Kaum ein anderer Fluss in Europa ist national so aufgeladen wie der Rhein. Vor allem zwischen Deutschland und Frankreich war der 1233 Kilometer lange Fluss immer wieder umstritten und umkämpft. Die Dichter aus Frankreich und Deutschland lieferten sich sogar eine bataille lyrique. Eine Konfliktgeschichte
"Der alte Vater Rhein war also lange Zeit ein Gefangener und sogar eine Geisel der Menschen." (Lucien Febvre)
"Eigentlich ist der Vater Rhein gar kein Vater, sondern ein Fluss." (Kurt Schwitters)
Kein anderer europäischer Fluss hat in der Vergangenheit eine solch intensive nationale Inanspruchnahme erfahren und eine vergleichbare Rolle in der politischen Propaganda gespielt wie der Rhein. Und kein anderer hat ein solch zahlreiches Echo in Werken verschiedenster Kunstgattungen gefunden. Klaus Honnef brachte letzteres auf die Formel der "enormen Karriere einer topographisch bestimmbaren Landschaft in der bildenden Kunst". Vor allem holländische und später britische Maler, unter ihnen William Turner, haben das "Bild" des Rheins maßgeblich geprägt. Enorm auch die Anzahl historischer Reisebeschreibungen verschiedenster Provenienz: mit Hölderlin, Karamsin, Schlegel, de Staël, Goethe, Byron, Shelley, Dumas, Hugo und Heine seien nur einige der bekanntesten Autoren genannt. Diese kleine und beliebig erweiterbare Aufzählung illustriert die weit ausstrahlende Faszination des Flusses. Maler und reisende Literaten sind Protagonisten eines Prozesses, der den Rhein innerhalb weniger Jahre zu einem der frühen Ziele des modernen Tourismus formt. An seinem Ende steht die weitreichende "Verwertung" des Flusses in Kitsch und Kommerz, die eng mit der Trivialisierung der Rheinromantik verknüpft ist. Politische Instrumentalisierung, künstlerische Reflexion und ökonomische Nutzbarmachung des Rheins gehen dabei nicht selten eine sehr komplexe Verbindung ein.
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Für die Nacktheit des verengten Rheinufers unterhalb Bingen erhält der Landschaftskenner keine Entschädigung. Die Hügel zu beiden Seiten haben nicht jene stolze, imposante Höhe, die den Beobachter mit einem mächtigen Eindruck verstummen heißt; ihre Einförmigkeit ermüdet endlich, und wenngleich die Spuren von künstlichem Anbau an ihrem jähen Gehänge zuweilen einen verwegenen Fleiß verraten, so erwecken sie doch immer auch die Vorstellung von kindischer Kleinfügigkeit. Das Gemäuer verfallener Ritterfesten ist eine prachtvolle Verzierung dieser Szene; allein es liegt im Geschmack ihrer Bauart eine gewisse Ähnlichkeit mit den verwitterten Felsspitzen, wobei man den so unentbehrlichen Kontrast der Formen sehr vermisst.
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Ja, mein Freund, der Rhein ist ein edler Fluss: aristokratisch, republikanisch, kaiserlich, würdig, sowohl Frankreich als auch Deutschland anzugehören.
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Wo heute noch der laute und wirre Jahrmarkt der Eitelkeiten tummelt, kann morgen der Garten der deutsch-französischen Freundschaft im Licht stehen. Nur hier.
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Geboren bin ich in Köln, wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird, in die totale Ebene hinein auf die Nebel der Nordsee zufließt.
Napoleon und der Rheinbund
Im Folgenden soll vor allem der "politische Rhein" im Zeitraum von circa 1790 bis 1930 interessieren – mit dem Mythos vom "deutschen Strom" sowie vom Rhein als "natürlicher Grenze Frankreichs". Die Expansion Frankreichs in die linksrheinischen Gebiete nach 1792 sieht die Region schlagartig mit den Gegebenheiten der neuen civilisation française konfrontiert. Im diesem Zusammenhang werden ältere Vorstellungen vom Rhein als natürlicher Grenze Frankreichs (frontière naturelle) wieder belebt. Diese These wird in den nächsten gut anderthalb Jahrhunderten mehrere Konjunkturen durchlaufen. Sie beruht auf der geopolitisch motivierten Figur des hexagone, d.h. eines von unabänderlichen natürlichen Grenzen umschriebenen Frankreichs. Abbé Grégoire etwa erklärt 1792: "Frankreich ist ein Ganzes, das sich selbst genügt, denn die Natur hat ihm überall Grenzen gegeben, die es ihm ersparen, sich auszudehnen, so dass unsere Interessen mit unseren Prinzipien übereinstimmen."
