Dreißig Jahre danach. Die Welt kämpft gegen eine Coronavirus-Pandemie, die “unsere“ Lebensart verändert hat, unsere Rituale und alle Annehmlichkeiten, an die wir uns gewöhnt haben und die uns als Selbstverständlichkeit vorgekommen sind. Es ist schwer aufzuzählen, was alles dazugehört: zur Arbeit und in die Schule gehen, Freunde und Verwandte treffen, reisen, offene Grenzen überqueren bis hin zu jedweden Plänen für die Zukunft ... Im März 2020 wurde, während “unsere“ bekannte Welt in Stücke zerfiel, in einem der zahlreichen Corona-Scherze, die sich in den sozialen Netzwerken verbreiteten, eine Szene aus dem Film The Ballad of Buster Scruggs der Gebrüder Cohen gezeigt. Wer diese schwarze Westernkomödie gesehen hat, kann sich sicher an den Anfang der Episode erinnern, in welcher der gescheiterte Bankräuber, den James Franco spielt, durch eine Ironie des Schicksals dem Tod entgeht, um am Ende der Episode durch dieselbe Ironie des Schicksals ungerechterweise zum Tode verurteilt zu werden. Versöhnt mit dem Tod, dem er schon einmal ins Auge gesehen hat, stellt er dem anderen Verurteilten, der die Situation viel schlechter erträgt, die Frage: “First time, ha?“ In diesem Scherz vom Beginn der Pandemie wurde seine Frage den “ehemaligen Jugoslawen“ zugeschrieben. Tatsächlich: Wer das Ende Jugoslawiens erlebt hat, hat das Ende einer Welt, die wir gekannt haben, erfahren, und die Entstehung einer ganz anderen, neuen Welt. Die Situation zu Beginn des Krieges erinnert in vielerlei Hinsicht an das, was wir am Anfang der Pandemie beobachten konnten. 1991 war eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen nicht mehr möglich, und das Neue war gekennzeichnet durch Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit; es war gespickt mit Hoffnung und Angst zu gleichen Teilen.
Ich gehöre zu dieser letzten – oder, wie man gerne sagt, verlorenen – jugoslawischen Generation, deren Kindheit sich auf zwei Staaten verteilt hat, wenn man Kindheit überhaupt in dieser Art und Weise aufteilen kann. Sie war geprägt von Krieg, quälenden Bildern und unzähligen Nachrichten, von dem Zerfall aller bekannten Umstände, von einem schwindelerregenden Umschreiben der Werte und einer Re-Symbolisierung der gesamten öffentlichen Sphäre. Der Sozialismus, seine Symbole und Werte, wurden in die Abstellkammer der Vergangenheit geworfen, und vor unseren Augen wurden neue Helden und vor allem neue Werte erschaffen, die in den Schulen, in den Medien, in großen und kleinen Diskussionen gefestigt wurden ... Es gab viel Gerede über Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie, aber auch über “wir“ und “sie“ – eine Aufteilung, die bis zum heutigen Tag nicht an Kraft eingebüßt hat. Es wurde auch viel über das Erwachen des Unternehmergeistes gesprochen und darüber, dass wir die Mentalität des “Hängens an der Brust des Staates“ und die Erwartung, der Staat würde sich um jeden von uns kümmern, hinter uns lassen sollten. Wie kleine Pioniere, aber dieses Mal unter einer anderen Flagge, pickten wir die Körner dieser schönen neuen Welt auf. Allerdings bewahrten sich einige von uns in diesem politischen Reifungsprozess eine gesunde Dosis Skepsis. In meinem Fall war das vor allem ein Verdienst der Literatur. Und zwar jener Texte, die wir nicht in der Schule zu lesen bekamen. Die Entdeckung der Texte von Dubravka Ugrešić, Boris Buden, Slavenka Drakulić und der Autoren, die sich um die Wochenzeitung “Feral Tribune“ versammelt hatten, stellte den ersten Schritt meiner Entwicklung zum kritischen Denken dar. Die pazifistischen Texte jener Autoren, in denen unmissverständlich die Stimme gegen jede Gewalt erhoben wurde (und vor allem gegen die als legitim dargestellten Lügen der neu gegründeten Staaten), gehörten zum “unbequemen“ Dissidentenkanon. Die Autoren wurden reihenweise zu Volksfeinden und Jugo-Nostalgikern erklärt. Für mich stellen diese Texte den Beweis dar, dass es auch in düsteren Zeiten Leuchttürme des gesunden Menschenverstandes gibt. Sie boten mir Einblicke, die man nicht auf der Landkarte des hegemonialen Diskurses eintragen kann und die immer in einem angespannten Verhältnis zur rezenten Gegenwart stehen. Diese Autoren haben ihre Haltung bis heute beibehalten und sind zum Glück nicht mehr so allein.
Kehren wir zurück zu jenen Werten aus der Epoche des Sozialismus, und zwar aus der Perspektive der Zeit dreißig Jahre danach. Zum Beispiel eine Krankenversicherung, die allen gleich zugänglich ist, die Fürsorge des Staates für jeden Einzelnen, die Solidarität mit den Schwachen und Verwundbaren ... kurz gesagt, all jene Kategorien, die sich nicht in das erwünschte Unternehmerimage fügen. In dieser Pandemiezeit, die in Kroatien durch die Erdbeben im März und Dezember 2020 erschwert wurde und die einer großen Anzahl von Bürgern enormen Schaden zugefügt hat, erinnern wir uns an diese Werte. Als zum Beispiel 1972 in Jugoslawien eine Pockenepidemie ausbrach, wurden in nur wenigen Wochen achtzehn Millionen Menschen geimpft. In Kroatien gab es einst ein Immunologisches Institut, in dem Impfstoffe unter anderem gegen Pocken, Masern oder Röteln produziert wurden. Heute wird dort nicht einmal mehr Antiserum gegen Schlangengift oder Impfstoff gegen Tetanus hergestellt. Während ich diesen Text im März 2021 schreibe, stockt der Impfprozess im gesamten Bereich der Europäischen Union. Zagreb, Sisak, Petrina, Glina und andere Orte haben sich noch immer nicht von den Folgen der Erdbeben erholt.
Im letzten Jahr erinnerte alles sehr stark an die Ereignisse vor dreißig Jahren, obwohl es keinen Krieg gab – der “Feind“ hat keine Charakterzüge, er ist nicht einmal sichtbar. Doch wir stehen nicht zum ersten Mal unter dem Galgen. Die “ehemaligen Jugoslawen“ ertragen die Pandemie vielleicht tatsächlich etwas leichter, da die bekannte Welt für sie schon einmal zerfallen ist, um dann wieder irgendwie zusammengefügt zu werden. Vielleicht haben sie einfach mehr als zwei Leben – oder zumindest eine etwas stärkere Immunität gegen das Unglück. Es liegt etwas Wahres in diesem Scherz, den ich nicht vergessen kann, obwohl neue Scherze über all dies, was uns dreißig Jahre danach geschieht, im Minutentakt entstehen.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer