Mit neun Jahren wurde ich feierlich in die Pionierorganisation aufgenommen. Ich musste das Gelöbnis auswendig lernen ("Ich gelobe zu leben, zu lernen und zu kämpfen, wie es Lenin lehrt") und ein rotes Halstuch kaufen. Die Feierstunde war so pathetisch, dass mein Klassenkamerad Sascha prompt in Ohnmacht fiel.
Jeder von uns hatte einen klaren und vorgezeichneten Weg in die Zukunft.
Das Erwachsenwerden schien einfach und ungefährlich.
Es waren noch drei Jahre bis zum Zerfall der Sowjetunion.
Die Perestroika war, glaube ich, die erfreulichste aller Katastrophen, die Europa heimgesucht haben.
Mein Vater war Ingenieur; nach 1991 lebte er mehrere Jahre von einem Gehalt, das umgerechnet sieben Dollar betrug.
Später fuhr er, der einen Hochschulabschluss hatte, als fliegender Händler nach Polen und verkaufte dort Töpfe, Wodka, Schmalzfleisch und andere Relikte der erloschenen Epoche, für die im Ausland noch Nachfrage bestand. Mit Wasser benetztes und mit Zucker bestreutes Schwarzbrot avancierte angesichts des Mangels für mich zu einer Köstlichkeit. Wenn irgendjemand Buchweizen aufgetrieben hatte, war das für unsere Familie ein Fest.
Doch außer Essen und Klamotten war da auch noch etwas anderes. Den Wind of change gab es tatsächlich, und an seinen betörenden Duft kann ich mich noch sehr gut erinnern. Die große Musik der Neunziger. Die großen Bücher und selbst die großen, epochalen Fernsehsendungen. Ich brühte den sowjetischen Tee ("schwarz, lose") ein zweites Mal auf, legte Musik von Viktor Zoj, Boris Grebentschikow oder Sergej Kurjochin ein und wusste, dass Millionen Menschen um mich herum gleich dachten und atmeten.
Damals, als ich jung war, wollte es mir nicht in den Kopf, dass ich tatsächlich in der "sowjetischsten aller Republiken" zur Welt gekommen sein sollte, in der "weißrussischen Vendée", wie der belarussische Dissident und Autor Ales Adamowitsch das Land nannte, wo mit er auf das westfranzösische Département Vendée anspielte, das seinerzeit die Errungenschaften der Französischen Revolution abgelehnt hatte. Damals wusste ich noch nicht, dass ein paar Jahre später alles zurückkommen sollte: die Pionierorganisation, die "Exekutivkomitees", die Zensur, die Angst, die fehlende Luft zum Atmen.
Es fällt mir schwer zu sagen, was genau in Belarus schiefgelaufen ist und worin die Ursachen liegen. Warum die sterbende Sowjetunion ausgerechnet in Minsk wieder neu keimen konnte. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass uns die Unabhängigkeit 1989 buchstäblich in den Schoß gefallen ist. Die Belarussen haben sie nicht erkämpft, anders als in Litauen. Es wurde einfach irgendwann im Fernsehen verkündet, es gäbe jetzt eine neue Währung, eine neue Schule, neue Grenzen und ein neues Land. Wer nichts geopfert hat, gibt eine Sache leicht fertig preis.
Weil sie ihm ja eigentlich auch nicht gehört.
Vielleicht war es aber auch einfach nur so, dass in Belarus keine positive ideelle Alternative zur Sowjethymne und zum Sowjetmythos entwickelt worden ist. Während in den Nachbar ländern die gewendete Parteinomenklatur ihren Mitbürgern leidenschaftlich von den Vorzügen eines Nationalstaates vorschwärmte, distanzierte sich der belarussische Führer Wjatsches law Kebitsch von der Belarussischen Volksfront (BNF) und versuchte, die Linie durchzusetzen, die noch unter Stalin entwickelt worden war. Als 1994 sein junger Opponent Alexandr Lukaschenko auftauchte, wurde er als Alternative zur Parteinomenklatur gewählt. In der Hoffnung, er würde Reformen durchführen und die Kommunisten zurückdrängen. Wer konnte ahnen, dass er in der Restaurierung der Sowjetunion die anderen noch weit übertreffen würde? Und dass die sowjetische Ideologie, die Sprache der "Fünfjahrpläne" und "Telefonkonferenzen", noch jahrzehntelangdominieren würde?
Es gibt noch eine weitere Version, warum die Belarussen nicht „Good bye, Lenin" gesagt haben. Während nämlich in Moskau noch offen und ausführlich über die Verbrechen des Sowjetregimes, über die Gulags, Stalin und den Personenkult gesprochen wurde, während in den Nachbarländern Filme über den NKWD gedreht und Untersuchungen über die Ereignisse 1937 veröffentlich wurden, gab es in Belarus nicht den kleinsten Hauch einer Aufarbeitung der Vergangenheit.
Kuropaty, der Ort, an dem die Opfer der Stalinschen Säuberungen zu Tausenden verscharrt wurden und den der BNF-Gründer Sjanon Pasnjak entdeckt hat, ist bis heute kein offizieller Gedenkort. Trotz der Schutzzone tobt um Kuropaty noch immer ein "Erinnerungskrieg". Nachdem sie die Hoffnung aufgeben mussten, dort einen allgemein anerkannten Gedenkort zu schaffen, stellten die Aktivisten, denen Kuropaty am Herzen liegt, dort mehr als 70 Kreuze auf — ihre Umrisse waren von der Ringautobahn aus gut zu sehen und bildeten eine schweigende Mahnung daran, welche Spuren die Sowjetunion in Minsk hinterlassen hat. 2019 wurden die Kreuze mit Bulldozern entfernt, was nicht allein gläubige Christen schockiert hat.
Ich bin mir sicher, dass die Massenproteste vom Sommer und Herbst 2020 sich nicht nur aus der Unzufriedenheit der meisten Belarussen mit den verkündeten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl speisten. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie es satt hatten, in Angst zu leben. Weil sie diese Angst, die das System mit der Sprache des verschwundenen Imperiums übernommen hat, nicht länger er trugen.
Die Arbeit, die nicht abgeschlossen wurde, muss jetzt von Neuem in Angriff genommen werden.
2020 haben sich jene einer Entsowjetisierung unterzogen, deren Eltern 1991 auf halbem Weg stehengeblieben waren. Und es entsteht der Eindruck, als müssten trotz der unzähligen gebrochenen Schicksale, der riesigen Emigrationswelle, der Hunderten politischen Gefangenen die Kinder jener, die 2020 inhaftiert worden sind, in zwanzig Jahren die Aufgaben von 1991 wieder neu in Angriff nehmen.
Weil die Perestroika in Belarus immer noch nicht Wirklichkeit geworden ist.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe