluss
Flüsse sind seit jeher fester Bestandteil menschlicher Glaubensvorstellungen – aber auch Gegenstand von Konflikten und Bedrohungen. Schon die Bibel erwähnt die Auseinandersetzungen der Israeliten mit ihren Nachbarvölkern um Wasser. Wasser war aber auch gefährlich: Bei starken Regenfällen füllten sich die trockenen Flusstäler und rissen alles mit sich. Nach der Genesis förderten Überschwemmungen an Nil, Euphrat und Tigris das Wachstum der für den Menschen nutzbaren Vegetation und Fauna. In den Versen 20 und 21 der Genesis I heißt es: "Es wimmelte im Wasser von lebendigem Getier… Und Gott sah, dass es gut war."
Die Tradition der religiösen Verehrung von Flussgottheiten spiegelt sich in der nationalen Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts wider. Am Berliner Neptunbrunnen stellen neben Rhein und Elbe auch Oder und Weichsel personifizierte Flussgöttinnen dar. Die Namen der beiden Flüsse Oder/Odra und Weichsel/Wisła sind im deutschen wie polnischen weiblich, während sich mit dem Rhein eine Vatergestalt verbindet. Personifizierte Flussgottheiten unterliegen einer dauerhaften Mythologisierung. Von einer "sentimentalen Intention", die sich mit großen Flüssen verbindet, spricht der polnische Historiker Stanisław Gierszewski, denn seit Jahrhunderten betrachtet der Mensch den Fluss als "Leben spendende Wasserader".
Auch für die Menschen hatte der Fluss eine symbolische Bedeutung, wurde er doch zum Gegenstand zahlreicher Legenden, Erzählungen und ‒ mit den großen Vertreibungen des 20. Jahrhunderts – auch autobiografischer Berichte. Gierszewski sieht in einem solchen narrativen Raum den "volkstümlichen Charakter" eines Flusses. Die Konnotation des Volkstümlichen hat sich durch die nationalistischen Volkstumsbewegungen in Deutschland, Polen und Litauen sowie durch die Erfahrungen mit dem Totalitarismus ins Gegenteil verkehrt – ursprünglich war mit dem Volkstümlichen bäuerliche Alltagskultur gemeint. Das wirft die Frage auf, welche Spuren die Flüsse in der Erinnerung der Menschen hinterlassen haben, jenseits des ideologisch aufgeladenen Nationsbegriffes.
Alltagskultur und Heimat am Fluss
Die Niederungslandschaft zwischen Oder, Weichsel und Memel ist durch die deutsch-polnisch-litauische Grenzkultur geprägt. Naturräumlich gesehen bilden diese Ströme und ihre zahlreichen Nebenflüsse ein Netzwerk in der Landschaft. Auch in kultureller Hinsicht zeigen sich fließende Übergänge, die jedoch durch die nationale Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts verschüttet wurden. Der Fluss war für die Menschen, ungeachtet der ethnischen Vielfalt, in erster Linie Heimat. Im Umgang mit der natürlichen Ressource entwarfen sie Überlebensstrategien, die sich nicht sehr voneinander unterschieden. Gerade das Leben von Polen, Deutschen und Litauern in einer gemeinsamen Flusslandschaft, das weitgehend agrarisch geprägt war, weist auf die bisher kaum beachteten transnationalen Facetten des Alltagslebens.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Bilder vom Fluss und seiner Anwohner von der Heimatliteratur aufgegriffen. Für den westpreußischen Schriftsteller Oskar Loerke (1884-1941) symbolisiert der Strom (hier die Weichsel) in seiner Naturmächtigkeit das "Überzeitliche", das – wie in seinem Gedichtzyklus Pansmusik ‒ nationale und kulturelle Grenzen überwindet. In Pansmusik hat Loerke seine Kindheitserinnerungen an die polnischen Holzflößer auf der Weichsel verarbeitet. Schließlich wird in den Gedichten Weichselfahrt und Graudenz die Fahrt auf dem Strom zu einem Dahinfließen in einen metaphysischen Raum. Die Topografie bleibt nebulös, die historische Wirklichkeit wird nur in Umrissen gezeichnet. Ziel ist es, einen historischen Erinnerungsraum über die Zeitlichkeit hinaus zu schaffen.