Dabei wächst dem Rhein die gleiche Bedeutung zu wie dem Ärmelkanal, dem Atlantik, den Pyrenäen, dem Mittelmeer und den Alpen. Danton äußert sich am 31. Januar 1793 wie folgt: "Frankreichs Grenzen werden von der Natur gezogen. Wir werden sie an ihren vier Endpunkten erreichen: dem Meer, dem Rhein, den Alpen und den Pyrenäen." Die Verknüpfung von Geografie und Geschichte lässt sich in Frankreich weit zurückverfolgen. Schon Jean Bodin hatte 1566 in seinem Werk Methodus ad facilem historiarum cognitionem den geografischen Grundlagen der Geschichte großen Wert zuerkannt. Während im Zeichen der Aufklärung der Verweis auf die Natur als große Lehrmeisterin den Diskurs dominiert, findet sich in wenigen älteren Äußerungen auch die Bezugnahme auf die Grenzen des antiken Gallien, die es für Frankreich wieder zu erreichen gelte.
In Verbindung mit der kurzlebigen Mainzer Republik (1793) greift Georg Forster, zu jenem Zeitpunkt noch vom zivilisatorischen Führungsanspruch Frankreichs überzeugter deutscher Jakobiner, die Idee der frontière naturelle auf: "Durch die Vereinigung mit uns erhaltet ihr, was euch von Rechtswegen gehört. Die Natur selbst hat gewollt, daß der Rhein die Gränze Frankreichs sein sollte, er war es in der That in den ersten Jahrhunderten des fränkischen Reichs."
Das napoleonische Frankreich selbst sollte es bei dieser frontière naturelle, zu deren Legitimation Forster zusätzlich die (hier frühmittelalterliche) Geschichte bemühte, jedoch nicht belassen. Nachdem zwischenzeitlich auch die Idee einer cisrhenanischen Republik im Raum stand, wurde in den Friedensschlüssen von Basel (1795), Campo Formio (1797) und Lunéville (1801) zunächst die Anbindung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich festgeschrieben. Die weitere Expansionspolitik führte schließlich 1806 zur Gründung des bezeichnenderweise Rheinbund (Confédération du Rhin) genannten Zusammenschlusses von anfangs 16 süd- und westdeutschen Fürsten, der unter dem Protektorat Napoleons I. der Beherrschung weiter Teile Deutschlands dienen sollte. Das Ende des Alten Reiches im gleichen Jahr bereitete aber zugleich den Boden für zahlreiche Reformen und verstärkte die aufkeimende patriotische Sammlung.
Der "deutsche Rhein"
Der deutsche Gegenentwurf zur frontière naturelle, die Konstruktion des Rheins als "Deutschlands Strom", verdankt sich diesen nationalen Gefühlen in gleichem Maß, wie sie sie befördert. Seine wohl bekannteste unter zahlreichen Formulierungen erfährt er auf dem Höhepunkt des antinapoleonischen Befreiungskampfes in Ernst Moritz Arndts Schrift Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze von 1813. In der Vision des auf Rügen geborenen Arndt wird der Rhein zum politischen, kulturellen und religiös-spirituellen Zentrum eines nicht zuletzt aus mittelalterlicher Größe schöpfenden Deutschlands. Seine Forderung nach einer Ablösung des deutschsprachigen Rheinlands von Frankreich begründet er vor allem auch mit der These: "Die einzige gültigste Naturgrenze macht die Sprache." Und jene Sprachgrenze verlaufe von Dünkirchen bis Basel.
Ähnlich hatte sich Schlegel, enttäuscht von seiner Frankreichreise, bereits 1803 geäußert, doch stand der Rhein bei ihm im Mittelpunkt einer auch europäisch orientierten Utopie:
"Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach, als am Rheine. Der Anblick diese königlichen Stromes muß jedes deutsche Herz mit Wehmut erfüllen […] Hier wäre der Ort, wo eine Welt zusammenkommen und von hieraus übersehen und gelenkt werden könnte, wenn nicht eine enge Barriere die sogenannte Hauptstadt umschränkte, sondern statt der unnatürlich natürlichen Grenze und der kläglich zerrißnen Einheit der Länder und Nationen, eine Kette von Burgen, Städten und Dörfern längst dem herrlichen Strome wiederum ein Ganzes und gleichsam eine größere Stadt bildeten, als würdigen Mittelpunkt eines glücklichen Weltteils."
Einen Weltteil im Sinne Schlegels zu beglücken, war jedoch nicht mehr Arndts Absicht. Ganze Zeitalter scheinen gar zwischen den Positionen Forsters bzw. Arndts zu liegen. Zwar sind sie in ungleichem Maße repräsentativ; sprach doch Forster zu einem spezifischen Zeitpunkt nur für eine kleine Zahl revolutionsbegeisterter Deutscher, wogegen Arndt einer weit verbreiteten national-patriotischen Stimmung Ausdruck verlieh.
Reformen am Rhein
Ungeachtet davon haben die Jahre der französischen Herrschaft am Rhein eine große Wirkung hinterlassen. Sie brachten den linksrheinischen Territorien nicht nur das Ende des althergebrachten staatlichen Partikularismus, sondern auch eine tief greifende Veränderung der "Landkarte der Gedankensysteme" (Lucien Febvre). Nach dem Frieden von Campo Formio, der die Neuorganisation der eroberten Gebiete in vier Departements nach sich zieht, werden en bloc die Gesetze veröffentlicht, die in Frankreich das Feudalregime und die Privilegien aufgehoben hatten. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gewerbefreiheit, später die Anerkennung des protestantischen (1802) und jüdischen Glaubens (1808) sollten für die weitere Entwicklung des Rheinlandes von größter Bedeutung sein. Gleiches gilt für die weit reichenden Infrastrukturmaßnahmen.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und Transformationen muss die Etablierung Preußens als Machtfaktor am Rhein im Ergebnis des Wiener Kongresses (1815) als entscheidende Zäsur bewertet werden. Preußen hatte eigentlich das Königreich Sachsen favorisiert, erhielt auf dem Kongress auf Vorschlag Talleyrands aber stattdessen das Rheinland und Westfalen. In der Folge sollten die zuvor im deutschen Maßstab wenig politisierten Regionen zum wichtigen Aktionsfeld eines deutschen Nationalismus preußischer Prägung werden, was sich auf die Bewertung des Rheins direkt auswirken musste. Zudem bildet die fast zeitgleiche Entdeckung der reichhaltigen Kohlereviere nicht nur die Basis für den Aufstieg der Rheinprovinz und Westfalens zur größten Industrieansiedlung Mitteleuropas. Sie verstärkt mit der ökonomischen Bedeutung des Rheins, der zu einer der wichtigsten Verkehrsadern der Welt wird, zusätzlich die politische.
Die patriotische Stimmung und Rhetorik der Befreiungskriege erleichterte den neuen Herrschern die Machtübernahme. Bei Heinrich von Treitschke – Vertreter der borussisch-deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Zeichen des Historismus – liest sich das neue Kräfteverhältnis am Rhein so:
"Wunderbarer Kreislauf der Geschicke! Von diesen schönen rheinischen Landen war vor einem Jahrtausend unsere Geschichte ausgegangen; jetzt fluthete der mächtige Strom des deutschen Lebens aus den jungen Colonistenlanden des Nordostens wieder nach Westen zurück in sein verschüttetes altes Bette."
Allerdings sollten antipreußische Ressentiments eine Konstante bleiben. Diese hatten einerseits politische Gründe, wie sie später etwa durch Heine oder Herwegh prominente Formulierung erfahren sollten. Zum anderen wurzelten sie in den Spezifika der regionalen Identität, vor allem in der kulturellen Nähe zu Frankreich sowie dem Katholizismus.
Die Rheinkrise und die bataille lyrique
Nachdem Frankreich im Pariser Frieden von 1815 auf das Rheinland verzichtet hatte, lebten die deutsch-französischen Auseinandersetzungen um den Rhein 1840 in aller Heftigkeit wieder auf. Hintergrund war die so genannte Orientkrise (deren Details hier nicht interessieren sollen), die Frankreich eine bittere außenpolitische Niederlage beschert hatte. Als Kompensation und Interessenausgleich im Selbstverständnis der grande nation forderten Politiker und breite Teile der Öffentlichkeit die Reaktivierung der Pläne zur Rückgewinnung des Rheinlandes. Militärische Vorbereitungen wurden getroffen, die Presse verbreitete die bekannte These der frontière naturelle. Fast zeitgleich wurden die Gebeine Napoleons von St. Helena in das Pariser Panthéon überführt, die damit verbundenen Erinnerungen an eine große Vergangenheit heizten die Stimmung zusätzlich an. Die Situation in der Rheinkriese entspannte sich erst mit der Entlassung des kriegsbereiten Ministerpräsidenten Thiers durch Louis Philippe.
Es blieb letztlich bei einer bataille lyrique, deren bekannteste Hervorbringungen verdeutlichen, mit wie viel Emotionalität und welch mythisch geprägtem Vokabular auf beiden Seiten operiert wurde. Eine im jeweiligen nationalen Selbstverständnis interpretierte Geschichte dient dabei der Legitimierung der konkurrierenden Ansprüche.
Als epochemachend ist Nikolaus Beckers Lied Der freie Rhein zu bezeichnen. Nachdem es im Oktober 1840 in der Kölnischen Zeitung, versehen mit einer Widmung an den französischen Schriftsteller Alphonse de Lamartine, zum zweiten Mal veröffentlicht wurde, löste es in Deutschland wie im Nachbarland heftige Reaktionen aus.
"Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein,/ Ob sie wie gierige Raben/ Sich heiser danach schrein./Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein,/ Bis seine Flut begraben/ Des letzten Manns Gebein!"
Nicht weniger bekannt wurde Max Schneckenburgers Lied Die Wacht am Rhein, das – wie bereits die ersten beiden Strophen verdeutlichen – mit rhetorischem Säbelgerassel gleichfalls nicht spart:
"Es braust ein Ruf wie Donnerhall,/ Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:/ Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!/ Wer will des Stromes Hüter sein?/ Lieb Vaterland, magst ruhig sein;/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!//
Durch Hundertausend zuckt es schnell,/ Und aller Augen blitzen hell:/ Der deutsche Jüngling, fromm und stark,/ Beschirmt die heilge Landesmark./ Lieb Vaterland, magst ruhig sein;/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"
Lamartine selbst reagierte im Mai 1841 mit seiner unter direktem Bezug auf Becker verfassten Marseillaise de la Paix in versöhnlicher Weise. Das kann im Vergleich zu den polemischen Ausfällen von deutscher Seite überhaupt für die Mehrzahl der französischen Schriftsteller gelten. Selbst Alfred Musset, für sein Gedicht Le Rhin allemand als Verteidiger nationaler Rechte gefeiert, schlägt wenigstens am Ende desselben einen moderateren Ton an:
"Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein./ In unsrem Glas sahn wir ihn funkeln./ Mit eures Schlagers Prahlerein/ Wollt ihr die stolze Spur verdunkeln,/ Die unser Rosse Huf grub euch ins Blut hinein?"
"Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein./ Wo waren die Germanensitten,/ Als über eure Ländereien/ Des mächtgen Kaisers Schatten glitten?/ Wo denn liegt eingesargt des letzten Manns Gebein?"
"Laßt friedlich fließen euren deutschen Rhein;/ Er spiegele geruhsam wider/ Der Dome gotisches Gestein;/ Doch hütet euch, durch trunkne Lieder/ Von ihren blutigen Schlaf die Toten zu befrein."
In offensichtlicher Verkennung der mythischen Qualitäten des Stromes empfahl Edgar Quinet in einem La Teutomanie überschriebenen Zeitungsartikel den Deutschen, sich als Entschädigung für den Rhein und zur Eindämmung russischer Ambitionen besser an der Donau zu positionieren.
Arndts Vision des "deutschen Stromes" wurde mit der Reichsgründung 1871 scheinbar Wirklichkeit. Mit der Angliederung Elsass-Lothringens in der Folge des deutsch-französischen Krieges geriet nun fast der gesamte Rhein, erweitert auf den Abschnitt von Basel bis Emmerich, unter deutsche Kontrolle. Vom Selbstverständnis des Deutschen Reiches, das in nicht geringem Maß auch auf der nun nahezu vollständigen Herrschaft über den Rhein basierte, legt das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am "Deutschen Eck", dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel bei Koblenz, beredtes Zeugnis ab. Glied einer Kette zahlreicher, innerhalb weniger Jahre entstehender Nationaldenkmäler, wird es vom in Richtung des "Erbfeindes" reitenden Hohenzollern Wilhelm I. gekrönt. Einen "Faustschlag aus Stein" nannte es Tucholsky ob seiner politischen Aussage und mangelnden künstlerischen Qualität.
