In Belarus nennen wir die Memel den Vater der Flüsse. Gleich zweimal verbindet uns dieser Fluss mit Europa – historisch und geografisch. Daran konnte weder die sowjetische Herrschaft etwas ändern noch die des Alexander Lukaschenko.
Wenn Belarus etwas im Überfluss hat, ist es Wasser. Keine spektakulären Ströme wie den Amazonas oder die Wolga, aber unzählige Teiche, Bäche, Seen – und natürlich Flüsse. So viel Wasser ist nicht nur das Erbe der Eiszeit, an das uns bis heute Steine auf den Feldern und die Hügelketten im Norden und Westen erinnern. Auch das Klima hält das Land feucht. Man spürt die Nähe des Baltikums – schon aus diesem Grund hat das Land das Recht, sich baltisch zu nennen.
Der klimatischen Zwischenlage entspricht auch die geopolitische Situation des Landes. Der Wechsel zwischen den westlichen und den immer wieder eindringenden östlichen Winden prägt ein mildes und feuchtes Wetter; das Ringen zwischen den Ansprüchen Moskaus und der Opposition, die das Land näher an den Westen bringen will, bestimmt die gesellschaftliche Atmosphäre.
Gleiches gilt für die großen Flüsse in Belarus. Der Dnepr und der Prypjat strömen dem Osten und Süden entgegen. Der Njoman aber, wie die Memel in Belarus heißt, verlässt das Land west- und nordwärts, Richtung Europa. Er ist der Vater des Landes, sagt die belarusische klassische Literatur.
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Niemen, mein Heimatstrom! Wo sind die Wogen? Mit ihnen so viel Glück und sel’ges Wähnen Wohin ist meiner Kindheit Lust verflogen?
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Die Dzimken, die Flößer, die mit den Hölzern stromab aus Russland kommen, sitzen in ihren langen, grauen Hemden auf der Floßkante und baden sich die Füße. Hinter ihnen rauchen die Kessel zum Frühstücksbrot.
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Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben in Nordafrika zu sein.
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Aus der Finsternis kommst du, mein Strom, aus den Wolken. Wege fallen dir zu und die Flüsse, Jura und Mitwa, jung, aus Wäldern, und lehmschwer, Szeszupe.
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Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmsee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit.
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Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen.
Ein Fluss aus dem Nirgendwo
Nicht alle Belarussen wissen, wo die Quelle der Memel liegt. Das ist die Hinterlassenschaft der sowjetischen Bildungspolitik. Die geografische Kenntnis Russlands war wichtiger als die des eigenen Landes. Aber auch diese Geografie wurde in Sowjetzeiten unkenntlich gemacht.
Die Quelle befand sich südlich von Minsk in Bezirk Uzda auf mehr als 200 Metern Höhe über dem Meeresspiegel – das ist nicht wenig im ansonsten flachen Belarus. Dort, wo die beiden Quellflüsse Njomanec und Loscha zusammenflossen, begann der Njoman, die Memel. Diese Quelle gibt es heute nicht mehr. Der Grund ist die Trockenlegung des Gebiets, mit dem die Sowjetmacht das Land in die Moderne führen wollte. Im Grunde waren die Pläne nicht falsch. Noch vor hundert Jahren war Belarus ein Land der Sümpfe. Im Frühjahr, wenn das Hochwasser kam, waren viele Dörfer vom Rest des Landes abgeschnitten. Um diese Isolation zu überwinden, Krankheiten zu bekämpfen, die Landwirtschaft zu fördern und mit der Industrialisierung zu beginnen, begann die kommunistische Regierung mit der Politik einer radikalen, manchmal aber auch rücksichtslosen Melioration.
Das Ergebnis: Als die Sowjetunion zusammenbrach, gab es in Belarus so gut wie keine Sümpfe mehr. Man hatte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Ein Opfer dieser Politik war auch die Quelle der Memel. Dort, wo einst der Fluss entsprang, der Belarus mit dem Westen verbindet, verlaufen heute Gräben und Kanäle. Der Quellstein wurde gesprengt, ein anderer wurde neu und an anderer Stelle gesetzt. Mit der tatsächlichen Quelle hat er nichts zu tun.
Als das Land in den neunziger Jahren seine Unabhängigkeit feierte, schlugen Wissenschaftler vor, die ehemalige Quelle der Memel wiederherzustellen. Aus einem Bohrloch sollte das Wasser aus 15 bis 20 Meter Tiefe in ein künstliches Becken gebracht werden, von dem zwei parallele Kanäle – ähnlich dem Njomaniec und der Loscha – ausgehen sollten. Sie sollten bis zu der Stelle fließen, an der einst beide Quellflüsse sich zur Memel vereinigten. Dieser Ort liegt etwa 50 Kilometer von Minsk entfernt und hätte gute Chancen gehabt, sich zu einer touristischen Sehenswürdigkeit zu entwickeln.
Es ist bemerkenswert, dass die Regierung für eine solche Idee kein Geld hatte. Doch inzwischen hatte sich der Wind in Belarus einmal mehr gedreht. Als Alexander Lukaschenko 1995 ins Präsidentenamt gewählt wurde, standen nicht mehr die Unabhängigkeit und die nationale belarussische Kultur im Vordergrund, sondern einmal mehr das sowjetische Erbe. So wie er die belarussische Sprache verhöhnte und Russisch zur zweiten Amtssprache machte, erging es auch der Idee mit der Wiederbelebung der Quelle. Sie war angeblich zu "nationalistisch", um von der Regierung gefördert zu werden. Stattdessen baute Minsk eine mythische "Stalin-Verteidigungslinie" auf und veranstaltete eine pompöse Parade zu Ehren des sowjetischen Sieges im Mai 1945.
Wer ist hier der "Andere"?
Die Memel ist dezent wie das Land selbst – ein Fluss der Ebene. Den Mythos des Vaters der Nation hat ihr die Literatur verschafft. Dabei entstand sogar eine Art sakraler belarusischer Geografie. "Es strömt unter dem heiligen Berg unser Vater Njoman“, schrieb etwa der Dichter Jurka Vicbicz. Eine "Wacht an der Memel" haben die Belarussen allerdings nie gehabt – auch deshalb, weil der Fluss bei ihnen keine Grenze war. So wirft die Memel auch die Frage des Zusammenlebens der Völker auf. Waren Belarussen, Litauer, Polen, Deutsche und Juden vor hundert Jahren tatsächlich "Andere" füreinander? Oder waren sie einfach nur "Verschiedene", die allesamt an den Ufern des Flusses zuhause waren?
Die Belarussen selbst waren verschieden. Für das Volk an den Ufern der Memel war jede Definition zu eng. Ihre Kultur kennt nicht weniger als fünf Religionen, vier Sprachen, drei Schriften, zwei Seelen (ein immer wiederkehrendes Motiv der belarussischen intellektuellen Diskussionen seit Maxim Harecki), und nur dieser Fluss konnte für sich eine einzigartige Stellung beanspruchen.
Die Belarusen hatten natürlich auch eigene Ansprüche auf die Memel. Das Einzugsgebiet des Flusses war der Gründungsort des Großfürstentums Litauen – eines mittelalterlichen Staates, der zahlreiche Länder vereinigte, aus denen später Belarus wurde. So ließ der Fluss die belarussische Kultur zur Blüte kommen. Es war die Memel, die diese Länder und Stämme zusammenbrachte. Eine radikale Abgrenzung der eigenen Nation zu den Nachbarn forderten nur wenige. Zu vieles wäre dabei verloren gehen – zum Beispiel Adam Mickiewicz. Der Dichter wurde in Belarus geboren und begann sein Versepos Pan Tadeusz mit den Zeilen "Litauen, du mein Vaterland".
Heimatfluss Memel
Mickiewicz ist heute als polnischer Nationaldichter bekannt. Er selbst sah die Sache, wie es damals üblich war, weniger eng. Politisch bezeichnete er sich als Pole, doch Warschau war im fremd. Seine Heimat lag an den Ufern der Memel, und er war stolz auf seine litauische Abstammung. Litauisch nicht im Sinne der heutigen Republik Litauen, sondern im Sinne der historischen Region, des Großfürstentums, das vor allem im heutigen Belarus lag. Ein Widerspruch war das nicht. Die Verflechtung der belarussischen, polnischen und litauischen Identitäten, der slawischen und baltischen Kulturen, blieb bis zum Ersten Weltkrieg etwas ganz normales.
Adam Mickiewicz besang die Memel, wie vielleicht sonst niemand, in mehreren Werken und in zweien seiner litauischen Poeme – Grażyna und Konrad Wallenrod. Natürlich haben die Belarussen später den Ruhm Mickiewiczs und das Licht, das er auf die Memel warf, für sich in Anspruch genommen. Sein Sonnett "An die Memel" wurde mindestens elfmal ins Belarussische übertragen, mehrere Übersetzungen stammten von den wichtigsten Autoren der belarussischen Literatur. Kein Wunder, denn schon am Anfang des Gedichts ruft Mickiewicz "Memel, mein Heimatfluss!"