Einen ähnlichen – allerdings rein nationalen – historischen Erinnerungsraum schuf der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski in seinem 1922 erschienenen Werk Wiatr od morza (Wind vom Meer). In dem entwirft er in mehreren Erzählungen eine polnisch geprägte Flusslandschaft in Ostmitteleuropa zwischen Oder und Weichsel – und thematisierte dabei gleichzeitig das Jahrhunderte alte Trauma der polnischen Nation, zwischen den beiden mächtigen Nachbarn Deutschland und Russland bestehen zu müssen. Żeromski traf bei seiner Fahrt nach Danzig den Zeitgeist einer polnischen Leserschaft, die sich im wiedererstandenen Polen der Zwischenkriegszeit nach den alten slawischen Gebieten im Westen sehnte. Żeromskis Motiv der Flusslandschaft als Ort des polnischen Märtyrertums findet sich auch in Der getreue Strom (Wierna rzeka) von 1912, ein Roman, in dem der polnische Aufstand von 1863 im Weichselland gegen die russische Besatzungsmacht zum Sujet wurde. Das Trauma der polnischen Teilungen, dass sich in der Flusslandschaft widerspiegelt, zeigt die tiefe Verletzungen und die Verwundbarkeit auf. Verlust von Heimat erhält eine ästhetische Repräsentation in Flussbildern.
Flüsse werden zu Kulturlandschaften
Zu Recht spricht Uwe Rada davon, die ostmitteleuropäischen Flusslandschaften aus der Ecke des Revanchismus, aber auch der Folklore und Tradition herauszuholen und sie zu einem Feld der kulturellen Begegnung zwischen Deutschen und den Völkern Ostmitteleuropas zu machen. Die Literatur kann dabei helfen. Flussmotive wurden von Dichtern und Schriftstellern ‒ sei es Theodor Fontane oder Oskar Loerke ‒ aufgenommen, um nach den Quellen nationaler Kultur zu fragen.
Es waren die Fragen nach dem Woher, das heißt der Vergangenheit, dem Ursprung einer Nation, und dem Wohin, der Zukunft einer Nation. Diese Fragen waren oft von Brüchen gekennzeichnet ‒ wie gerade die Revanchismusdebatte im Verhältnis der ostmitteleuropäischen Nationen zeigte. Doch die Flüsse richteten den Blick auch auf die gemeinsamen Quellen, dem gemeinsamen Woher und Wohin. Eine Fragestellung die angesichts der EU-Osterweiterung und der touristischen Erschließung der ostmitteleuropäischen Niederungslandschaften nichts an Aktualität verloren hat.
Das gemeinsame Woher und Wohin lässt sich in die vornationale Zeit, bis ins Mittelalter verfolgen. Seit dem frühen Mittelalter waren die Niederungslandschaften Ostmitteleuropas zwischen Oder, Weichsel und Memel einem Landesausbau deutscher, slawischer sowie westeuropäischer Siedler unterworfen. Landesausbau bedeutet nach der neueren Forschung die Umwandlung einer Natur- zu einer Kulturlandschaft, wie wir sie für das mittelalterliche Ostmitteleuropa, aber auch andere Flusslandschaften Europas ausmachen können. Seit dem Mittelalter wurde das komplexe Ökosystem der ostmitteleuropäischen Flussniederungen sukzessiv in eine Kulturlandschaft umgewandelt. Die Erschließung folgte entlang der Flüsse und wurde von einer breit angelegten Urbarmachung, zu der natürlich auch die Eindeichung gehörte.
"Lebenswelt“ im europäischen Osten
Nach dem Soziologen Alfred Schütz liegt die positive Symbolik des Begriffes "Lebenswelt" in der gelungenen Kommunikation zwischen Individuen, Gruppen und Völkern. Dies trifft auf den europäischen Landesausbau und die Ökonomisierung der ostmitteleuropäischen Flusslandschaft in der vornationalen Zeit zu.
Die Siedler stammten von der Elbe, dem unteren Rhein, aber auch aus Holland und Flandern. Es entstand quasi eine europäische Kulturlandschaft von der Maas, dem Rhein bis an die Memel. Diese Flüsse wurden zu Arterien der europäischen Geschichtslandschaft. Auch die Städte besaßen ein europäisches Gepräge. Zwar herrschte deutsches Stadtrecht, doch es wohnten und handelten hier nicht vorwiegend deutsche Bürger, wie die ältere Forschung lange Zeit behauptet hat. So waren etwa polnische Kaufleute im Weinhandel aktiv und handelten mit Litauen, Ungarn und Russland im Osten sowie mit Holländern und Flamen im Westen. Marcell Sebök hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die deutsche Historiografie lange Zeit den Anteil anderer Europäer, wie zum Beispiel der Holländer und Flamen, an der Ostsiedlung heruntergespielt und statt dessen einseitig die deutschen Kulturleistungen hervorgehoben habe.
Die holländische Zuwanderung erfolgte vor allem während des Dreißigjährigen Krieges. In den Weichselniederungen siedelten sich Mennoniten aus den Niederlanden an; sie legten im Weichsel-Nogat-Delta und stromaufwärts bei Marienwerder, Graudenz, Kulm und Thorn zahlreiche neue Bauernhöfe an. Dabei wurde ihnen auch ein Sonderrecht zuteil, das „Holländerrecht”, nach dem sie ihre Grundstücke in Erbpacht besitzen und ihre Gemeindeangelegenheiten selbständig regeln konnten. Noch im 19. Jahrhundert machte sich in den Weichselniederungen der niederländisch-mennonitische Einfluss an Tracht, Sitte und Häuserbau bemerkbar.
Das Beispiel Oderbruch
Die Landschaft des Interner Link: Oderbruchs war ähnlich wie die Weichselniederung durch Sümpfe und Moore, von verzweigten Flussarmen sowie von urwaldähnlichen Wäldern und sandigen Hügeln geprägt. Die erhöhten Flächen boten Schutz vor Überschwemmungen, und so entstanden auf ihnen die ersten Bruchdörfer – auch hier liegt eine auffällige Analogie zum Weichselwerder vor.
Es handelte sich dabei um Rundlingsdörfer, die von aus Kuhmist, Abfall und Astwerk bestehenden Wasserwehren umgeben waren. Die Bruchdörfer waren untereinander nur mit dem Kahn zu erreichen, weil das Wasser jeden Weg fortspülte. Immer schon versuchten die Bewohner, die Flussnatur zu bändigen. Bereits im Mittelalter schütteten sie Wälle auf, allerdings nur mit zeitweiligem Erfolg.
Vor den friderizianischen Meliorationen war Ackerbau im Oderbruch nur an den höher gelegenen Rändern möglich. Im Jahr 1717 war der neue Deich von Zellin bis Lebus fertig gestellt. Vor und hinter dem Damm pflanzte man je eine Reihe Kopfweiden.
Durch die Trockenlegung des Oberoderbruchs, das sich ungefähr bis nach Groß Neuendorf erstreckt, gewann Friedrich Wilhelm I. 117.000 Morgen Ackerfläche. Aber was für das Oberoderbruch nützlich war, brachte für das ohnehin feuchte Niedere Oderbruch katastrophale Folgen: Der Fluss suchte sich an dieser Stelle eine Ausweichmöglichkeit und überschwemmte das Land. Die Konsequenz daraus war, dass auch das Niedere Oderbruch trockengelegt werden musste. Diese Maßnahme erfolgte unter Friedrich II. Zur Kultivierung wurden Kolonisten herangezogen. Dabei rekrutierte der König auch Einwanderer aus dem Ausland. Diese stammten unter anderem aus Schweden und Polen. Ähnlich wie im Mittelalter war die Erschließung und Landnahme der ostmitteleuropäischen Flusslandschaft ein gesamteuropäisches Phänomen, an dem Deutsche, Polen, Holländer und andere beteiligt waren. Nationale Konflikte spielten keine Rolle.
Die Kultivierung des Oderbruches, als Prototyp, auch der Erschließung anderer Flüsse Ostmitteleuropas wie zum Beispiel der Lausitzer Neiße, der Netze, der Warthe, der Nogat und der Weichsel.
Von der europäischen "Lebenswelt" zum nationalen "Lebensraum"
Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erfolgte ein extremer Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, die vor allem die ländliche "Lebenswelt" erschütterte. Gleichzeitig schuf die Moderne die Nation und den Nationalismus.
So wurde in Preußen der friderizianische Gedanke der "inneren Kolonisation" wieder aufgenommen, jedoch mit einer anderen Zielsetzung. Dies galt vor allem für die Provinzen Posen und Westpreußen, wo die verstärkte staatliche Ansiedlung von deutschen Erbpächtern aus nationalen, polenfeindlichen Überlegungen heraus gefördert wurde. Ziel war es,"das Vordringen des Polentums" einzudämmen. Im Gegensatz zu den preußischen Trockenlegungen des 18. Jahrhunderts waren die Ansiedlung und Förderung polnischer Kolonisten nicht mehr vorgesehen. An ihre Stelle traten west- und süddeutsche Ansiedler sowie Rückwanderer aus dem Zarenreich. Insgesamt wollte man den deutschen Anteil stärken: Die staatlicherseits geprägte Kolonisation war nun eindeutig deutsch geprägt.
"Innere Kolonisation" war auch in den 1920er Jahren Thema der innenpolitischen Diskussion in der Weimarer Republik und erhielt mit dem Rückgriff auf die „deutsche Ostkolonisation“ im Mittelalter eine Scheinlegitimation. Die spätere Forschung in der Volksrepublik Polen nach 1945 sah in der "inneren Kolonisation" der Zwischenkriegszeit den Versuch, die polnische Bevölkerung zu verdrängen. Implizit weist der Historiker Matthias Weipert daraufhin, dass die Reagrarisierung und innere Kolonisation ländlicher Räume in der Weimarer Republik zugleich als Ausdruck einer Remilitarisierung im Zeichen der Nation zu verstehen waren. Im Diskurs um den "Agrarstaat" stellten die Landwirtschaft und der ländliche Raum die Basis für eine "wehrtüchtige" Gesellschaft dar. Die Entdeckung des agrarischen Osten diente als Projektionsfläche für die nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangene Weltgeltung des Deutschen Reiches. Der Schritt zu späteren Expansionsplänen der Nationalsozialisten, kulminierend im rassistischen Konzept des "Lebensraumes", war damit im Ansatz bereits gegeben.
Flüsse als fremde Heimat und Neuanfang
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges stand auch in den neu gegründeten sozialistischen Gesellschaften der DDR und der Volksrepublik Polen die Gestaltung von Großräumen im Vordergrund – im Staatssozialismus wurden Boden und Wasser als natürliche "Produktionsmittel" angesehen. Den Raumplanern ging es um die agrarische Flächennutzung im großen Maßstab, also wurden in den 1960er Jahren erneut Meliorationsarbeiten durchgeführt. Gleichzeitig wurde der größtenteils noch verminte Ackerboden wieder nutzbar gemacht. Das war vor allem das Werk der Flüchtlinge und Vertriebenen. So wurden die Flusslandschaften zur Metapher des Neuanfangs und des Aufbruchs in eine sozialistische Zukunft – in der Interner Link: DDR wie in der Volksrepublik Polen.
Die Aneignung der sozialistischen Flusslandschaft durch die Umsiedler war allerdings ein schwieriger Prozess. Die dauernde Unsicherheit, ob die neue Heimat auch tatsächlich dauerhaft und eine Rückkehr in die alte Heimat ausgeschlossen sei, führte zu einer zögerlichen Verwurzelung. Von einer "Landnahme" konnte man schwerlich sprechen. Aufschlussreich ist, dass die polnischen Umsiedler die ökologisch-physiographische Umwelt der Niederungslandschaft Oder nicht als fremd empfanden, wohl aber die kulturelle, die die Deutschen hinterlassen hatten. Nicht die physiographische Natur, sondern die kulturelle Konnotation mutete den Umsiedlern unpolnisch an.
