In meiner Erinnerung schwingt der Sommer 1989 wie Mickey Mouse, die an der einen Hand Lenin, an der anderen Jesus hält. Diese imaginierte Figur zeigt ihn, den Sommer von damals. Im Mai waren wir in die Pionierorganisation aufgenommen worden, das fühlte sich schon irgendwie merkwürdig an, aber die Rituale wurden dennoch eingehalten: Wir banden uns die roten Halstücher um und machten ein Foto am Lenin-Denkmal.
Der Sommer änderte alles. Warum, weiß ich nicht. Bis zum Augustputsch und zum Zerfall der Sowjetunion würde es noch zwei Jahre dauern. Noch waren Chip und Chap und ihre Rettungstruppe nicht im Fernsehen, in den Sommerferien konnte man sich nur zum x-ten Mal den sowjetischen Fünfteiler Der Gast aus der Zukunft ansehen. Aber als wir am 1. September in die Schule zurückkehrten, waren die Lenin-Porträts von ihren Ehrenplätzen über der Tafel verschwunden – man hatte sie sehr vorsichtig und in gewisser Weise heimlich aus den Klassenzimmern entfernt, indem man sie nach der Renovierung einfach nicht wieder aufhängte.
Vielleicht lag das an den amerikanischen Schülern, die zum Austausch an unsere Schule gekommen waren. Sie trugen keine Schuluniform, nein, sie trugen sogar Bluejeans – dieses schreiende Symbol des faulenden, verführerischen Westens. Und das war noch nicht alles. Wir schrieben damals mit Füllfederhaltern, und ein Mädchen betupfte einfach nach dem ersten Klecks, den sie sich beim Schreiben mit diesem vorsintflutlichen Teil auf die Hose gesetzt hatte, die ganze Hose mit Tintenflecken, statt sie zu waschen. Zu ihrer Rechtfertigung muss man allerdings sagen, dass es damals in Lwiw nur zu bestimmten Tageszeiten fließendes Wasser gab und Waschvollautomaten einer Interstellarrakete aus einem Fantasyfilm gleichkamen. Trotzdem war diese beinahe schon künstlerische Performance eine unerhörte und einzigartige Frechheit, das erste Scherflein der jugendlichen Rebellion, auf die offenbar alle gewartet hatten. Natürlich protestierten auch wir gegen die Schuluniform, indem wir jeden Tag etwas mehr von dem anzogen, was der bescheidene Kleiderschrank jener Jahre hergab, und uns so nach und nach von den braunen Kleidern mit weißen Schürzen und steifen Jacketts trennten. Die Halstücher waren ohnehin schon verschwunden. Interessanterweise nahmen die Lehrer und die Schulleitung dies alles ohne jeglichen Widerstand und ohne Schuldzuweisung hin, als hätten sie selbst nur auf diesen Moment der Freiheit gewartet, der sie erfasste und herausschleuderte aus dieser Welt, die sie längst satt hatten und der sie schon lange entfliehen wollten. Ob es nun der fehlende Komfort im Alltag und die nächtlichen Schlangen nach den lebensnotwendigen Dingen waren oder das Misstrauen der Menschen untereinander und die Lügen des Systems – alles zusammen jedenfalls hatte für die meisten, unabhängig von Alter und Beruf, das erträgliche Maß endgültig überschritten.
Ein wichtiger Katalysator war für viele das plötzliche gemeinsame Bekenntnis zum Glauben – endlich brauchte man den Kirchgang nicht mehr geheim zu halten, es kam in Mode, im Kirchenchor zu singen, und das gemeinsame Morgengebet wurde zu etwas Freiwillig-Verpflichtendem, was in gewisser Weise all die sowjetischen ideologisierten Schulaktivitäten ersetzte. Nunmehr wurde man nicht mehr feierlich in die Reihen der Pioniere aufgenommen, sondern ging zur Erstkommunion, die Taufe der Kiewer Rus jährte sich schließlich gerade zum 1001. Mal.
Für mich, die ich als Kind weder mit dem einen noch dem anderen wirklich etwas anfangen konnte, ähnelte dieser Sommer der ironischen und munteren Gestalt einer Disneyfigur, der man nachlaufen wollte, um zu erfahren, was dann kommt. Die Disneyfiguren kannten schließlich den Weg zum Glück. Vielleicht half genau diese Illusion der jugendlichen Psyche in den folgenden zehn Jahren, die geprägt waren von Hyperinflation, politischer Instabilität und Orientierungslosigkeit, nicht unter die Räder zu kommen. Das allmonatliche Anfügen weiterer Nullen auf den Geldscheinen schien mir nichts als ein neues Abenteuer von Onkel Dagobert, die Notwendigkeit, erfinderisch zu sein mit der alten Kleidung meines Vaters und den Stoffresten, die sich noch im Schrank fanden, erinnerten an den Einfallsreichtum der geistreichen Maus Trixi, und die Schlange nach Butter, in der viele Familien am 31. Dezember standen, war nichts anderes als ein Weihnachtsrätsel für die Protagonisten aus Entenhausen.
Wie in vielen früheren Sommern kam auch in diesem Jahr eine ehemalige Klassenkameradin meiner Mutter zu Besuch, die schon seit zehn Jahren in der DDR lebte. Ihr Mann und sie hatten einen coolen Wohnwagen, vor den sie ihren Wartburg spannten, um sich so auf den weiten Weg durch mehrere Länder zu machen. Den Wohnwagen nahmen sie eigens dafür mit, damit ihre fünfjährige Tochter an der Grenze, wo man manchmal einen ganzen Tag warten musste, in Ruhe schlafen konnte. Sie parkten das Gefährt auf unserem Hof, der abgeschlossen werden konnte, und diese weiße, mit allem Notwendigen ausgestattete Kapsel schien mir eine ideale Kombination aus einem Schutzraum vor den anstrengenden Zeiten und einem Shuttle oder sogar Portal, das einen umstandslos in ein besseres Leben führen konnte. Ein Beweis für das mögliche Wunder war der Umstand, dass ich aus seinen akkuraten Türchen wie aus einer Zaubertruhe von Zeit zu Zeit Wrigley’s Spearmint oder Schogetten bekam. Als Kind reichten mir diese Attribute, um fest daran zu glauben, dass die Welt dort, wo man solche makellosen Häuschen auf Rädern baute, besser war und alle Menschen dort frischen Atem hatten.
Heute denke ich viel mehr darüber nach, wie viele Szenen aus dem Film Das Leben der Anderen sich im Leben dieser Menschen ereignet haben mochten. Haben ihnen die Beherrschung des Russischen als Muttersprache und der Besuch bei den Verwandten und Freunden in der Sowjetunion womöglich besondere Verpflichtungen auferlegt?
Zu jener Zeit war die Vereinigung beider deutscher Staaten schon in aller Munde, und ich kann mich noch daran erinnern, wie unsere Freunde einmal damit herausplatzten, dass es schwer zu verstehen sei, warum sich die Sowjetrepubliken von Moskau abspalten wollten, wo doch Europa gerade versuche, alle Grenzen abzuschaffen. In den vergangenen dreißig Jahren ist die Antwort auf diese Frage sicher deutlich geworden, sogar für diejenigen, die nicht persönlich davon betroffen sind.
Seitdem hat uns die Welt vor viele neue Fragen und Herausforderungen gestellt. Jeden Tag wird neues Öl ins Feuer gegossen. Ohne die Linie der Partei und die Dogmen der Religion fühle ich mich manchmal verloren wie das neunjährige Kind von damals. Aber der Sommer 1989 hat mich gelehrt, dass es nichts nützt, von anderen Antworten und Lösungen zu erwarten. Oft liegt die Rettung in dem Mut, einfach Tinte auf einen hellen Stoff tropfen zu lassen und zuzuschauen, wie sich die Ränder des Flecks nach außen vorschieben.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe