Marcel Reich-Ranickis Autobiografie war als Buch ein großer Erfolg. In diesem Jahr wurde auch die Verfilmung des Buches fertiggestellt.
Bei Marcel Reich-Ranicki treffen – was nicht bei jedem Migranten der Fall ist – alle drei Punkte zu, und das sogar mehr als nur einmal in seinem Leben. Er war, so kann man es zusammenfassen, (mindestens) zweimal in der Lage des Flüchtlings: Erst 1938 in Polen, wohin ihn das nationalsozialistische Deutschland deportiert hatte. Dann 1958 in Deutschland, als er dem kommunistischen Polen den Rücken gekehrt hatte. Er wollte sich assimilieren: Erstmals nach 1929 in Deutschland, als er wegen seines fremdländischen Akzents zunächst von seinen Schulkameraden ausgelacht wurde. Dann, in den Jahren 1938 bis 1958, in Polen – wobei er zugleich eine starke Bindung an die deutsche Kultur bewahrte. Danach wiederum in Deutschland – wenngleich seine Familie, auch mit dem 1948 geborenen Sohn Andrew, bis heute am liebsten polnisch spricht.
Und Reich-Ranicki wollte Karriere machen, aufsteigen. Das ist ihm gelungen. Es mag ungewöhnlich sein, auch für seine Erlebnisse in den Vierzigerjahren das Wort "Karriere" zu verwenden. Drücken wir es anders aus: Sowohl im Judenrat, der Verwaltung des Warschauer Gettos, als auch im kommunistischen Sicherheitsministerium hatte er, gemessen an seinem jungen Alter, hohe Ämter inne. Als er sich 1950 neu orientieren musste, begann er das, was wir auch heute ohne Probleme als Karriere bezeichnen würden: die Laufbahn des Journalisten und Literaturkritikers. Und das gleich zweimal hintereinander: Erst in Polen, wo er bis 1958 drei Bücher und etwa 150 Artikel und sonstige Texte veröffentlichte, und danach in der Bundesrepublik Deutschland.
Immer wieder also eine Lebenslage, in der er und seine Frau Teofila neu anfangen mussten. Immer wieder eine Situation, in der Reich-Ranicki seine Vergangenheit und damit seine Identität "neu erfinden" musste. Das lässt an einen Ausspruch Egon Erwin Kischs denken, des berühmten "rasenden Reporters". Er sagte einmal von sich: "Ich komme aus Prag, ich bin Tscheche, ich bin Deutscher, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich bin aus gutem Hause – etwas davon hat mir immer geholfen." Etwas davon hilft immer – aber nie hilft alles zugleich; wo ein Baustein dieser multiplen Identität hilfreich ist, müssen andere versteckt und beschwiegen werden. Läßt man das weltanschauliche Bekenntnis ("Kommunist") und die gewissermaßen soziologische Einordnung ("aus gutem Hause") beiseite, ist man sehr nah an jenem Satz, mit dem sich Reich-Ranicki vor einem halben Jahrhundert im Gespräch Günter Grass vorstellte: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude".
Als Deutscher fühlt Reich-Ranicki sich nicht, wie er einmal sagte, allenfalls als deutscher Literaturkritiker. Ob, wann und wie sehr sich Marceli Reich (seit 1948 Marceli Ranicki, nach 1958 bekannt als Marcel Reich-Ranicki) als Pole und polnischer Jude fühlte oder fühlt, darüber soll er selbst das letzte Wort behalten. Eindeutig ist, dass er über weite Strecken seines Lebens an der polnischen Erfahrungsgemeinschaft Anteil hatte. Als er nach dem Umzug der Familie aus Polen nach Berlin 1929 dort in die Schule ging, machten sich seine Mitschüler lustig über das für sie unaussprechliche Włocławek, seinen Geburtsort. Das hat ihn geschmerzt und gekränkt; sonst hätte er die Episode wohl nicht in seiner Autobiografie "Mein Leben" festgehalten. Später, beim Wechsel zum Gymnasium, fragte seine Mutter den Schuldirektor ganz offen: "Mein Sohn ist Jude und Pole. Wie wird er in Ihrer Schule behandelt werden?"
Von dieser Zeit an muss der kleine Marceli zweierlei gewusst und gespürt haben: Es ist nicht gerade populär in Deutschland, aus Polen zu kommen; und als "Ostjude" ist man auch unter deutschen Juden nicht gut angesehen. Pole unter Deutschen, Ostjude unter deutschen Juden – da ist man von vornherein der "arme Verwandte aus dem unterentwickelten Osten". Man hat mit allen möglichen Vorurteilen zu kämpfen, für die man persönlich nichts kann, und wird selbst in der eigenen Familie (von der "Wessi"-Verwandtschaft) von oben herab behandelt.
