Liebe Leserinnen und Leser,
in der Hand halten Sie die dritte und letzte Ausgabe des Magazins "The Years of Change 1989- 1991". Dreißig Jahre sind seit diesen epochalen Ereignissen vergangen, doch werden wir aktuell von diesen Erinnerungen eingeholt. Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Schriftsteller*innen möchten wir dieses Phänomen ergründen, verstehen oder einfach nur beschreiben.
Der Umsturz sozialistischer Systeme in Ländern des Warschauer Paktes im Sommer 1989, der Fall der Berliner Mauer, die Exekution des rumänischen Diktators Ceausescu, die Unabhängigkeitserklärung der baltischen Staaten, der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens mit den darauffolgenden Kriegen: Die Jahre 1989 bis 1991 veränderten die West-Ost-Ordnung des Kalten Krieges grundlegend. Das "System" war auf unvorhergesehene Art zusammengebrochen, der Weg zur Freiheit und Demokratie schien vorgezeichnet. Dreißig Jahre danach wird die demokratische Ordnung in Europa auf den Prüfstand gestellt. Populisten und Nationalisten gewinnen die Gunst von Teilen der Bevölkerung, sie verwalten Institutionen und erobern öffentliche und digitale Räume. Demokraten von damals und heute sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, Fehler im politischen Handeln begangen und zu passiv agiert zu haben. Autokratische Herrscher sind auf dem Vormarsch und setzen sich nach und nach über demokratische Rechtsordnungen hinweg.
Die Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltete von 2019 bis 2021 das Programm "The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach". Waren 2019 zentraleuropäische Länder wie Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei und 2020 die baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien Themenschwerpunkte, so wandte sich der Blick 2021 zwei Staatsgebilden zu, die nicht mehr auf aktuellen Karten zu finden sind: die Sowjetunion und Jugoslawien. Bedeute te der Zerfall der Sowjetunion für viele Länder eine lang ersehnte Freiheit, so versank Jugoslawien ein Jahrzehnt lang in nationalen Egoismen und Kriegen. Dreißig Jahre sind vergangen, doch die Spuren dieser Ereignisse sind bis in die Gegenwart sichtbar und zu spüren.
Zusammen mit elf Autor*innen reflektieren wir in dieser Ausgabe über historische Ereignisse und menschliche Schicksale, über kulturelle und gesellschaftliche Phänomene sowie literarische und kulturelle Zeugnisse. Eröffnet wird das Magazin mit dem programmatischen Text von Karl Schlägel, der mit der heutigen Perspektive auf das Jahr 1989 blickt: Für viele war der Mauerfall ein unvergesslicher Moment des Glücks. Doch es gab eine politische Schicht, die diesen Moment für sich nutzte, um die Macht zu ergreifen. Sie kannte die Instrumente, um ihren Einfluss geschickt einzusetzen, sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern und auch um Kriege zu entfachen. Dejan Djokic nimmt die Leser*innen auf eine Reise durch eine Kartenlandschaft mit, analysiert dabei die Grenzverschiebungen auf den ex-jugoslawischen Territorien, die ihre Wirkung bis in die Gegenwart entfalten. Viktor Martinowitsch teilt mit uns nicht nur seine Kindheitserinnerungen an die sowjetische Zeit, sondern beobachtet die heutige Lage in seinem Heimatland Belarus akribisch und bietet uns eine überraschende Schlussfolgerung. In ihrem Gedicht versucht Volha Hapeyeva durch die Geschichte mehrerer Generationen die Arithmetik von Belarus zu entschlüsseln. Ihr Ergebnis ist bitter und ernüchternd. Masa Kolanovic erinnert sich an ihre Kindheit in Jugoslawien, durch deren Mitte sich ein historischer Bruch zieht, und schlägt die Brücke in die Gegenwart, die ähnlich krisenhaft ist wie vor dreißig Jahren. Serhij Zhadan denkt an 1989 und schreibt über die Luft der Freiheit, die er bei den Protesten und den darauffolgenden Veränderungen in der Ukraine empfand. Stanislaw Assejew reflektiert in seinem Essay die nicht aufgearbeitete sowjetische Vergangenheit, was einer der Gründe des Krieges im Donbas ist. Ljubov Jakymchuk schreibt über ihre durch die sowjetische Geschichte gebeutelte Familie und fragt, welchen Beitrag nun Schriftsteller und Bergleute für die Unabhängigkeit der Ukraine geleistet haben. Christian Neef erinnert sich an die Zeit der Perestrojka, seine Begegnungen mit Michail Gorbatschow und stellt fest, dass Russland dreißig Jahre später dort steht, wo einst Gorbatschow begann. lgnaz Lozo räumt in seinem Beitrag mit dem Mythos auf, dass der Westen Vereinbarungen gebrochen und die osteuropäischen Staaten zum NATO-Beitritt gedrängt hat. Rumena Buiarovska kritisiert in ihrem Text die in der Vergangenheit wurzelnde Unfähigkeit eines patriarchalen und autoritären Systems, die Pandemie zu bekämpfen. Haska Shyyan nimmt uns in den Sommer 1989 nach Lviv in der Westukraine mit, in eine Zeit, die alles änderte, in der das verbotene zur Realität wurde und auf der Straße protestiert und die eigene Meinung artikuliert werden konnte.
Wir danken allen Autoren und Autorinnen, Übersetzern und Übersetzerinnenfür die Unterstützung und wünschen Ihnen anregende Gedanken beim Lesen.
Thomas Krüger
Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung