Viele Menschen im Kaliningrader Gebiet suchen die Nähe zu Europa. Doch im Land zwischen Pregel und Memel macht sich auch eine Renationalisierung der Erinnerung bemerkbar. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Orthodoxe Kirche.
Wer Anatolij Bachtin, den leitenden Mitarbeiter des Kaliningrader Staatsarchivs, in seinem Büro besucht, erhält schon beim Anklopfen einen Vorgeschmack auf sein – von feiner Ironie geprägtes – Verhältnis zur Geschichte seiner Heimatregion: Auf der Tür prangt ein Aufkleber mit dem kyrillischen Schriftzug "Prussia" – nur die Anfangskapitale ist in roter, der Rest des Wortes hingegen in schwarzer Farbe geschrieben. Es steckt viel Preußen in Russland, will uns das sagen – oder etwa umgekehrt?
Explosive Vergangenheit
Anatolij Bachtin ist mit delikaten Fragen wie diesen vertraut, gehört er doch zu denjenigen, die sich schon vor dem Epochenumbruch von 1989/91 mit den Problemen der Geschichtspolitik auseinandersetzten. Er interessiert sich vor allem für die praktischen Implikationen dieser Politik auf die ganz realen und daher lange Zeit umstrittendsten Erinnerungsorte der Region zwischen Memel und Pregel – die Baudenkmäler aus der Vorkriegszeit. Seit Jahrzehnten schon dokumentiert er deren Zustand (und häufig bedeutet dies: Verfall), indem er das Gebiet zunächst mit dem Fahrrad, dann mit dem Moped und schließlich mit dem eigenen Auto bereiste, im Gepäck stets ein Fotoapparat.
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Niemen, mein Heimatstrom! Wo sind die Wogen? Mit ihnen so viel Glück und sel’ges Wähnen Wohin ist meiner Kindheit Lust verflogen?
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Die Dzimken, die Flößer, die mit den Hölzern stromab aus Russland kommen, sitzen in ihren langen, grauen Hemden auf der Floßkante und baden sich die Füße. Hinter ihnen rauchen die Kessel zum Frühstücksbrot.
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Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben in Nordafrika zu sein.
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Aus der Finsternis kommst du, mein Strom, aus den Wolken. Wege fallen dir zu und die Flüsse, Jura und Mitwa, jung, aus Wäldern, und lehmschwer, Szeszupe.
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Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmsee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit.
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Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen.
Aus Sicht der Partei handelte Bachtin damit subversiv. Die Vergangenheit der Region war vermintes Gelände – und in seinem Alltag konnte Bachtin feststellen, dass dies mitunter wörtlich zu verstehen war: So entpuppte sich das Metallstück neben dem Eingang seines Elternhauses, an dem sich die Besucher den Schlamm von den Füßen abzukratzen pflegten, erst nach Jahren als Leitschwanz einer nicht explodierten Mörsergrante aus den Tagen des Kampfes um die "Festung Königsberg".
Während sich allerdings solche Blindgänger entsorgen ließen, blieb die Frage, wie die Vorkriegsgeschichte der Region zu interpretieren sei, aus Sicht der Ideologen eine ebenfalls explosive Angelegenheit. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlegte sich die Parteiführung daher darauf, das deutsche Erbe der Region zu einer Art "feindlichen Vergangenheit" zu erklären.
Die Annexion des nördlichen Teils Ostpreußens hatte Moskau mit der angeblichen "Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit" gerechtfertigt. Man orientierte sich damit paradoxerweise an den Argumentationslinien der polnischen Nachkriegsregierung; diese hatte die von Stalin erzwungene Westschiebung ihres Staates offiziell als Erfolg verkauft, da man auf diese Weise slawische Siedlungsgebiete "wiedergewonnen" hätte. Auch das nördliche Ostpreußen wurde nach 1945 zum "urslawischen" Gebiet erklärt, das nach 700-jähriger Fremdherrschaft endlich zu seinen rechtmäßigen Herren zurückgekehrt sei. Und ebenso wie diese vermeintliche Fremdherrschaft per definitionem als temporär und unrechtmäßig galt, so galten auch die Hinterlassenschaften aus dieser Zeit als temporär und wertlos. Das alte Königsberg wurde von den neuen Machthabern als eine böse Stadt gezeichnet, die "all jene Vorstellungen verkörpert, die uns sowjetischen Menschen fremd sind". So formulierte dies der erste Chefarchitekt Kaliningrads, Dimitrij Navalichin, wenige Jahre nach Kriegsende.
