Seit 1991 bildet die Memel die Grenze zwischen dem Kaliningrader Gebiet und dem unabhängigen Litauen. Doch im Gegensatz zu den Litauern bleibt der Fluss vielen Russen fremd. Das hat auch mit einer Geschichtspolitik zu tun, die das kulturelle Erbe Ostpreußens lange Zeit ignoriert hat.
Spricht man von der Wolga, weiß in Russland jeder, um was es geht. Europas größter Strom ist ein nationaler Mythos. Manchen gilt er, nach der Schlacht um Stalingrad, als russischer Schicksalsstrom. Anderen ist er das "russische Mütterchen Wolga". Wie mythisch aufgeladen die Wolga ist, zeigt sich schon an der Quelle in Wolgowerchowje, 450 Kilometer nordwestlich von Moskau. Jedes Jahr im Mai pilgern Hunderte von Gläubigen in das Dorf, um die geistliche Segnung der Wolgaquelle zu erleben. Ganz anders die Memel, obwohl diese im Grunde auch ein Schicksalsstrom der Russen geworden ist. Zweieinhalb Jahre nach der Schlacht von Stalingrad, das heute Wolgograd heißt, wurde das nördliche Ostpreußen russisch, und aus der Memel, seit Hoffmann von Fallersleben bekannt aus der ersten Strophe des Deutschlandslieds, wurde im Kaliningrader Gebiet der Neman.
Doch das war es dann auch schon. Kaum ein Russe kann sagen, wo die Quelle der Memel liegt, kein Lied besingt das "Mütterchen Neman", keine Ausflugsdampfer verkehren auf dem Unterlauf des Stroms, der hier die Grenze zu Litauen bildet. Russland und die Memel, das ist seit 1945 die Geschichte eines weißen Flecks im kollektiven Erinnern.
Doch woher kommt dieses Fremdeln? Schließlich ist in Kaliningrad doch auch wieder von Königsberg die Rede und in Sowjetsk von Tilsit. Nur der Fluss, der gehört nicht dazu zur Suche nach dem kulturellen Erbe einer Region, die 1945 vermeintlich bei Null anfing. Liegt es an der Vergangenheit der Memel, die nie russisch war, dafür aber deutsch, litauisch, belarussisch, polnisch und jüdisch? Lieben die Russen nur die Ströme, die ihnen russisch genug sind? Oder wird die Memel deshalb ignoriert, weil sie die Grenze zu Litauen bildet und damit, aus der Perspektive Kaliningrads, die unbedeutende Peripherie des Gebiets?
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Niemen, mein Heimatstrom! Wo sind die Wogen? Mit ihnen so viel Glück und sel’ges Wähnen Wohin ist meiner Kindheit Lust verflogen?
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Die Dzimken, die Flößer, die mit den Hölzern stromab aus Russland kommen, sitzen in ihren langen, grauen Hemden auf der Floßkante und baden sich die Füße. Hinter ihnen rauchen die Kessel zum Frühstücksbrot.
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Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben in Nordafrika zu sein.
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Aus der Finsternis kommst du, mein Strom, aus den Wolken. Wege fallen dir zu und die Flüsse, Jura und Mitwa, jung, aus Wäldern, und lehmschwer, Szeszupe.
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Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmsee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit.
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Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen.
Die "Stunde Null"
Als die Rote Armee Otto Lasch, den Kommandanten der Festung Königsberg, am 9. April 1945 zur Kapitulation zwang, lag kein Fahrplan vor für die Eingliederung der Stadt in die Sowjetunion. Auch Stalin war sich nicht sicher, ob ihm Königsberg, im offiziellen sowjetischen Sprachgebrauch die "Wiege des preußischen Militarismus", langfristig nutzen oder eher schaden würde. 1.275 Kilometer war die Stadt am Pregel von Moskau entfernt, dazwischen lag Litauen, wo sich Partisanen zu Tausenden gegen das Sowjetregime wehrten. Anders als über Schlesien, wo es in Breslau einen ähnlichen Bevölkerungstausch wie in Königsberg gab, war über Ostpreußen erst am 2. August 1945 auf der Potsdamer Konferenz entschieden worden.
Kurz darauf wurde klar, dass Stalin an Königsberg eher ein strategisches denn ein wirtschaftliches Interesse hatte. Statt es als Oblast in die Sowjetunion einzugliedern, machte er aus dem nördlichen Ostpreußen zunächst ein Sperrgebiet und einen Sondermilitärbezirk. Die Botschaft war deutlich: Die sowjetische Militärbasis an der Ostsee sollte den Nachbarn in Litauen und Polen eine Mahnung sein, nicht von der Sowjetunion respektive dem Bündnis der kommunistischen Satellitenstaaten abzufallen.
Auch nach der Umbenennung des Gebiets in Kaliningradskaja Oblast am 4. Juli 1946 verlief die Entwicklung alles andere als reibungslos. Zwar war Kaliningrad nun Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), und die Uhren am Hauptbahnhof zeigten die Moskauer Zeit an. Für die sowjetische Hauptstadt aber blieb Kaliningrad Ausland und, wie es Per Brodersen in seiner Studie Die Stadt im Westen formulierte, "ein ungeliebtes Kind. Viel Aufmerksamkeit brachte ihm Moskau nicht entgegen."