Folgen wir nun mit diesem Blickwinkel dem weiteren Lebensweg. Im Herbst 1938 wird der Abiturient Reich – wie etwa 17.000 polnische Juden – von den deutschen Behörden nach Polen abgeschoben. Er kommt bei seinen Eltern und seinem Bruder in Warschau unter; diese waren angesichts der Schikanen gegen Juden schon früher und auf eigene Faust nach Polen zurückgekehrt. 1940 wird das Getto eingerichtet, und Reich wird im Judenrat Leiter des Übersetzungs- und Korrespondenzbüros. Das ist die erste Etappe in seinem Leben, um die es später in Polen Kontroversen geben wird: Der Judenrat war eine von den deutschen Behörden und der SS beaufsichtigte Behörde, und wer ihr angehörte, war – obwohl Jude – in eine Zusammenarbeit eingebunden, die manche, etwa die Philosophin Hannah Arendt, als Kollaboration mit den Nazis bewertet haben.
In Polen wurde Reich-Ranicki vor allem in den Fünfziger-, vereinzelt noch bis in die Neunzigerjahre eine solche Kollaboration mit dem "Todfeind der Nation" vorgeworfen, und er hat sich bis zuletzt dagegen zur Wehr gesetzt.
Nachdem 1942 die "Endlösung der Judenfrage" und damit der Holocaust begonnen hatte, fliehen Marceli und Teofila Reich im Februar 1943 aus dem Getto. Die längste Zeit des Abschnitts bis September 1944 verbringen sie bei der vierköpfigen polnischen Familie Gawin, die mit dem Verstecken von Juden selbst ihr Leben riskiert.
Im Oktober 1944 beginnt für Marceli Reich eine weitere Etappe, die für ihn später Gegenstand des Beschweigens und der Selbstrechtfertigung sein wird. Er meldet sich zur "Polnischen Armee", die an der Seite der Sowjetarmee entsteht, und arbeitet wenig später für das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MBP). Dieses soll, mit denselben Funktionen ausgestattet wie das Ministerium für Staatssicherheit ("Stasi") in der später entstehenden DDR, die diktatorische Herrschaft der Kommunisten im Land sichern. Reich wird im Rahmen dieses Ministeriums in der Postzensur und später im Geheimdienst (Nachrichtendienst) arbeiten – eine Arbeit, die weniger der traditionellen Spionage als vielmehr der Überwachung der Bevölkerung und der Bekämpfung oppositioneller Bestrebungen von Polen im In- und Ausland diente. Gegen Ende dieser fünf Jahre ist Ranicki in London der Chef des polnischen Agentennetzes in Großbritannien.
Im Westen Deutschlands, wo man für (ehemalige) Funktionsträger aus dem kommunistischen Ostblock mit gutem Grund wenig Sympathien hegte, musste Reich-Ranicki – unter diesem Namen schrieb er von 1958 an über Literatur – sein Leben dann noch einmal neu erzählen. Das heißt in diesem Fall: Er schwieg jahrzehntelang über seine Zeit beim Sicherheitsministerium. Erst 1991 meldete sich in der polnischen Zeitung "Gazeta Wyborcza" ein früherer Mitarbeiter und Ex-Agent zu Wort und berichtete über den Einsatz Ranickis für das Ministerium. 1994 wurde die Sache auch in Deutschland publik und in allen Zeitungen heftig debattiert. Reich-Ranicki wehrte sich unter anderem mit dem Argument, er müsse doch gerade den Deutschen nicht Rechenschaft darüber ablegen, was er in Polen getan oder gelassen habe.
Der "Literaturpapst" genannte Kritiker hat fast drei Jahrzehnte seines Lebens in unserem östlichen Nachbarland verbracht. Heute gibt es wohl keine zweite ähnlich prominente Person, die persönlich und beruflich derart prägende Jahre sowohl in Polen wie in Deutschland erlebt hat. Konnte jemand, der mehr als einmal – erst hier, dann dort – Ausgrenzung erfahren hatte, der hier wie dort Antisemitismus erleben musste, dem andererseits die jüdischen Traditionen fremd waren, überhaupt ein Heimatgefühl entwickeln? Vielleicht ist es nur folgerichtig, dass ein Mensch nach diesen Erlebnissen nur noch eine geistige Heimat sein eigen nennen kann: die Literatur, in seinem Fall vor allem die deutsche. So hat es Reich-Ranicki selbst gesagt. Doch in dem Land, in dem er und seine Frau geboren wurden, in Polen, ist kein Mitglied der Familie Reich-Ranicki nach 1958 jemals wieder gewesen. Selbst als die Familie Gawin, der das Ehepaar sein Leben verdankt, 2006 von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem und vom israelischen Botschafter in Warschau mit der Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern der Welt" geehrt wurden, nahm Reich-Ranicki die Einladung nicht an. Es mag paradox erscheinen: Der Überlebende des Holocaust hat sich im "Land der Täter" niedergelassen, doch sein Geburtsland, das diese Täter verwüstet hatten, nie wieder besucht.