diejenigen, die heute über achtzig sind
erinnern sie sich noch daran, wie des nachts die nachbarn plötzlich verschwanden
verwandte zu volksfeinden wurden
- personen mit falschen nachnamen
gefährlichen ideen
schädlichen büchern
die nicht die richtigen sprachen sprachen
wie fast jeder im haus ein kleines haustier hatte
mit dem spitznamen angst
diejenigen, die heute über sechzig sind
erinnern siesich, wie ihnen von den schwarzweißbildschirmen
von dem land erzählt wurde, in dem sie lebten
wo so viel getan werden konnte
man konnte die regierung lieben und den sport mögen
man konnte die wahre geschichte schätzen, solange sie der zeit der neuen machthaber
entstammte
man konnte schweigen
man konnte nichtdenken
und natürlich konnte man die grenzen des landes, der stadt und der wohnung nicht verlassen
denn der staat wird sich immer um die menschen kümmern
liest zeitungen und bücher und löscht schädliche wörter aus ihnen
stellt eine liste gefährlicher berufe auf
gott bewahre, dass es diese für frauen gibt
tischler taucher oder maurer
der staat führt die todesstrafe ein
schickt die unzufriedenen fort
die arbeit an der frischen luft in der steppe stärkt den charakter
diejenigen, die heute unter vierzig sind
lasen vor dreißig jahren noch märchen und glaubten vielleicht
das gute würde siegen
doch das, was gut für den einen ist, schafft trauer bei dem anderen
und mit der weganweisung immer der nase nach, gerät man in einen geheimnisvollen wald
dort ist der Baba Jaga und dem Koschtschei
der geruch der lebendenden zuwider
dort gibt es ein hüttchen auf hühnerbeinchen
verzauberte tiere, die einst menschen waren
in diesem wald wächst angst
die gleiche, die später in häusern und wohnungen lebt
in diesem wald ist es so leicht, sich zu verirren, zu verlieren
vor einem fels an einer kreuzung zu stehen und einen wegzu wählen
der dann zum labyrinth wird
und in dreißig jahren wieder zurück führt zum fels
und diejenigen, die heute unter vierzig sind, werden überrascht sein
wie sich die nachbarschaft verändert hat
geht man nach links - zahlreiche blumen
geht man nach rechts - unzählige vogelstimmen
und dieser weg - ist eine moebiusschleife
hier kann man
immer noch die regierung lieben und den spart mögen
man kann die geschichte aus der zeit des großen krieges schätzen
man kann schweigen
man kann nichtdenken
und die grenzen des landes, der stadt und der wohnung nicht verlassen
denn nur der staat sorgt sich ja richtig um einen
also
hört er nicht auf, zeitungen und bücher zu überprüfen
er löscht die liste der schädlichen berufe nicht
er schafft die todesstrafe nicht ab
und behandelt andersdenkende, indem er sie zu einem spaziergang mit in den wald nimmt
in der grammatik dieses landes
gibt es nur zwei modi
manche entscheiden sich für den konditional
andere für den imperativ
es gibt keine obdachlosen und hunde auf den straßen dieses landes
keine händler und streikposten
nur sauberkeit und ordnung
die ausländer sind glücklich
die einheimischen stolz
als würde man nicht merken, wie leute in uniform den vagabunden in den waggon werfen
diese sauberkeit ist ein luftloser raum
wo nichts lebt
wo es nichts gibt als
SAUBERKEIT
und
ANGST
die die uhr anhielt um 19:95
und während auf den karten umrisse geändert wurden
staaten verschwanden und neue erschienen
wurden auf den feldern die schmetterlinge weniger
der flug eines staubkorns auf einer strecke von dreißig jahren
wer erinnert sich daran
Anmerkungen
1. Nach ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 hatte die Republik Belarus die historische weiß-rot-weiße Staatsfahne und das Wappen „Pahonja" (ein schwertschwingender Ritter auf dem Pferd) als ihre Embleme gewählt. 1995 gilt als Wendepunkt der belarusischen Bestrebungen nach einem unabhängigen Staat. Am 14. Mai 1995 fand auf Initiative von Aljaksandr Lukaschenka das erste Referendum in der Geschichte des souveränen Staates Belarus statt. Nach den umstrittenen Ergebnissen dieses Referendums wurde der russischen Sprache der Status einer Amtssprache zugesprochen - die vorher einzig das Belarussische war. Die Staatssymbole wurden in alte pro-sowjetische geändert, der Präsident erhielt das Recht, das Parlament aufzulösen. Seitdem sind der streitende Ritter auf dem Pferd und die weiß-rot-weiße Flagge zu Symbolen der Opposition geworden.
2. Die Baba Jaga ist eine Gestalt der slawischen Mythologie. Sie tritt meist als alte, dürre Frau in Erscheinung, die im Wald lebt und über Zauberkräfte verfügt. Sie isst Menschen und wohnt in einer Hütte, die auf Hühnerbeinen steht.
3. Der Koschtschei - auch Koschtschei, der Ewige, der Todeslose, der Unsterbliche - ist eine mit magischen Kräften ausgestattete Figur, die in vielen slawischen Märchen vorkommt. Er ist vom Wesen her böse und hat die Gestalt eines knochigen alten Mannes, der junge Mädchen bedroht und gefangen hält. Er bezieht seine Stärke daraus, dass seine Seele nicht in seinem Körper wohnt.
Aus dem Belarusischen von Matthias Göritz