Der Drang nach Westen
Doch nicht nur mit der Geschichte verbindet die Memel das Land, sondern auch mit dem Westen. Gerade für ein Binnenland wie Belarus, das ähnlich wie die Schweiz oder Böhmen keinen Zugang zum Meer hatte oder hat, sind die Wasserwege eine Nabelschnur zur Welt. In Belarus verbinden sie das Land über den Prypjat und den Dnepr mit dem Schwarzen Meer. Die Memel dagegen verbindet uns mit der Ostsee. Das ist nicht nur eine geografische Tatsache, sondern auch eine historische.
Schon im 19. Jahrhundert war die Memel eine "Kontaktzone" zwischen Belarus und Ostpreußen. Das beste Holz für den Schiffbau kam aus den belarussischen Wäldern und wurde in Ostpreußen umgeschlagen – manchmal fand es seinen Weg sogar bis ins britische Empire. Auch deshalb ist die Memel im Vergleich zum Dnepr im weitesten Sinne ein europäischer Fluss.
Eine andere Strecke Richtung Westen nahm der Augustow-Kanal. Dort ging das Holz von der Memel Richtung Weichsel und dann nach Warschau oder Danzig – auch das eine Kontaktzone mit Europa. Nicht nur Belarussen trieben diesen Handel, sondern auch jüdischen Kaufleute, die die meisten Schiffe an der Memel besaßen. Als Ostpreußen nach dem Krieg unterging, hatte Belarus seinen wichtigsten Handelspartner verloren – und die Memel ihre Funktion als kommunikativer und wirtschaftlicher Raum.
Urwälder an der Memel. Grabmäler der Imperien
Mehr als Drittel der Fläche von Belarus ist bis heute bewaldet. Die großen Wälder nennt man pustscha. Am berühmtesten ist die Belaweschskaja Pustscha, ein Urwald im Süden des Memellaufes. Doch nicht nur für die Natur hat dieser Urwald eine Bedeutung, sondern auch für die Geschichte. Im Dezember 1991 haben die Staatshäupter von Belarus, der Russischen Föderation und der Ukraine dort die Auflösung der Sowjetunion beschlossen. Die Sache war heikel – deswegen trafen sie sich im Dschungel.
Auch die Memel hat ihre Pustschas, und auch dort wurde immer wieder über das Schicksal des Landes entschieden. Zu nennen sind die Pustscha nördlich von Grodno, die Nalibockaja Pustscha an der oberen Memel oder die Lipitschanskaja Pustscha im Gebiet zwischen der Memel und der Schtschara. All diese Urwälder sind sehenswerte Überreste der mitteleuropäischen Taiga, aber auch die Rückzugsorte der Partisanen gewesen – im Zweiten Weltkrieg und danach.
Zuerst kämpften nationale polnische und belarussische kommunistische Partisanen gegen die deutsche Besatzung. Später, nach der Rückkehr der Sowjets, waren es die antikommunistischen Kämpfer der polnischen Heimatarmee. Das undurchdringliche Gebiet der Memel zwischen den Staatsgrenzen Polens und der belarussischen und litauischen Grenze ermöglichte es den Partisanen, ihren Kampf bis in die fünfziger Jahre fortzusetzen.
In der Pustscha haben auch mehrere Hundert Juden überlebt. Sie waren aus den Ghettos in die Wälder geflüchtet und haben eigene bewaffnete Formationen aufgebaut. Auch Hollywood hat diese Geschichte – wenn auch nicht ganz korrekt – in dem 2008 erschienenen Film Defiance erzählt.
Andere Aktivitäten waren weniger politisch oder existentiell, sondern schlicht illegal. In den pustschas wurden riesige Brennereien errichtet, in denen der berühmte Waldschnaps hergestellt wurde. Die pustschanskaja samahonka hat in gewisser Weise auch zur Auflösung der Sowjetmacht beigetragen – insbesondere in der Zeit des "trockenen Gesetzes", also der Prohibition in den 1980er Jahren. Heute stehen alle Urwälder des Njoman unter Naturschutz.