Im Frühjahr und Sommer 1945 kam der Plan der Ansiedlung von polnischen Wehrbauern an der Oder und Neiße auf: Demobilisierten polnischen Soldaten und ihren Familien wurden Höfe in Aussicht gestellt, um − wie es national-patriotisch hieß – den starken polnischen Geist auszustrahlen. In einer Proklamation der polnischen Volksarmee vom April 1946 hieß es:
"In den westlichen Gebieten der Rzeczpospolita, von den Quellen der Lausitzer Neiße bis zu den graublauen Wellen der Ostsee, steht eine treue Wache – der polnische Soldat. Vor einem Jahr donnerten hier die Geschütze, brannten Siedlungen und Wälder, die Straßen waren erfüllt vom Knirschen der Raupenketten. Die polnische I. und II. Armee befreiten die uralten Piastenlande aus der jahrhundertelangen deutschen Gefangenschaft. In Oder und Neiße fließen Heldenblut zur Ostsee. (…) Heute ist an der Westgrenze Polens ein Damm der Polonität gewachsen und erstarkt − das Militärsiedlungswesen. Die Körper der Gefallenen zeugen besser als alle Grenzpfähle von unseren Rechten auf die Grenze an Oder, Neiße und Ostsee. Und es zeugt von der Arbeit des polnischen Bauern und Arbeiters. Schon zum zweitenmal innerhalb eines Jahres ackert und sät der Soldatensiedler in den Wiedergewonnenen Gebieten."
Hier wurden Oder und Neiße als historisch gewachsene Wehrgrenze gegenüber dem ethnisch Fremden konstruiert. Die eigene Ethnizität (Polonität) erscheint als eine dem Deichwesen entlehnte Metapher (Damm), die die Flut des Deutschen zurückhalten soll. Ungeachtet der offiziellen Erklärung zur „sozialistischen Friedensgrenze“ im Verhältnis DDR – Volksrepublik Polen, betrachtete die polnische Regierung die Oder-Neiße-Grenze zugleich als militärische Sicherheitszone. Das änderte sich erst mit der Ost-West-Entspannung in den 1970er Jahren.
Europäische Flusslandschaften
Erst Anfang der 1970er Jahre kam es zu einem lebhaften Reiseverkehr – der europäische Entspannungsprozesses und die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland haben es möglich gemacht. Auch in der Frage der Oder-Neiße-Linie setzte eine Entspannung im deutsch-polnischen Verhältnis ein. Zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen wurde eine grenzüberschreitende technologische Zusammenarbeit zur Erschließung der Niederungslandschaft an der Oder vereinbart. Im September 1974 trat die "Ständige Kommission Infrastruktur Oder-Neiße des Wirtschaftsausschusses DDR/VRP" ins Leben. Die Implentierung einer effizienten Wasserwirtschaft wurde zum Leitfaden des "sozialistischen Aufbaus" in beiden Ländern.
Neben der beiderseitigen Nutzung des Oderwassers für die Landwirtschaft sollten die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung, die Kontrolle der Grundwasserstände in dem Niederungsgebiet sowie hydrologische Messungen gemeinsam geregelt werden. Das Prinzip Nachhaltigkeit stand dabei sowohl auf ostdeutscher als auch polnischer Seite bis in die späten 1980er Jahre nicht zur Debatte. Der exzessive Ausbau der chemischen Industrie (etwa in Schwedt an der Oder und Tarnówskie Góry) führte zu einer starken Gewässerbelastung. Allein auf polnischer Seite werden die Sanierungskosten heute auf zwei Milliarden US-Dollar beziffert. Der militär- und sicherheitspolitische Duktus der polnischen Westforschung, insbesondere im Hinblick auf die Oder-Neiße-Grenze, verlor sich endgültig mit den Verträgen zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und Polen in den Jahren 1990 und 1991.
So gehört die Heimat Fluss wieder allen. Flüsse als nationale Grenzen haben gegenüber dem Verbindenden an Bedeutung verloren. Die ostmitteleuropäische Flusslandschaft der Oder ist zu einer "Euroregion" geworden. Allerdings lässt die Erweiterung der Europäischen Union weiter östlich neue Grenzlandschaften entstehen.
PD Dr. Eva-Maria Stolberg ist Historikerin an der Universität Duisburg-Essen. Sie ist Autorin des Standardwerkes Sibirien: Russlands Wilder Osten. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert.
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