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Über Grenzen und Gedenken (1921–1941–1991– 2021) | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de

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Über Grenzen und Gedenken (1921–1941–1991– 2021)

Dejan Djokić

/ 5 Minuten zu lesen

Der gewaltsame Zusammenbruch Jugoslawiens vollzog sich bereits, als die slowenische Territorialverteidigung im Juni 1991 einige Grenzposten einnahm und auf die jugoslawische Volksarmee stieß. Acht Jahre später dann übernahmen internationale Friedenstruppen die Kontrolle über die bis dahin rein administrative Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Zuvor war es von März bis Juni 1999 zu einem Krieg zwischen der jugoslawischen Armee, der NATO und kosovo-albanischen Guerillas gekommen.

Dazwischen lagen die Kriege in Kroatien (1991–92, 1995) und Bosnien-Herzegowina (1992–95). In ihnen kämpften diejenigen, welche die Grenzen der ehemaligen sozialistischen Republiken Jugoslawiens bewahren wollten, gegen jene, die versuchten, sie in diesem neuen postjugoslawischen Kontext neu zu ziehen.

Es mag paradox erscheinen, aber die Grenzverläufe wurden letztendlich durch keinen dieser Konflikte verändert – es änderte sich lediglich, wer sie kontrollierte. Zwar kam der Kontrolle über das Gebiet im Hinblick auf die politischen Ziele der beteiligten Kriegsparteien zentrale Bedeutung zu. Doch alle Bestrebungen, die von administrativen zu internationalen Demarkationslinien gewordenen Grenzen im ehemaligen Jugoslawien zu verändern, scheiterten bislang.

Im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung haben sich Grenzveränderungen auf dem Balkan im Verlauf der Geschichte über einen längeren Zeitraum hinweg weder durchsetzen noch aufrechterhalten lassen. Der Staat Jugoslawien entstand nach einem Jahrzehnt kriegerischer Auseinandersetzungen, internationaler Konferenzen und innenpolitischer Debatten (1912–1921). Vor genau 80 Jahren, im April 1941, besetzten das nationalsozialistische Deutschland, das faschistische Italien sowie ihre Alliierten an den jugoslawischen Außengrenzen (Albanien, Bulgarien, Ungarn, Kroatien) das Land und teilten es auf. Doch nach dem Krieg erfolgte die Wiedervereinigung.

Das Jugoslawien unter Tito war, genau wie die Sowjetunion, eine von einer kommunistischen Partei geführte „ethnische Föderation“. Bosnien-Herzegowina stellte hier eine Ausnahme dar, denn seine aus verschiedenen Volksgruppen und Religionen zusammengesetzte Bevölkerung machte es zu einer Art Miniaturstaat im Staat Jugoslawien. Wie Russland in der Sowjetunion war auch das jugoslawische Serbien föderal organisiert und garantierte der Vojvodina und dem Kosovo einen Autonomiestatus.

Genauso, wie der sowjetisch inspirierte Staatssozialismus in Europa und die UdSSR nach 1989 zusammenbrachen, zerfiel auch Jugoslawien – dieses Mal hauptsächlich durch das Wirken innenpolitischer Triebkräfte. Die Fachwelt erörtert die Gründe für den Kollaps auch heute noch – dreißig Jahre später. Der mehrheitlichen Auffassung nach waren Auseinandersetzungen um die Gebietshoheit einer der wichtigsten Auslöser für die bewaffneten Konflikte, die ethnisch-religiös motivierte Gewalt und die Vertreibungen, die 1991 begannen. Mit anderen Worten: Sobald sich gezeigt hatte, dass die (Außen-)Grenzen Jugoslawiens nicht aufrechtzuerhalten waren, entbrannte der Konflikt über neue internationale Grenzlinien im Inneren.

Die geographisch am weitesten verbreiteten Bevölkerungsgruppen – Serben und Kroaten – zogen in der zerfallenden jugoslawischen Föderation die „ethnischen“ Grenzverläufe grundsätzlich den Verwaltungsgrenzen vor – solange dies nicht mit ihren eigenen Zielen kollidierte, wie es etwa im Kosovo und in der Krajina der Fall war. Hier lebte jeweils eine große Anzahl ethnischer Albaner und Serben. Die brutalsten Konflikte ereigneten sich in den Gebieten mit der größten ethnischen und religiösen Durchmischung und in den am stärksten umkämpften Territorien: Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Kosovo. Zwei wichtige, jedoch oft vernachlässigte Ausnahmen von dieser Regel finden sich im nördlichen und südwestlichen Serbien: einerseits in der Vojvodina, einer ethnisch vielfältigen Provinz mit einer großen ungarischen und kroatischen Bevölkerung, andererseits im Sandžak, wo die muslimischen Slawen bzw. Bosniaken leben.

Solange es keine ernsthaften Uneinigkeiten über die Grenzverläufe gab, konnte der bewaffnete Konflikt vermieden werden. Wie Aleksa Djilas anmerkt, erlebte auch Jugoslawien Fälle von „einvernehmlicher Scheidung“ – nämlich zwischen Kroatien und Slowenien, Serbien und Nordmazedonien, Serbien und Montenegro, Kosovo und Montenegro sowie zwischen dem Kosovo und Nordmazedonien. Hier lebt im Grenzgebiet zum Kosovo eine relativ große Gruppe ethnischer Albaner. Im Jahr 2000 entging Nordmazedonien, hauptsächlich dank internationalen diplomatischen Drucks, nur knapp einem Bürgerkrieg.