Ober Ost und Hindenburg aus belarussischer Sicht
Nicht erst im Zweiten Weltkrieg waren die Deutschen an die mittlere und obere Memel gekommen. Bereits im Ersten Weltkrieg stand das Einzugsgebiet der gesamten Memel unter deutscher Besatzung. Haben die Belarussen mit den Besatzern kollaboriert? Sowjetische Historiker jedenfalls warfen der ersten Belarussischen Volksrepublik (BNR) vor, dass sie 1918 mit deutscher Unterstützung ausgerufen wurde. Dafür gibt es zwar keine Beweise, allerdings hat die deutsche Politik tatsächlich eine positive Rolle bei der Befreiung der Völker im Westen des Russischen Reiches gespielt. Das hatte auch mit der Politik der deutschen Militärverwaltung im Gebiet Ober Ost zu tun – der Region entlang der oberen Memel.
Ober Ost wird bis heute als militärischer Besatzungsstaat betrachtet. Doch das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Die Politik von Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff oder Leopold von Bayern war nicht immer willkürlich, sondern suchte nach rationalen Wege zur Anerkennung von Minderheitenrechten in Ober Ost. Rechte, die die Minderheiten unter der russischen Verwaltung zuvor nicht hatten. Auch sollte man nicht vergessen, dass das deutsche Regime auch begrüßt wurde, weil die russischen Kosaken bei ihrem Rückzug oft nur "verbrannte Erde" zurückgelassen hatten.
So aber hatten die Belarussen von 1915-1919 neue Freiheiten. Sie konnten ihre Organisationen aufbauen und erstmals in der Schule auf belarussisch unterrichten. Wäre dies nicht der Fall gewesen, würde es Belarus heute als unabhängigen Staat vielleicht nicht geben. Denn es waren Belarussen in den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten, die 1920 eine wichtige Rolle beim Versuch spielten, einen unabhängigen nichtkommunistischen Staat zu errichten.
Auch für das deutsche Bild der Memel war die Zeit von Ober Ost wichtig. Durch zahlreiche Postkarten an die Verwandten zuhause erfuhren die Deutschen, dass es eine Memel nicht nur in Ostpreußen gab, sondern auch in Kaunas und Grodno.
Das verlorene Deutschland der Belarussen
Die Mündung der Memel in Ostpreußen war lange Zeit ein Reiseziel vieler Belarussen. Dort kamen sie mit der westlichen Zivilisation in Berührung. Nicht nur für die Deutschen war der Untergang Ostpreußens 1945 deshalb ein Verlust, sondern auch für viele Belarussen. Man verlor einen Nachbarn – Deutschland – und man verlor die Tür und das Fenster in den Westen. Diese Nachbarschaft ist heute in Vergessenheit geraten. Mit dem Kaliningrader Gebiet hatte man nichts mehr zu tun.
Auch deshalb, weil bei der Teilung Ostpreußens die Belarussen leer ausgingen. Zwar hoffte die Regierung der belarussischen Sowjetrepublik in Minsk auf einen Zugang zum Meer. Doch Ostpreußen teilten sich Russen, Litauer und Polen alleine auf. Als im litauischen Kaunas nach dem Krieg ein Wasserkraftwerk gebaut wurde, kam sogar die Schifffahrt zum Erliegen.
Doch was der Mensch kaputt macht, kann er auch wiedergutmachen. Vor wenigen Jahren ließ die Regierung ins Minsk endlich den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Augustow-Kanal zwischen der Memel und der Weichsel instandsetzen. Auch auf der polnischen Seite wurde der Kanal wieder in Schuss gebracht. So ist Belarus auch dort wieder mit Europa verbunden. Mit einem Europa, das es trotz aller Katastrophen und Ideologien immer geprägt hat.
Chronologie
1915-1919: Im Ersten Weltkrieg gehörte der mittlere und obere Lauf der Memel zum Gebiet Ober Ost von Ludendorff.
1918: Belarussische Patrioten rufen eine unabhängige, belarussische Republik aus. Vorbild wird Polen und die baltischen Staaten, die ebenfalls unabhängig werden.
1920/21: Während des polnisch-sowjetischen Krieges besetzt Polen den westlichen Teil von Belarus. Der Osten wurde Teil der Sowjetunion.
1950er Jahre: Melioration des Quellgebietes der Memel.
1991: Ende der Sowjetunion. Belarus wird unabhängig.
1995: Belarus wird von Alexander Lukaschenko regiert. Russisch wird zweite Amtssprache.
Siarhei Bohdan lebt als Journalist der oppositionellen Zeitschrift Nascha Niwa in Minsk.
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