Das ist womöglich untertrieben. Wie unscharf selbst die geografische Kenntnis des Gebiets aus der Perspektive Moskaus war, zeigen die damaligen Verkehrsplanungen. In dem "Schema von Autotransportstraßen des Gebiets Kaliningrad", das Verkehrsplaner 1947 in Moskau veröffentlichten, wird die Moskauer Kriegsbeute im Norden zwar richtigerweise von der Memel begrenzt. Am andern Ufer aber zeichneten die Planer nicht die Litauische, sondern die Lettische SSR ein.
Das war nicht der einzige Fehler. Anstelle von Sowjetsk, der Grenzstadt an der Memel, ist im Transportschema Tilsit verzeichnet. Sowjetsk befindet sich auf der Karte einige Kilometer weiter östlich, an der Stelle von Ragnit, das von den Sowjets, wie der Fluss, in Neman umbenannt worden war. Mithin existierte Tilsit weiter, wenn auch nur auf der Karte. Das Chaos war so groß, dass sich die neuen Bewohner des Gebiets noch 1948 in der Kaliningradskaja Prawda darüber beschwerten, dass an den Verkaufsstellen für Eisenbahnfahrtkarten "bis heute die alten Ortsnamen benutzt werden. (…) Die Fahrgäste geraten in vollkommene Verwirrung, wenn sie erfahren, dass es die Städte Sowjetsk, Pollesk oder Bolschakowo nicht im Fahrplan gibt."
Ohnehin standen nicht die Siedler im Mittelpunkt der Sowjetpolitik, sondern die Ausbeutung der Region. Industriebetriebe wurden demontiert, Drainagerohre herausgerissen, die wichtigsten Wertgegenstände gingen nach Moskau, unter ihnen, natürlich, tonnenweise Ziegel.
In einer Zeit, in der die Deutschen das ehemalige Ostpreußen noch nicht vollständig verlassen hatten, waren sich die zuständigen Stellen nicht sicher, ob und wie lange Russland das Kaliningrader Gebiet behalten würde. Also baute man lieber ab als auf. So offensichtlich war die Plünderung, dass sich der kommissarische Gebietsparteichef Pëtr Iwanow in einem Brief an Stalin persönlich wandte. Darin hieß es: "Stellvertreter verschiedener Ministerien und Dienststellen im Gebiet betrachten Ostpreußen als besetztes Gebiet, demontieren Ausrüstung, transportieren wertvolle Materialien aus Betrieben ab", während die örtliche Führung "der Bevölkerung und den Angehörigen der Sowjetarmee nicht erklärte, dass das Gebiet Kaliningrad ein sowjetisches Gebiet ist und dass alle Betriebe, Einrichtungen, materiellen Wertgegenstände als sozialistisches Eigentum, als Besitz des sowjetischen Staats gelten".
Als Moskau daraufhin eine Kommission nach Kaliningrad schickte, die kurze Zeit später die Gebietsverwaltung für die Missstände verantwortlich machte, verübte Pëtr Iwanow Selbstmord.
Zukunft statt Vergangenheit
So wenig interessiert Moskau an der wirtschaftlichen Entwicklung seiner Beute war – seine Geschichtspolitik trieb es konsequent voran. Im Grunde war es eine Politik der Geschichtslosigkeit. Nichts sollte mehr an die ostpreußische Vergangenheit erinnern – und wie immer im Augenblick solcher Zäsuren traf es die Orts- und Straßennamen als erste.
Doch das war schwieriger als gedacht. Im Gegensatz zu Schlesien, wo die polnischen Geografen und Historiker auf alte polnische Ortsnamen und Flurbezeichnungen zurückgreifen konnten, war Ostpreußen nie russisch gewesen. Wie also sollte man Königsberg, Tilsit und Ragnit nennen?
Und wie die Memel und ihre Mündungsströme Ruß und Gilge? Sollte man die Namen einfach ins Russische übertragen oder ihnen russische Endungen anfügen? Oder war es besser, ganz neue Namen zu finden, um die deutsche Vergangenheit ein für allemal auszumerzen und 1945 als Stunde Null zu etablieren – und damit als eigentlichen Beginn der nun sowjetischen Geschichte?
Erstaunlicherweise gaben die sowjetischen Behörden diese Fragen zunächst an die Neusiedler weiter, deren Zahl im Jahr 1946 auf knapp 50.000 gestiegen war. Auf zahlreichen Versammlungen sollten sie die Namensfrage beraten. Das Votum war eindeutig. Um eine Brücke zwischen ihrer alten und der nunmehr neuen Heimat zu schaffen, sprachen sich die meisten für Ortsnamen aus ihrer Herkunftsregion aus. Das zeigte, schlussfolgert Per Brodersen, "wie stark die Bindung der Übersiedler an ihren alten Wohnort geblieben war – zu Kaliningrad hatten sie keinen Bezug."