Selbst während der Phase staatlichen Zerfalls und radikaler Veränderung erwiesen sich nicht alle Sezessionsversuche als erfolgreich. Die internationale Gemeinschaft wollte die territoriale Integrität Bosniens und Kroatiens erhalten (allerdings nicht die des jugoslawischen Staatsgebiets 1991/92, der serbisch-montenegrinischen Union 2006 oder gar Serbiens zwei Jahre später). Die serbisch-kroatischen bzw. kroatisch-bosnischen Kleinstaaten bestanden nur für kurze Zeit und konnten die „jugoslawischen“ Grenzen Kroatiens und Bosniens nicht verändern. Die bosnischen Serben schafften es ebenfalls nur bis zu einem bestimmten Punkt – zwar genießt die „Republika Srpska“ weitreichende Autonomie innerhalb des Staats, sie bleibt jedoch Teil von Bosnien-Herzegowina. 2008 erreichten die Kosovo-Albaner ihre Unabhängigkeit von Belgrad hauptsächlich durch externe Unterstützung, welche den separatistischen Bestrebungen in Bosnien und Kroatien verwehrt blieb. Dennoch bleibt die internationale Gemeinschaft in der Frage der Unabhängigkeit Kosovos gespalten.

Auch wenn Landkarten manchmal die Botschaft nationalistischer Bestrebungen und nationaler Stärke erwecken, können sie auch Angst und Unsicherheit streuen. Nicht zufällig zeigen die Flaggen Kosovos und Bosniens (sogar Zyperns), deren staatliche Souveränität sowohl im eigenen Land als auch international umstritten ist, das jeweilig beanspruchte Staatsgebiet – im Falle Bosniens handelt es sich um ein Dreieck, das dem Umriss des Landes ähnelt. Der verfassungsmäßige Anspruch Serbiens auf Kosovo zeigt eine vergleichbare Unsicherheit und Identitätskrise; Ähnliches gilt für die Umstellung Montenegros auf eine neue Flagge nach der Unabhängigkeit (zuvor war diese identisch mit der serbischen Flagge). 2018 stimmte das Parlament in Podgorica mehrheitlich dafür, einen Beschluss zur Vereinigung mit Serbien außer Kraft zu setzen, der 100 Jahre zuvor durch dieselbe Volksvertretung gefasst worden war.

Die Aussage einer Landkarte liegt stets im Auge des Betrachters. Eine Karte des besetzten und geteilten Jugoslawiens im Jahr 1941 kann entweder als „reaktionäres“ Symbol eines Anti-Jugoslawismus gelesen werden – oder als Symbol der Befreiung von der „Herrschaft Belgrads“. Das visuelle Abbild eines geeinten Jugoslawiens hingegen dient oft als wirkmächtige Erinnerung an die Stabilität, den Wohlstand und die internationale Bedeutung vergangener Zeiten. Für diejenigen, die eine jugoslawische Wiedervereinigung fürchten, kann es jedoch auch den (potenziellen) Verlust der Unabhängigkeit symbolisieren. Ähnlich verfolgte einst, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, der Geist der Restauration des Habsburgischen Reichs manche Menschen in Mittel- und Osteuropa – anderen hingegen gab er Hoffnung.

Die Geschichte Jugoslawiens und seines Zusammenbruchs vor dreißig Jahren kann vielleicht mithilfe von Landkarten erzählt bzw. die konkurrierenden nationalen und staatlichen Ambitionen können durch Grenzverläufe und Landkarten visualisiert werden.

Die politischen und ethnischen Grenzen Osteuropas haben im vergangenen Jahrhundert teilweise radikale Änderungen erfahren, oft durch blutige Konflikte. Gleichzeitig leben in der Vorstellung vieler, die in diesen Ländern aufgewachsen sind, die Landkarten der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und der Sowjetunion fort wie bei einem Rorschachtest (um ein Bild von Vesna Goldsworthy zu übernehmen). Der südslawische Sprach- und Kulturraum überwindet gleichsam die Grenzen der dem ehemaligen Jugoslawien entsprungenen Nationalstaaten, zum Leidwesen aller Verfechter ethnisch-nationalistischer Ansätze.

Zwar mag Jugoslawien vielleicht weder 1918 noch 1945 vollständig integriert worden sein – doch andererseits konnte es 1941 auch nicht zerstört werden, wie sich herausstellte. In gewisser Weise zerfiel Jugoslawien auch 1991 nicht vollständig – so jedenfalls sagte es mir einmal Vjekoslav Perica, einer der renommiertesten jugoslawischen Historiker. Tatsächlich haben die alten Verbindungen bis heute, 30 Jahre später, überlebt, und neue Verbindungen entstehen aktuell durch die außerordentlichen Herausforderungen, welche die Pandemie für die gesamte Region bedeutet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dejan Djokić, geboren in Serbien, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Goldsmiths, University of London und aktuell Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Mitbegründer des renommierten Seminars „Rethinking Modern Europe“ an der University of London. Seine Forschungsschwerpunkte sind Autoethnographie, kollektive Biographie und Generationengedächtnis, Geschichte Serbiens seit dem Mittelalter sowie globale und transnationale Dimensionen des jugoslawischen Sozialismus und Dissenses.