1989 war ich zum ersten Mal auf einer Kundgebung. Ich weiß nicht mehr, worum es dort ging, aber man sah mehrheitlich blau-gelbe Fahnen. Das kommunistische System zählte seine letzten Tage, und die Einwohner von Charkiw — einer sowjetischen Industriemetropole — fingen plötzlich an, auf den Straßen und Plätzen zudemonstrieren; der demokratische Charakter der Stadt kam zum Vorschein. Damals war ich Schüler, und die Kundgebungen in Charkiw, bei denen ich da bei war, schienen mir ein Tor in eine andere Welt zu sein, genauer gesagt, waren sie ein Versuch, dieses Tor zu durchschreiten, Spielregeln zu ändern, das System ins Wanken zu bringen. Ein Bedürfnis nach Veränderungen hing in der Luft. Sie waren unvermeidlich und unumkehrbar, obwohl ringsum die sowjetische Realität weiterhin existierte: mit ihrer Planwirtschaft, mit dem Komsomol und der KGB. Doch Hunderte von Menschen mit blau-gelben Fahnen waren ein Zeugnis dafür, dass sich alles doch änderte, dass der Prozess, der seinen Anfang in den Demonstrationen und Protestaktionen genommen hatte, nicht mehr aufzuhalten war (auch wenn mancher sich das gewünscht hätte), dass alles erst jetzt begann und dass hier und jetzt - auf den Straßen und Plätzen ukrainischer Städte - über die Zukunft entschieden würde. Ich verstand nicht alles, was von der Tribüne gesagt wurde, ich kannte mich nicht aus mit den Details, ich kannte mich nicht aus mit den Programmen der neu entstandenen Parteien, die für Demokratisierung und Souveränität eintraten, doch die Atmosphäre einer gewissen Grenzerfahrung, des Widerstandes, eines großen gesellschaftlichen Aufschwungs, faszinierte mich. Man konnte förmlich spüren, dass die Luft anders wurde, dass sich die Sprache veränderte und die Bedeutung vieler Dinge.
Ich bin es gewohnt, zu Protestaktionen zu gehen. Ich bin es gewohnt, dass Menschen laut und offen ihren Unmut und ihre Wünsche zum Ausdruck bringen. Das ist eine alte und bewährte Form, um seine Rechte zu verteidigen: die direkte Rede, in der Wut und unmittelbare Unterstützung ihren Ausdruck finden. Ich erinnere mich gut an die Kundgebungen im August 1991 nach dem gescheiterten Putschversuch und an die Erklärung der ukrainischen Unabhängigkeit, ich erinnere mich an Gesichter Charkiwer lntelligenzija, ich erinnere mich an dieses erschütternde Gefühl: Vor unseren Augen, mit unserer Beteiligung wird Geschichte geschrieben. Ich erinnere mich an diese Mischung aus Angst und unglaublicher Energie Hunderter von Stimmen und nach oben gestreckten Händen. Ich erinnere mich an die Demonstrationen am Anfang der Nullerjahre, als in der unabhängigen Ukraine eine erste Generation herangewachsen war, die auch auf die Straße ging, um ihre Sichtweise auf die Dinge zu verteidigen. Ich erinnere mich an den Herbst 2004, an die "Orangene Revolution", an den Majdan in Charkiw, an Wut, Empörung und Entschlossenheit der Demonstranten, die am Ende gewannen und unserem Land wenigstens für eine gewisse Zeit eine andere Entwicklungsrichtung gaben. Und natürlich erinnere ich mich bin in alle Einzelheiten an die Ereignisse im Winter 2013/14 - Unnachgiebigkeit, lntonationen, Bewegungen. Ereignisse, die auch jetzt die Zukunft unseres Landes bestimmen.
Mir scheint, dass der Auslöser all dieser Ereignisse, Tendenzen, Proteste und Revolutionen das Ende der achtziger Jahre ist. Diese Welle, diese Verschiebungen, bestimmen vieles auch heute noch - sowohl in der "großen Politik" als auch bei den Straßenprotesten. Das alte System, das Ende der achtziger Jahre einen Riss bekam, zeigte sich erstaunlich träge und fähig, sich selbst zu reproduzieren - fähig, revanchistisch zu sein. In hohem Maße sind gesellschaftliche Proteste, Demonstrationen, Machtwechsel und Unterstützungen verschiedener Kandidaten, welche die ukrainische Geschichte der letzten dreißig Jahre charakterisieren, in der Transformation der letzten sowjetischen Jahreverankert. Alles, was damals nicht getan, nicht reformiert, nicht ausdiskutiert wurde, beeinflusst weiterhin Politik und Gesellschaft in unserem Land und somit auch unsere Zukunft. Probleme mit der Lustration und Dekommunisierung, sprachliche und religiöse Fragen, Diskussionen über Geschichte und Außenpolitik — dies alles sind Dinge, die man damals, vor dreißig Jahren, hätte lösen müssen, und die Tatsache, dass sie immer noch nicht geregelt sind, erklärt zum Teil die Probleme von heute und zeigt uns, wie die Situation von morgen aussehen könnte.
Dreißig Jahre sind genug Zeit, um eine Bilanz zu ziehen, aber es ist zu kurz, um von die ser Bilanz nicht mehr beeinflusst zu werden. Mir scheint, dass die Welle, die sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erhob, noch immer die Richtung unserer Bewegung bestimmt. Wahrscheinlich kann sie die Geschwindigkeit unserer Bewegung nicht mehr beeinflussen - diese hat nachgelassen und ist nicht mehr so mächtig wie früher, außerdem gibt es einen dauerhaften Widerstand - aber mir scheint, den Strom, in den wir alle vor dreißig Jahren fielen, kann keiner aufhalten. Zu laut war der Schuss, zu hoch die Erwartungen. Zu stark und zu deutlich hat sich die Luft geändert.
Aus dem Ukrainischen von Sofija Onufriv