Seine von 1947 an entwickelten Pläne sahen vor, das weitgehend kriegszerstörte Stadtzentrum vollständig einzuebnen und eine verkleinerte Kopie der sowjetischen Hauptstadt zu errichten. Der "Erinnerungsort Königsberg" sollte ausgelöscht werden. Vergleichbare Pläne für anderen Städte im Gebiet, darunter Sowjetsk, das ehemalige Tilsit an der Memel, wurden wohl vor allem aufgrund des akuten Ressourcenmangels nicht entwickelt.
Doch ungeachtet der letztlich auch in Kaliningrad weitgehend gescheiterten Zukunftsvisionen, blieb die Vorkriegsvergangenheit des Gebiets tabuisiert. Wenn Anatolij Bachtin in seinem Büro die Ordner zeigt, in denen er die vor 1989 gesammelten Unterlagen abgeheftet hat, erblickt man vor allem Nachkriegsfotos von Ruinen und halbzerstörten Gebäuden aus deutscher Zeit – historisches Bildmaterial war selbst für Archivmitarbeiter wie ihn kaum zugänglich, da ein wissenschaftlicher Austausch zu diesem Thema unerwünscht blieb. Das Studium von Fotos und Plänen aus der Vorkriegszeit blieb tabu.
Buntes Völkchen im Ordensschloss
Der Zusammenbruch des Kommunismus stieß auch im Kaliningrader Gebiet die Fenster weit auf und ermöglichte einen offenen Blick auf die zuvor tabuisierte Vergangenheit. Zugleich aber schuf das Auseinanderbrechen der Sowjetunion in der Kaliningrader Bevölkerung ein gesteigertes Bedürfnis nach Rückversicherung der eigenen Identität: Das "am weitesten im Westen" gelegene Gebiet ist nach 1991 eine von souveränen Staaten umschlossene Exklave. Die Frage, wie "russisch" die Region eigentlich sei, bekam für viele ihrer Bewohner eine ganz praktische Bedeutung. Bezeichnenderweise sorgte der zeitweilige Wegfall des Gebietes von den Wetterkarten des ersten Fernsehkanals in dem vom "großen Russland" abgeschnittenen Territoriums für große Aufregung, während die Moskauer Regierung sich umgekehrt übertriebene Sorgen wegen der Gründung einer separatistischen Splitterpartei machte.
Im Alltag war das untergegangene Ostpreußen wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion omnipräsent – zunächst allerdings vorrangig auf dem Gebiet der Populärkultur. An den Zeitungskiosken wurden nun auf Postkartenserien all jene Fotografien des alten Königsbergs, Tilsits und Insterburgs verkauft, die Anatolij Bachtin in der kommunistischen Ära nicht zu Gesicht bekam. In den Geschäften waren Biersorten zu haben, die "Königsberg" hießen – oder auch "Ostmark". Dass es sich bei letzterem Begriff um eine politisch tatsächlich heikle Vokabel des "Volkstumskampfes" der Zwischenkriegszeit handelt, zeigt, wie ungezwungen die Erinnerung an die Vorkriegszeit in weiten Teilen der örtlichen Bevölkerung ist. Viele sind stolz auf die preußische Vergangenheit des Gebiets und sehen diese als eine Art Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Russischen Föderation. Allerdings beeinflusst dies ihr politisches Bewusstsein ebenso wenig wie sich der Lokalpatriotismus von Rheinländern oder Schwaben vom Bezug auf die römische Vergangenheit ihrer jeweiligen Heimatregionen leiten lässt.
Dennoch blieb die Vergangenheit des Gebiets zwischen Memel und Pregel aus Sicht der politischen Eliten ein heikles Thema. Davon weiß Alexej Oglasnjew zu berichten, der 44-jährige Vorsitzende der Stiftung "Samok Insterburg" im ehemaligen Ordensschloss des heutigen Tschernjachowsk. Seit 1997 engagiert er sich gemeinsam mit Freunden für den Erhalt der Burg, deren älteste Teile aus dem 14. Jahrhundert stammen, 1999 konnten sie die Verwaltung der Immobilie offiziell übernehmen. Dieser Erfolg war hart erkämpft. Als Oglasnjew die Beamten der Moskauer Denkmalschutzbehörde erstmals mit seiner Stiftungsidee konfrontierte, stieß er auf wenig Begeisterung. Warum er denn unbedingt das Bauwerk einer fremden Kultur erhalten wolle, wurde er gefragt – es gebe im Moskauer Umland doch genügend russische Schlösser, die der Pflege bedürften. Ob man denn das Kaliningrader Gebiet zurückgeben wolle, entgegnete Oglasnjew. Ein entsetztes "Nein!" war die Antwort. Ob die Baudenkmäler dieser Region folglich nicht inzwischen Teil der russischen Kultur seien, hakte Oglasnjew nach. "Na klar!" wurde ihm beschieden. Damit war die Sache geklärt.
Bis heute hat die Burg in Tschernjachowsk etwas von einer Oase der Alternativkultur: Es ist ein buntes Völkchen, das dort in den Ateliers werkelt und ein kleines Heimatkundemuseum aufgebaut hat. In dem werden Fundstücke aus deutscher Zeit präsentiert und im Sommer im verwunschenen Hof Ritterfestspiele, Kunstausstellungen und Openair-Konzerte organisiert.
Inzwischen wäre eine solche Erfolgsgeschichte wohl nicht mehr möglich. Während sich Oglasnjew 2009 noch der Umarmung durch den Gouverneur Georgij Boos entwinden musste, der die populären Burgleute am liebsten seiner Kulturverwaltung eingegliedert hätte, sehen die politischen Eliten in der deutschen Vergangenheit wieder vorrangig eine Bedrohung. Besonders deutlich zeigte sich dies im Konflikt um ehemalige Sakralbauten sowie Immobilien, die sich bis 1945 in kirchlichem Besitz befanden.
Im Frühjahr 2009 erhob die Russisch-Orthoxe Kirche erstmals Anspruch auf ein Dutzend früherer Sakralbauten im Kaliningrader Gebiet. Seitdem hat sie sich über 40 Immobilien vom russischen Staat überschreiben lassen. Diese plötzliche Leidenschaft für Gebäude aus deutscher Zeit überrascht zunächst, schließlich war die Kaliningrader Eparchie in den Jahren zuvor nicht durch besondere Vorliebe zur Backsteingotik aufgefallen. Zwar hatten verschiedene Gemeinden unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Sozialismus einige der noch erhaltenen ostpreußischen Kirchen übernommen, die meisten konzentrierten sich aber aufgrund liturgischer Bedürfnisse auf den Bau neuer Gebäude. Auf dem platten Land verfielen derweil Dutzende historische Gotteshäuser, die zwar die Sowjetzeit als Getreidespeicher oder Traktorgaragen überdauert hatten, nach dem Kollaps der Kolchosen aber ohne Nutzer blieben. Erst als die Staatsduma in Moskau über ein Gesetz beriet, das die Rückübertragung enteigneter kirchlicher Immobilien erleichtern sollte, erwachte das Interesse der Eparchie.
Aus ihrer Sicht hatte das Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung nämlich einen entscheidenden Haken: Die Sakralbauten sollten ausschließlich jenen Gemeinschaften zurückgegeben werden, die sie bis zur Enteignung nutzten. Von einer „Rück“-Übertragung wäre die Orthodoxie im Kaliningrader Gebiet somit ausgeschlossen gewesen. Dort hat es nämlich nur eine einzige Kirche gegeben, in der vor 1991 – genauer gesagt: in den Jahren 1761-1765 – Gottesdienste nach orthodoxem Ritus gefeiert worden waren. Und ausgerechnet diese Kirche hatten die sowjetischen Behörden 1950 gesprengt. Im Frühjahr 2009 beschwerte sich Patriach Kirill daher bei Premier Wladimir Putin über den Gesetzentwurf: Der Text trage "nicht den Besonderheiten des Kaliningrader Gebiets Rechnung", mahnte Kirill und warnte den Regierungschef vor "ethnischen sowie religiösen Konflikten" im Gebiet. Ein Sprecher der Kaliningrader Eparchie wurde gegenüber der Izwestija deutlicher: Der Königsberger Dom, das Puppentheater in der Luisenkirche sowie die Philharmonie in der Kirche der Heiligen Familie könnten alle an "westliche Konfessionen" fallen, erklärte er – und schob die rhetorische Frage nach: "Raten Sie mal, wessen Interessen die wohl vertreten werden?"