Ende 1946 schließlich schickten die Kaliningrader Stellen eine erste Liste mit Vorschlägen nach Moskau. Diese enthielt sowohl Namen, die an die Herkunftsorte erinnerten, als auch Namen sowjetischer Herkunft wie Komsomolskij, Uljanowo oder Oktoabrskoe. Wer es gern historisch wollte, bediente sich bei Puschkin oder dem General des Vaterländischen Krieges gegen Napoleon, Bagration. Das Ziel war klar, meint Brodersen: "Kaliningrad sollte sowjetisch werden, in dem sich seine Ortsnamen überall auf der sowjetischen Landkarte finden ließen. Zwar waren alle Regionen der UdSSR sowjetisch – Kaliningrad aber sollte am sowjetischsten sein."
Einmischung aus Litauen
Womit weder Kaliningrad, noch Moskau gerechnet hatten: Auch Wilna wollte in der Umbenennungsfrage ein Wörtchen mitreden. Zu der entscheidenden Sitzung im Februar 1947 kündigte sich auch Povilas Pakarklis an, der Ministerratsvorsitzende der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Zur Überraschung des Kreml forderte er "die Beibehaltung alter litauischer, von den Deutschen verdrehten Bezeichnungen".
Doch der Regierungschef der LSSR ging noch einen Schritt weiter. Auf der Sitzung im Februar 1947 betonte Pakarklis, "dass die litauische Regierung nicht nur die Beibehaltung der alten litauischen Bezeichnungen von Ortsnamen für zweckmäßig" halte, sondern auch die "Eingliederungen eines großen Teils des Gebiets Kaliningrad in die Litauische SSR in nächster Zukunft."
Moskau war alarmiert. Eine eilends eingesetzte Kommission von Geografen und Sprachwissenschaftlern konnte den Streit nicht schlichten.
Am Ende aber setzten sich die Vertreter der Sowjetisierung durch. Die Begründung, die der stellvertretende Außenminister der RSFSR, Smirnow, dafür gab, war recht schlicht: "Angesichts dessen, dass das Gebiet Kaliningrad Teil der RSFSR ist und mit russischen Kolchosebauern besiedelt wird, für die die vorgeschlagenen litauischen Ortsbezeichnungen ebenso schwer auszusprechen sind wie die deutschen", sei es "zweckmäßig, dem Entwurf des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR über die Umbenennung der Orte des Gebiets Kaliningrad zuzustimmen".
Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur Königsberg bereits in Kaliningrad umbenannt. Auch die zweitgrößte Stadt des Gebiets, Tilsit an der Memel, hatte bereits am 7. September 1946 seinen neuen Namen Sowjetsk bekommen. Zwar hießen damals bereits sechs Städte in der UdSSR Sowjetsk, aber das spielte keine Rolle. Mit einem sowjetischen Namen versehen wurde ebenfalls die Gilge, jener Mündungsstrom der Memel, der nun durch russisches Gebiet floss. Er hieß fortan, für Russen ganz leicht auszusprechen, Matrosowka.
Nur beim Rußstrom hatte sich die litauische Lesart durchgesetzt. Aus dem nördlichen Mündungsstrom der Memel, der die Grenze zwischen dem Kaliningrader Gebiet und der Litauischen SSR bildete, wurde die Rusne.
Doch das war eine Ausnahme: Im Kaliningrader Gebiet, das mit seinen Siedlern aus Russland, Weißrussland, der Ukraine oder aus Kasachstan eine Sowjetunion en miniature wurde, hatten die meisten Orts- und Flurnamen nur die eine Botschaft: An die Stelle der Geschichte sollte das allumfassende Glücksversprechen des Sozialismus treten. Wozu braucht man die Vergangenheit, wenn man eine glänzende Zukunft vor sich hat?
Ankunft im Westen
Was aber war das für eine Zukunft, die die russischen Pioniere auf ehemals ostpreußischem Boden erwartete?
Die Hoffnung war groß. Zuhause waren die Dörfer im Krieg zerstört. Viel zu verlieren hatten die Neusiedler nicht, umso mehr aber zu gewinnen. Der erste "Eschelon", ein Zug mit Umsiedlern, startete am 19. August 1946 in Brjansk, einer kleinen Bahnstation vor der Grenze zum Smolensker Gebiet. Die Fahrt verlief über Witebsk und Polozk die Düna entlang, bevor der Zug bei Švencionys das Gebiet der Litauischen SSR erreichte. Auf geradem Weg ging es nun in die litauische Hauptstadt Wilna und von dort weiter nach Kaunas an der Memel.
In Kybartai erreichte der Zug schließlich die Grenze zum Kaliningrader Gebiet. Acht Tage waren die 151 Familien nach Ostpreußen unterwegs. Am 27. August 1946 hatten sie ihr Ziel erreicht – den Bahnhof von Gumbinnen, das nun, nach einem sowjetischen Hauptmann, Gussew hieß.
Die Fahrt war alles andere als gewöhnlich, weiß Eckhard Matthes, der ehemalige Direktor des Nordost-Instituts in Lüneburg: "Besonders der Streckenabschnitt durch Litauen blieb vielen Neusiedlern in Erinnerung und wird wiederholt erwähnt: wegen der dort unerwartet guten Versorgung der Reisenden mit Lebensmitteln."
Doch Litauen war nicht nur ein Schlaraffenland, es war auch gefährlich: "Während wir durch Litauen fuhren, stand vorne und hinten ein Soldat mit Maschinengewehr", erinnert sich Iwan Fedosejewitsch Babenko an seinen Transport. Michail Iwanowitsch Iwanow aus Gomel sagte, ihm sei vor dem Transport geraten worden, "nicht zu viele Dinge mitzunehmen, weil noch nicht bekannt sei, wie wir an den Ort kommen, da in Litauen die Züge gelegentlich beschossen würden".
Als die Züge die Grenze zum Kaliningrader Gebiet erreichten, war die Partisanengefahr vorbei – doch der Schrecken setzte sich fort, wie sich Juri Nikolajewitsch-Tregub erinnert, der mit seiner Familie aus Alma-Ata gekommen war:
"Als wir in das ehemalige Ostpreußen einreisten, begann hinter der Stadt Vilkaviškis die reine Hölle. Alles war zerstört, die Häuser beschädigt, auf den Schienen standen total verbogene Waggons, überall waren Drahtigel zur Panzerabwehr, Stahlbetonbefestigungen, weggeworfenes Werkzeug. (…) Einen bedrückenden Eindruck hinterließ die Stadt Insterburg. Als wir in den Bahnhof einfuhren, war er völlig zerstört. Eisenträger ragten empor, auf denen einst das Dach befestigt war, und Metallrahmen ohne Scheiben. Überall verkohlte Ziegelsteine, in der Luft lag ein Geruch von Verbranntem, an den ich mich noch heute erinnere."
Unsichere Nachkriegsjahre
Die Erinnerungen dieser Neusiedler sind Teil des ersten Oral History Projekts im Kaliningrader Gebiet, das der Historiker Juri Kostjaschow 1988 begonnen hatte, in Kaliningrad selbst aber erst 2009 veröffentlicht werden durfte. Dabei werfen die Schilderungen der Neusiedler auch die Frage auf, wie die Sowjetisierung in den anderen Sowjetrepubliken verlief, durch die die Memel floss.
In diesem Zusammenhang ist vor allem die Tatsache interessant, wie stark die Neuankömmlinge die Unterschiede zwischen Litauen und dem Kaliningrader Gebiet empfanden. Anders als das ehemalige Ostpreußen und auch als Weißrussland war Litauen im Zweiten Weltkrieg nicht gänzlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Vor allem auf dem Land konnten die Bauern schnell wieder ihre Äcker bestellen.
Dass es in Litauen mehr zu essen gab als im ehemaligen Ostpreußen, hatte sich auch bei jenen Kindern herumgesprochen, die von ihren Eltern bei Flucht und Vertreibung zurückgelassen worden waren und ihr Überleben auf eigene Faust sichern mussten. Zwischen 10.000 und 5.000 dieser sogenannten Wolfskinder gab es nach dem Krieg, und fast alle trieb der Hunger über die Memel nach Litauen. Wer Glück hatte, wurde von litauischen Bauern aufgenommen. Andere starben an Unterernährung.
Doch die Fassade des relativen Wohlstands täuschte. Trotz aller Bemühungen war Litauen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder, wie bis 1940, unabhängig geworden. Schon beim Einmarsch der Roten Armee 1944 machte Moskau deutlich, dass es das Land erneut der Sowjetunion zuschlagen wollte. Und wie bereits im "Russenjahr", vom 15. Juni 1940 bis zum 22. Juni 1941, war der erste Schritt der Sowjetisierung die Deportation.
Während zur Zeit der sogenannten "ersten Okkupation" 18.000 Litauer nach Sibirien deportiert worden, betrug die Zahl der Opfer in den Jahren zwischen 1944 und 1953 nach Schätzungen des "Museums für die Opfer des Genozids" 118.000. Weitere 186.000 wurden verhaftet, viele von ihnen saßen im berüchtigten KGB-Gefängnis, dessen Kerkerzellen heute das Genozidmuseum in Wilna beherbergen.
Moskau stieß allerdings auf Widerstand. Rund um Wilna, Kaunas und die anderen Städte des Landes schlossen sich zahlreiche Menschen den Partisanen an. Schon 1945 kämpften 30.000 dieser "Waldbrüder" gegen die Rote Armee, verübten Anschläge und Sabotageakte, verteilten Flugblätter – und schossen auf die Transportzüge, die aus dem Innern der Sowjetunion ins Kaliningrader Gebiet fuhren.
Mit dem Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft stießen auch zahlreiche Bauern zu den Waldbrüdern. Die Hochburg der Partisanen war die Dzukija, das Grenzgebiet Litauens zu Weißrussland, das sich rechts und links der Memel erstreckte. Bis 1949 war es den Freischärlern gelungen, weite Teile der Region um die Memelstadt Alytus unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch die Hoffnung der Partisanen auf Hilfe aus dem Westen erfüllte sich nicht. Als Stalin 1953 starb und Moskau eine Amnestie gewährte, legten die Partisanen die Waffen nieder. 20.000 von ihnen waren gefallen. Allmählich kehrten auch die Verbannten aus Sibirien zurück. Nach dem nördlichen Ostpreußen war nun auch Litauen sowjetisch.
Erinnerungskultur in Litauen
Die unmittelbare Nachkriegszeit ist bis heute – oder besser gesagt, heute wieder – bestimmend für die litauische Erinnerungspolitik. "Kurz nach der Wende", sagt Alvydas Nikžentaitis, der Direktor des Litauischen Historischen Instituts, "hat die litauische Erinnerungspolitik alle Ethnien umfasst." Historischer Bezugspunkt war das Großfürstentum Litauen, das seit dem 14. Jahrhundert in Personalunion mit dem Königreich Polen existierte, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und Litauern wie Polen, Juden, Weißrussen und Ukrainern eine Heimat war.
"Nun aber", sagt Nikžentaitis, "erleben wir eine Renationalisierung der Erinnerung. Ausgangspunkt der offiziellen Erinnerungspolitik ist eine nationale Erzählung, die das litauische Gedenken in eine Opfererzählung presst, demgegenüber die Sowjets als Täter dastehen." Das sei, sagt der Historiker, typisch für postkommunistische Länder. Litauen unterscheide sich darin in keiner Weise von Russland oder Weißrussland.
Gleichwohl gibt es in Litauen auch eine nicht nur nationale, sondern auch regionale Erinnerung – auch und gerade an der Memel. In Klaipėda etwa steht Preußens Königin Luise heute für das deutsche kulturelle Erbe einer Stadt, die sich zu ihrer Besonderheit gegenüber Kaunas und Wilna bekennt.
Memel war einst die größte Stadt des Memellandes. Hier wohnten Deutsche und preußische Litauer, die anders als die Litauer in Großlitauen protestantisch waren. Heute heißt das ehemalige Memelland Lietuva mazoji, Kleinlitauen – und ist stolz auf die preußisch-litauische Vergangenheit. Zu dieser Vergangenheit gehören auch die Aufenthalte der Luise im Memeler Exil. In Klaipėda betont man gerne, dass die preußischen Reformen, von denen auch Memel profitierte, von dieser Stadt ausgingen. Am ehemaligen Haus des Kaufmanns Consentius, in dem die Königsfamilie lebte, wurde deshalb eine Erinnerungstafel angebracht.
Kein nationaler Stolz und keine antirussische Erinnerungspolitik ist es, die man da in Klaipėda eingeübt hat, sondern die Wiederentdeckung der Geschichte und der Stolz auf die Stadt und ihre Region.
Russland und die preußische Königin
Ein neues Erinnern gibt es aber auch im Kaliningrader Gebiet – und auch da spielt die Königin Luise eine Rolle. Im Juli 2007 sollten, so sah es die Regie vor, der russische Präsident Wladimir Putin, Frankreichs Staatsoberhaupt Nicolas Sarkozy und der deutsche Bundespräsident Horst Köhler ins russische Sowjetsk reisen. Auf dem Programm stand nichts Geringeres als die 200-Jahr-Feier des Friedens von Tilsit, der Bittgang der Königin Luise bei Napoleon – und mit ihm die Frage nach der Aktualität des Friedensschlusses für das Europa der Gegenwart.
Schon Wochen vorher waren in Sowjetsk die Vorbereitungen für das historische Zusammentreffen angelaufen. Der Leiter des Stadtmuseums, Georgi Ignatow, hatte für sein Projekt "Krieg und Frieden" von der EU 53.000 Euro bekommen. Ein Festumzug mit historischen Uniformen sollte das Geschehen vom Juni und Juli 1807 noch einmal aufleben lassen, bei einem Schönheitswettbewerb galt es, die "Miss Luise" zu küren und die Stadt an der Memel in aller Welt bekannt zu machen. Für die Häuser der ehemaligen Deutschen Straße 21 und 24, in denen der russische Zar und der französische Kaiser residiert hatten, waren Erinnerungsstelen geplant. Natürlich durfte auch das kulturelle Rahmenprogramm nicht fehlen – mit Filmen wie "Krieg und Frieden", der "Husarenballade" und "Waterloo".
Schon zwei Monate zuvor hatte im Hotel "Rossija" in Sowjetsk eine Konferenz stattgefunden – als intellektueller Auftakt der Feierlichkeiten. "Der Tilsiter Friede als Prototyp des Europäischen Hauses" lautete der Titel des Symposiums. Vor allem das Tilsiter Vertragswerk von 1807 hatte es Historikern und Politikwissenschaftlern angetan – es galt als Meisterwerk der Diplomatie und russischer Verhandlungskunst. In Tilsit, resümierten vor allem russische Experten, seien die Grundlagen europäischer Friedensarchitektur gelegt worden.
Wie es um diese Grundlagen bestellt war, zeigte sich freilich kurz vor dem Jubiläum. Aus unerfindlichen Gründen wurde das Treffen zunächst von der Ebene der Staatschefs auf Außenministerebene herabgestuft. Kurz darauf sagte die französische Delegation ab. Einige Unterhändler hatten herausgefunden, dass es Tilsit nicht mehr gab. Und das, obwohl der Name in Frankreich jedem Schulkind bekannt ist. Den russischen Namen der Stadt, Sowjetsk, dagegen kannte keiner. Zudem war in Paris bekannt geworden, dass die Pferde, die die Franzosen für das Historienspektakel mitbringen wollten, keine Einreiseerlaubnis erhielten. Spätestens da war klar: Aus. Vorbei. Finis.
Die zweite Absage kam aus Moskau. Trotz des Optimismus im Vorfeld der Konferenz befand der Kreml plötzlich, dass der Friede von Tilsit für Russland eine Schmach gewesen sei – und stornierte die zugesagten Gelder. Da konnte natürlich auch Georgi Boos, der Kaliningrader Gouverneur, nicht anders. Auch er sagte ab.
Als ob das nicht genug gewesen wäre, gab es Ungemach auch von der anderen Seite des Flusses. Aus Litauen hieß es, der Nachbau eines Pavillons auf der Memel sei schön und gut, nur Strom gebe es dafür keinen. Schließlich handele es sich bei der Memel um die Außengrenze der Europäischen Union.
So schwanden also die Grundlagen der 200 Jahre währenden europäischen Friedensarchitektur langsam dahin. Zu allem Überfluss begann es am 9. Juli 2007 auch noch in Strömen zu schütten. Doch die Stadtväter von Sowjetsk machten das Beste daraus – und improvisierten. In die Uniformen der Grande Armée Napoleons, die eigentlich von der französischen Delegation getragen werden sollten, schlüpften kurzerhand ein paar zur Gedenkfeier angereiste Polen. So fanden die Feierlichkeiten schließlich doch noch einen versöhnlichen Abschluss. Wenn schon keinen europäischen, dann wenigstens einen polnisch-russischen. Zur "Miss Luise" wurde mit Anna Oborska eine Polin gekürt.
Tilsit in Sowjetsk
Dennoch hat der Juli 2007 in Sowjetsk etwas Bleibendes hinterlassen. Auf einem Gedenkstein am ehemaligen Fletcherplatz, der Zentralnaja Ploschtschad heißt, steht nun auf Französisch, Deutsch und Russisch geschrieben: "1807 – Paix de Tilsit, Tilsiter Frieden, Tilsitskij Mir".
Und auch die Brücke, die über die Memel ins litauische Panemunė führt, trägt seitdem ihren alten Namen. Hammer und Sichel mussten weichen, am monumentalen Brückenportal hängt wieder das Relief der preußischen Königin. Königin-Luise-Brücke: Das war auch der Name für die Brücke, die 1907 im Gedenken an die Ereignisse von 1807 eingeweiht wurde.
Woher aber der Sinneswandel? Warum plötzlich die Luise statt Hammer und Sichel? Die Antwort gab eine kleine Ausstellung über die Königin Luise, die im Juni 2009 im Stadtmuseum von Sowjetsk gezeigt wurde. Nicht nur vom Treffen Luises mit Napoleon und der Niederlage Preußens war da die Rede, sondern auch von den preußisch-russischen Beziehungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die hatte auch Napoleons Russland-Feldzug nicht beschädigen können, obwohl mit der Grande Armée am 24. Juni 1812 auch preußische Soldaten die Memel überquerten. Nach Napoleons Niederlage aber hatte Preußen die Gelegenheit ergriffen und das unfreiwillige Bündnis mit Frankreich beendet. Was folgte, ist bekannt: Die Befreiungskriege, Napoleons Sturz, die Rehabilitierung Preußens während des Wiener Kongresses.
Alexanders Veto gegen die Zerschlagung Preußens war Teil eines strategischen Bündnisses zwischen den Hohenzollern und den Romanows. Immer wieder wurde dieses Bündnis durch Heiratspolitik bekräftigt. So ehelichte Luises Tochter Charlotte 1817 den späteren Zaren Nikolaus I. Nicht die militaristischen Traditionen Preußens, wegen derer Stalin 1945 das nördliche Ostpreußen für sich beanspruchte, stellt die russische Luisenrezeption in den Vordergrund, sondern die deutsch-russische Freundschaft, deren jüngster Ausdruck die Ostseepipeline von Gerhard Schröder und Wladimir Putin ist.
Hoffnung auf Tauwetter...
So stehen sich an der Königin-Luise-Brücke also zwei Suchen nach der Geschichte und der Memel gegenüber: eine nationale und regionale in Litauen und eine noch immer weitgehend nationale im Kaliningrader Gebiet. Für Alvydas Nikžentaitis gehen die verschiedenen Erinnerungspfade zwischen Litauen und Russland bereits auf die Zeit der Sowjetunion zurück.
"Anders als die Bewohner im Kaliningrader Gebiet", betont er, "haben sich die Litauer im Memelland schon zu Zeiten der Sowjetunion mit dem kulturellen Erbe Ostpreußens beschäftigt." Hinzu komme die Tatsache, dass die Memelniederung bis 1945 eine multikulturelle Region war, in der Deutsche, Litauer, Juden und autochthone "Memelländer" wohnten. Das erleichtere es, dass in Klaipèda heute Platz für "viele Heimaten" sei, meint der Historiker. Der Umgang mit dem historischen Erbe, sagt Nikžentaitis, sei der Gradmesser für die Herausbildung einer regionalen Identität.
Doch auch in Russland ist Bewegung im Spiel, wie die Debatte um die Umbenennung der sowjetische Ortsnamen zeigt: Anders als in Moskau hat sich in der Stadt am Pregel längst ein lockerer Umgang mit der deutschen Vergangenheit eingebürgert. Die Studenten, deren Universität seit 2005 nach Immanuel Kant benannt ist, nennen Kaliningrad beim Kurznamen "Kenig". Eine Hip-Hop-Band heißt "Kenig City Breaker", die Ostmarkbrauerei, die ihren deutschen Namen behalten hat, braute das Jubiläumspils "Königsberg 750", das Dramentheater nannte sein Festival "Korolewskaja Gora", zu deutsch: Königsberg.
Auch Ostpreußen kehrt nach Kaliningrad zurück, wie die Wodka-Sorte "Wostotschnaja Prussija" zeigt. Schließlich wurde hinter dem Dom das Fischereiviertel wieder aufgebaut. Mit Ideologien haben die jungen Kaliningrader nichts mehr am Hut, sie sehnen sich nach den Verheißungen des Westens, weiß der Duma-Abgeordnete Solomon Ginsburg: "Für die Jugend hier ist der Mercedes wichtiger als Roter Platz und russische Birke zusammen."
Eine Zeit lang war selbst die Rückbenennung der sowjetischen Ortsnamen im Kaliningrader Gebiet kein Tabu mehr. Den Anstoß hatte im Frühjahr 2009 der geschäftsführende Kaliningrader Oberbürgermeister Felix Lapin gegeben.
Dem Radiosender Echo Moskwy sagte Lapin: "In Russland könnte man stolz sein auf den Namen Königsberg als eine russische Stadt." Zwar liefen Russlands Kommunisten und Nationalisten Sturm und warnten vor einer "schleichenden Germanisierung". Aber auch der damalige Gouverneur Georgij Boos hatte sich in die Debatte eingeschaltet. Zwar sei das Thema schwierig und schmerzhaft, sagte Boos im Oktober 2009, ein Existenzrecht habe aber sowohl der aktuelle als auch der historische Name eines Ortes:
"Städte wie Gussew, Gurjewsk, Tschernjachowsk sind nach Helden der Sowjetarmee bekannt, sie führten die Erstürmung dieser Orte an. Das ist unsere Geschichte, große Geschichte. Aber man muss andererseits auch anerkennen, dass hinter den alten Städtenamen Kultur und Tradition stehen."
Boos plädierte deshalb für Bürgerentscheide. Vor allem in der Memelstadt Sowjetsk, meinte er, sei die Zeit für eine Rückbenennung in Tilsit womöglich nicht mehr fern: "Mit dem heutigen Namen verbinden viele, vor allem die jüngeren Einwohner der Stadt keine Tradition, keine positiven Emotionen mehr. Sowjetsk, die Stadt der Räte? Die Sowjetunion ist längst Vergangenheit."
Tatsächlich ist Tilsit in Sowjetsk so geläufig wie Königsberg in Kaliningrad. Das lokale Radio sendet unter dem Namen Tilsitskaja Wolna, das Theater heißt "Tilsit-Teatr". Kein Wunder also, dass seit 2006 eine Bürgerbewegung für die Umbenennung von Sowjetsk in Tilsit wirbt. Noch, meint der Sowjetsker Bürgermeister Wiktor Smilgin, gebe es keine eindeutige Mehrheit, "Es steht so fifty-fifty". Doch das könnte sich bald ändern. "Die Jugend ist sicher mehrheitlich für Tilsit, bei den Älteren überwiegt Sowjetsk."
So könnte an der Memel bald der letzte Hinweis auf die Sowjetunion fallen. Die Ironie der Geschichte: Ausschlaggebend sind dabei jene Neusiedler und ihre Nachfahren, um deretwillen Tilsit 1947 in Sowjetsk umbenannt wurde – weil sie angeblich den deutschen Namen nicht aussprechen konnten.
… und neue Rückschläge
Doch seit diesen Vorschlägen ist wieder einmal viel Wasser den Neman hinuntergeflossen. 2009 demonstrierten die Kaliningrader in Scharen gegen ihren Gouverneur – und Moskau setzte Georgij Boos ab. Seitdem wird im Kaliningrader Gebiet wieder die Angst vor der Germanisierung geschürt.
Und noch etwas hindert das Gebiet am unverkrampften Umgang mit der ostpreußischen Geschichte und den deutschen Touristen. 2007 hat Präsident Wladimir Putin seinem Reich eine neue Vorschrift verpasst. Um Russland vor terroristischen Attacken zu schützen, dürfen Ausländer und russische Staatsbürger die Grenzgebiete nur noch mit einer besonderen Erlaubnis, dem sogenannten Propusk, betreten. Als ob das nicht schon Hürde genug wäre, bekommt man die Sondergenehmigung nur vor Ort ausgestellt, die Bearbeitungszeit dauert eine Woche oder länger. Für Sowjetsk ist das ein herber Rückschlag, war das ehemalige Tilsit doch gerade dabei, sich als Tourismusort für Heimwehtouristen aus Deutschland zu etablieren.