Rheinlandbesetzung und Jahrtausendfeiern
Auf französischer Seite gehörte mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs neben der Repatriierung Elsaß-Lothringens auch die Rheingrenze zum Kanon der Kriegsziele. Neben strategischen und ökonomischen Gründen spielte das historische Argument der frontière naturelle eine mehr als rhetorische Rolle, dient es doch der Konstruktion französischer Rechtsansprüche auf das linke Rheinufer und wurde dadurch zum „juristischen“ Argument. Zur Annexion der Rheinlande sollte es jedoch nicht kommen. Die Franzosen, obgleich zu den Siegern des Krieges gehörend, konnten ihre Gebietsforderungen über die Wiedergewinnung Elsass-Lothringens hinaus nicht durchsetzen und mussten einer befristeten interalliierten Besetzung der Rheinlande im Frieden von Versailles zustimmen. Da diplomatische Interventionen wenig Erfolg versprechend erschienen, versuchte Frankreich zwischen 1919 und 1930 die rheinische Bevölkerung auf dem Umweg einer geeigneten Besatzungspolitik für seine Pläne zu gewinnen. Die Instrumentalisierung historiographischen Wissens spielte dabei eine bedeutende Rolle.
Die französische propagande historique rief einen medialen "Abwehrkampf" auf deutscher Seite hervor, als dessen Höhepunkt die "Jahrtausendfeier" des Jahres 1925 zu sehen ist. Im Rückgriff auf ein eher unbedeutendes und historisch umstrittenes Datum (die Inkorporation Lotharingiens in das Ostfrankenreich 925) wurden in ihr die Zugehörigkeit zu Deutschland und die Zurückweisung des französischen Annexionsgestus eindrucksvoll manifestiert. Im Kontext dieses propagandistischen Kampfes um den Rhein entstand 1927 die eingangs bereits kurz zitierte Satire Vater Rhein von Kurt Schwitters, in der er auf großartige Weise die (pseudo-)historischen Argumentationen ad absurdum führt:
"Übrigens ist der Vater Rhein Deutschlands Strom und nicht Deutschlands Grenze, das können sie schon auf jeder Landkarte finden. Ein Vater kann schlecht eine Grenze sein, dann eher schon ein Strom. Ich bin ja selbst Vater gewesen."
Am Beispiel des Rheins wird deutlich, wie "Landschaften" zum Objekt konkurrierender Inanspruchnahme und Mythenbildung werden können. Ebenso, dass Grenzziehungen mehr sind als politische oder militärische Akte. Oder, um es sinngemäß mit Lucien Febvre zu sagen: verschiedenartige kulturelle Bezugs- und Verweissysteme, abweichende Zusammenhänge von Ideen, Gefühlen und Begeisterungen sowie erregte Leidenschaften bis hin zum Hass markieren Grenzen in nicht geringerem Maß.
Chronologie
1792: Napoleon rückt ans linke Ufer des Rheins vor. Es entstehen die Departements du Mont Tonnere, de Rhin et Moselle und de la Roer.
1793: Unter dem Einfluss der französischen Revolution wird die Mainzer Republik gegründet.
1806: Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bildet Napoleon den Rheinbund.
1813: Ernst Moritz Arndt veröffentlicht seine Kampfschrift Der Rhein. Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Die deutschen Befreiungskriege beenden den Rheinbund.
1815: Auf dem Wiener Kongress verliert Frankreich die linksrheinischen Gebiete, behält aber das Elsass. Das Rheinland kommt zu Preußen.
1840: Während der Rheinkrise beansprucht Frankreich den Rhein als natürliche Grenze. Es beginnt die Propagandaschlacht um den Rhein.
1871: Im deutsch-französischen Krieg besetzt das Deutsche Reich das Elsass und Lothringen.
1918: Im Waffenstillstand vom 11. November wird die Demilitarisierung des Rheinlandes festgelegt.
1919: Der Versailler Vertrag regelt eine "Friedensbesetzung" des Rheinlands.
1925: Antifranzösische so genannte Jahrtausendfeiern im Rheinland anlässlich des 1.000sten Jahrestags der Einverleibung des mittelfränkischen Lotharingen in das ostfränkische Reich Heinrichs I.
1930: Am 30. Juni beenden die französischen und belgischen Truppen die Rheinlandbesetzung.
1936: Hitler marschiert ins entmilitarisierte Rheinland ein.
Dirk Suckow ist Historiker an der Universität Trier. Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Suckow an der Europa-Universität Viadrina hielt. Wir danken dem Peter Lang Verlag für die Abdruckrechte.
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