In Kaliningrad entwarfen die Vertreter von Gebietsregierung und Eparchie gar das Horrorszenario eines unmittelbar bevorstehenden kulturellen Kahlschlags: Unisono warnten sie, den in früheren deutschen Sakralbauten untergebrachten Institutionen drohe die "ernste Gefahr", von den Alteigentümern vor die Tür gesetzt zu werden. Die einzige Lösung bestehe darin, diese Gebäude "baldmöglichst" an die Russisch-Orthodoxe Kirche zu übergeben. Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll: Über das unverdaute Erbe des Kalten Kriegs, das hier zutage tritt, oder über die forsche Selbstentmachtung eines säkularen Staates, der angeblich die Hilfe der Kirche braucht, um sich vor den Folgen der eigenen Gesetzgebung zu schützen.
Allerdings richtete sich die neue Allianz zunächst gegen eine jener Kultureinrichtungen, die es doch zu schützten galt: Im April 2010 musste das Kaliningrader Gebietsmuseum die Schlüssel der Katharinenkirche im früheren Arnau, die sie als Filiale nutzen wollte, an die Eparchie übergeben und die gerade erst angelieferten Vitrinen wieder abtransportieren lassen. Als das Museum den Sakralbau im Juli 2008 übernommen hatte, war die Erleichterung noch groß gewesen. Die wuchtige Backsteinkirche, acht Kilometer östlich von Kaliningrad malerisch auf einer Anhöhe über dem Pregel gelegen, gehört zu den bedeutendsten Baudenkmälern der Region – mit dem Museum schien endlich der ideale Nutzer für dieses Kleinod gefunden zu sein.
Ob die Russisch-Orthodoxe Kirche das gleiche Fingerspitzengefühl im Umgang mit der fragilen Bausubstanz hat, ist fraglich. Trotz eindringlicher Warnungen der Restauratoren hat sie die nach 1945 eingefügte Zwischendecke mit schwerem Gerät entfernen lassen. Völlig unklar ist auch, wie die Eparchie die weitere Restaurierung der Katharinenkirche finanzieren will: Im Einklang mit der Gebietsregierung hat sie das "Kuratorium Arnau" ausgebootet – jenen deutschen Förderverein, der gemeinsam mit russischen Heimatforschern nach 1992 den Abbruch des Bauwerks verhinderte und Geld für ein neues Dach einwarb. Einen vergleichbaren Kraftakt wird die chronisch klamme Eparchie kaum stemmen können.
Bezeichnenderweise ist der Ansturm der russischen Protestanten und Katholiken auf ehemalige Sakralbauten ausgeblieben – sie halten sich in der Rückgabe-Frage grundsätzlich zurück, um den Vorwurf zu vermeiden, sie diene als fünfte Kolonne bei einer möglichen Regermanisierung des Gebiets. Doch je näher der 1. Januar 2011 rückte, an dem das Gesetz in Kraft getreten ist, desto schrillere Töne waren von den Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche zu vernehmen: Im November 2010 forderte der Immobilienbeauftragte der Eparchie die Stadt Kaliningrad auf, ihr bis zum Jahresende nicht nur einstige Kirchen, sondern auch sämtliche ehemals kirchlichen Krankenhäuser und Schulen zu übertragen – andernfalls drohe nach dem Neujahrstag der soziale Kollaps.
Dem Bündnis zwischen Staat und Kirche tat dieses unverfrorene Ultimatum keinen Abbruch: Anstatt die Kirchenvertreter zur Mäßigung anzuhalten, ließ sich Kaliningrads neuer Gouverneur Nikolaj Zukanow kurz darauf selbst in einem Interview über die angeblich drohende Rückübertragungswelle an deutsche Gemeinden aus. Der Einwand der Journalisten, die Duma habe dem Gesetz in zweiter Lesung einen Passus eingefügt, wonach ausländische Religionsgemeinschaften sowie deren russische Vertreter explizit von der Restitution ausgeschlossen seien, wurde aus der autorisierten Fassung des Gesprächs entfernt.
Kirche verbietet Proteste
In der Öffentlichkeit konnte die Putin-Partei "Einiges Russland" mit diesem geschichtspolitischen Rollback, der die Vorkriegsbauten tendenziell wieder zu feindlichen Erinnerungsorten umwandelt, nicht punkten. Einer im Dezember 2010 durchgeführten repräsentativen Umfrage zufolge befürwortet nur ein Drittel der Gebietsbewohner die Übertragung ehemaliger Sakralbauten an die Eparchie. Die höchst umstrittenen Restitutionen gehören zu den meistkommentierten Themen in der Kaliningrader Bloggerszene. Aktivisten schalteten unter kaliningrad-kultura.net eine Website und protestierten allwöchentlich auf dem zentralen Platz des Sieges zwischen Rathaus und der orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale – stets mit einem Transparent, auf dem das neunte Gebot zu lesen ist: "Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Haus."
Obrigkeit und Russisch-Orthodoxe Kirche zeigten sich von den Protesten unbeeindruckt. Kritiker argwöhnen, der Immobilienhunger der orthodoxen Geistlichen entspringe ganz profanen Motiven, da sie viel mehr Gebäude beansprucht, als sie in den nächsten Jahrzehnten mit Gläubigen füllen kann. Örtliche Beobachter schätzen den Bevölkerungsanteil, der wenigstens gelegentlich orthodoxe Gottesdienste besucht, auf deutlich unter zehn Prozent. Vor allem verblüfft, wie großzügig die Eparchie den Begriff "kirchlichen Besitz" definiert: Neben dem einstigen Eigentum der protestantischen und katholischen Gemeinden Ostpreußens hat die Russisch-Orthodoxe Kirche erfolgreich mehrere Burgen des Deutschen Ordens eingefordert und angekündigt, notfalls auch die Fundamente des Königsberger Schlosses, einst Sitz des Hochmeisters, vor fremden Zugriff "retten" zu wollen – schließlich sei der Orden eine geistliche Organisation gewesen. Mit dieser Begründung könnte die Eparchie ebensogut gleich das gesamte Territorium des 1525 säkularisierten Ordensstaats für sich beanspruchen.
So absurd dieser Gedanke auch wirkt, er scheint der Geisteswelt der örtlichen Obrigkeit nicht völlig fremd: Nachdem der neue Gouverneur Zukanow die Russisch-Orthodoxe Kirche Anfang Dezember zum "Fundament der russischen Staatlichkeit" erklärte, übertrugen seine Beamten der Eparchie schon mal das Recht, über die Zulassung von Demonstrationen auf dem Platz des Sieges zu entscheiden. Der liegt schließlich der neuen Erlöserkathedrale zu Füßen, die Moskau seiner westlichen Provinz zum Stadtgeburtstag von Kaliningrad/Königsberg 2005 spendierte. Die wöchentlichen Protestversammlungen gegen die Restitution zugunsten der Russisch-Orthodoxen Kirche sind dort seitdem verboten.
Historischer Hintergrund
1945: Am 9. April kapituliert die Wehrmacht in Königsberg vor der Roten Armee
1945: Auf der Potsdamer Konferenz wird am 2. August über die Zukunft des ehemaligen Ostpreußen entschieden. Den südlichen Teil bekommt Polen, der nördliche Teil geht an die Sowjetunion. Dabei wird der Teil bis zur Memel der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik eingegliedert und untersteht Moskau. Das ehemalige Memelland geht an die Litauische Sowjetrepublik.
1946: Umbenennung von Königsberg in Kaliningrad. Die Uhren am Bahnhof zeigen Moskauer Zeit an.
1968: Sprengung der Ruine des Königsberger Schlosses und Bau des Dom Sowjetow, des Hauses der Räte.
1991: Auflösung der Sowjetunion.
2005: Russland feiert "750 Jahre Kaliningrad und 60 Jahre Kaliningrader Gebiet". Der Name Königsberg wird offiziell nicht erwähnt.
2009: Der damalige Gouverneur Georgi Boos deutet ein Referendum über die Umbenennung von Kaliningrad und Sowjetsk an
2010 Boos wird von moskautreuen Gouverneur Nikolaj Zukanow abgelöst
2011: Das umstrittene Gesetz zur "Rückübertragung" von Kirchenbesitz an die Orthodoxe Kirche tritt in Kraft
Dr. Bert Hoppe ist Historiker und lebt in Berlin. Zum Thema erschien von ihm zuletzt: Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946-1970. Bis 2012 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit am Editionsprojekt Judenverfolgung 1933-1945. Inzwischen ist er Lektor bei Rowohlt Berlin.
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