Und dann ist da noch das Atomkraftwerk. Als Antwort auf den Neubau eines baltischen AKW in Litauen wollte Russland im Kaliningrader Gebiet nicht nachstehen. Das AKW wird direkt an der Memel, in Neman, ehemals Ragnit gebaut. Gefährliche Großprojekte wie diese an die Grenze zu setzen ist eigentlich eine Hinterlassenschaft des Kalten Krieges.
Kaliningrad, die ehemalige Terra incognita, die sich erst nach dem Ende der Sowjetunion für Touristen aus dem Westen geöffnet hat, schottet sich also wieder ab. Und nicht nur aus der Perspektive von Litauen und der EU bildet die Memel eine Außengrenze, sondern auch im Handeln der politischen Akteure vor Ort.
Erinnerung von unten
Wenig Anlass also für Optimismus? Vielleicht ist das gerade die Zeit der kleinen Geschichten. 2009 konnte ich im Kaliningrader Gebiet mit einer Deutschlehrerin am linken Ufer des Neman entlangfahren. Ludmilla Gulajewa, so heißt die Lehrerin, lebt in Neman, früher Ragnit. Wir besuchten die Burgruine von Ragnit, eine der mächtigsten Ordensburgen in Ostpreußen, die Hinterlassenschaften des Bismarckturms und das Memelufer von Untereißeln, einst ein beliebter Ausflugsort der Tilsiter, die zumeist mit dem Dampfer kamen.
Was ihr die Memel und ihre Geschichte bedeuten, wollte ich von Ludmilla wissen. "Viel", antwortete sie. "In den siebziger Jahren bin ich aus Kasachstan hierher gekommen. Ich hatte die Wahl zwischen Sibirien und dem Kaliningrader Gebiet. Heimisch bin ich aber erst geworden, nachdem ich von der Geschichte Tilsits und Ragnits erfahren habe."
Über einen Sandweg fuhr Ludmilla ihren Golf hinunter ans Ufer des Stroms. "Hier war die Ausflugsgaststätte von Untereißeln", erklärte sie, "dort befand sich der Anleger." Heute ist davon nichts mehr zu sehen. „Weißt du“, sagte Ludmilla und lächelte vielsagend, "auch wenn über die Geschichte Gras gewachsen ist, verschwunden ist sie dennoch nicht. Das ist wie mit den Toten, die erst dann tot sind, wenn keiner mehr an sie denkt."
Auch Ludmilla hatte man einmal einreden wollen, dass die Geschichte des Kaliningrader Gebiets 1945 begonnen habe. Ostpreußen, das war für Ludmilla lange Zeit gleichbedeutend mit Junkerherrschaft und preußischer Pickelhaube, eine deutsche Provinz, die im Zweiten Weltkrieg zu Recht untergegangen sei. "Erst von den deutschen Touristen habe ich erfahren, dass hier mehr war – nämlich Heimat."
Seitdem hält Ludmilla das Andenken an diese Heimat, die inzwischen auch ihre Heimat geworden ist, aufrecht. Und sie will sie den Jüngeren vermitteln. Mit ihrem Schülern fährt sie regelmäßig dorthin, wo einmal Untereißeln war, und veranstaltet dort ein Picknick oder ein Zeltlager.
Solche Geschichten gibt es viele, auch an der Memel. Es sind private Geschichten. Noch. Oder noch immer.
Chronologie
1945: Auf der Potsdamer Konferenz wird Ostpreußen geteilt. Den Süden bekommt Polen, das Gebiet nördlich der Memel geht an die Litauische Sowjetrepublik. Den größten Teil bekommt die Russische Föderale Sozialistische Sowjetrepublik
1946: Umbenennung des Gebiets in Kaliningradskaja Oblast. Ankunft der ersten Siedler
1947: Die Litauische Sowjetrepublik fordert einen Teil des Gebiets südlich der Memel. Streit um die neue Benennung von Städten und Flüssen
1945-1953: Kampf von Partisanen gegen die Rote Armee in der Litauischen SSR
1991: Auflösung der Sowjetunion. Das Kaliningrader Gebiet bleibt bei Russland und wird zur Exklave. Unabhängigkeit Litauens
2004: Mit dem Beitritt Litauens wird die Memel zur Außengrenze der Europäischen Union
2005: Russland feiert „750 Jahre Kaliningrad“ und „60 Jahre Kaliningrader Gebiet“
2007: Feierlichkeiten zum 200sten Jahrestag des Friedens von Tilsit. Die Brücke über die Memel heißt wieder Königin-Luise-Brücke
Uwe Rada, geboren 1963, lebt als Journalist und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2010 im Siedler-Verlag Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes. 2013 erscheint Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss. Uwe Rada koordiniert das Online-Dossier Geschichte im Fluss der Bundeszentrale für politische Bildung.
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