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Krimnesia | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de

The Years of Change 1989-1991 Magazin #2019 Vorwort Ein Lied als kleiner Waffenschein Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück Der kurze Brief zum langen Licht 15. März 1989 2018 – Das Jahr, in dem wir erwachsen wurden Zone 1989 war erst der Anfang eines endlosen Kampfes um Demokratie Menschen des Wortes Die friedlichen Revolutionen Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen. Wandtexte Europa Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung Der kleine Trompeter Impressum Magazin #2020 Vorwort Drei Jahrzehnte – drei Erinnerungen Dreißig Jahre der Schande Der eiserne Vorhang riss, und ich bekam einen Hund Zwischen Sternen und Schnee Das schrecklich schöne Jahr 1989 Kiwi-Assoziationen Zeit für eine 2. Friedliche Revolution? Ein Moment Bilanz zu ziehen, nicht nur des Feierns Wie haben gemeinsame Erinnerungen die nationale Resilienz moderner Gesellschaften in Osteuropa geprägt? Krimnesia Hauch der Freiheit, Last der Verantwortung Nieder mit den digitalen Mauern! E-Lettisch Den Mauerfall verschlafen Impressum Magazin #2021 Vorwort Ein anderer Blick zurück – 30 Jahre danach Über Grenzen und Gedenken (1921–1941–1991– 2021) Die Sowjetunion ist nicht überall zerfallen schwierige arithmetik Immunität gegen das Unglück Stanislaw Assejew Die Freiheit der Bergarbeiter und Autoren Christian Neef NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen 1991 und 30 Jahre danach Hallo, Mickey! Kontakt

Krimnesia

Rory Finnin

/ 3 Minuten zu lesen

Am nächsten komme ich dem Jahr 1989 mit Wahrnehmungen von Synästhesie. Ich richte den Blick auf diese Jahreszahl, als sich der Wandel wie ein Lauffeuer über Europa ausbreitete, und sehe sofort wieder die Farben: rote und schwarze Graffitis an der Wand, gelbe Kerzen im Albertov-Viertel, blauer Jeansstoff auf Beton. Ich, damals ein Teenager in den Vereinigten Staaten, erlebte die Ereignisse in Berlin und Prag und darüber hinaus in den Farben der Abendnachrichten auf dem Fernsehbildschirm. Heute erscheinen sie vor meinem geistigen Auge so lebendig wie meine persönlichen Erinnerungen, manchmal auch zuerst.

Derartige "Behelfserinnerungen" an das Jahr 1989 habe ich nicht in Bezug auf die Krim, wo der Wandel zwar leise, aber nicht weniger dramatisch verlief. Dieser Umbruch entzog sich weitgehend den Fernsehbildschirmen und Schlagzeilen im Westen. So bleibt mir nur die Vorstellung: mehr als vierzig Jahre nach ihrer brutalen Zwangsumsiedlung nach Zentralasien durch Stalin kehrten Hunderte und dann Tausende ursprünglich auf der Krim beheimatete sunnitisch-muslimische Krimtatar*innen in ihre Heimat zurück. Über grüne Hainbuchenwälder und die grauen Klippen des Krimgebirges hinweg höre ich Stimmengewirr, wütendes Protestgeschrei und zaghafte Ausrufe der Erleichterung. 1944 hatte Stalin versucht, das krimtatarische Volk zu vernichten; 1989, nach Jahren des gewaltlosen Widerstands, begannen die Überlebenden ihre Nachkommen in die Heimat zurückzuholen.

1989 gab es beeindruckend viele solcher Szenen überall auf der Welt – Szenen unwahrscheinlicher Heimkehr, trotziger Hoffnung und hart erkämpfter Solidarität. Es waren leuchtende, spannende Zeugnisse transhistorischer Gerechtigkeit, wie sie Analyst*innen und Wissenschaftler*innen nie vorhergesehen hätten. Ein Fluss voller schwarzer Schwäne. Umso seltsamer ist es, dass wir so schnell lernten, sie als selbstverständlich anzusehen.

Zurzeit werden über 100 Krimtatar*innen von der Russischen Föderation, die im Jahr 2014 die Autonome Republik Krim illegal annektierte, als politische Gefangene gehalten. Hunderte weitere müssen regelmäßig willkürliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen über sich ergehen lassen, weil sie die Legitimität der russischen Herrschaft in Frage stellen oder sie anfechten. Einer dieser Versuche einer gewaltsamen Verhaftung führte kürzlich zum Tod der 83-jährigen Vedzhie Kashka, einer Leitfigur der krimtatarischen Bewegung. Die russischen De-facto-Behörden erklären diese Razzien in der Regel mit vagen, unbegründeten Anschuldigungen des "Extremismus", die die gegenwärtige Angst vor dem globalen islamischen Terrorismus nutzen und gegen ein Volk einsetzen, das seit Generationen stringent gewaltlosen Widerstand gegen staatliches Unrecht leistet.

Die seit langem bestehende Exekutivkörperschaft des krimtatarischen Volkes, der Medschlis, wurde auf der Krim verboten. Die Vorsitzenden – darunter der legendäre sowjetische Dissident Mustafa Dschemiljew (Mustafa Cemiloğlu, alias Mustafa Abdülcemil Qırımoğlu) – dürfen die Halbinsel unter Androhung der Verhaftung nicht betreten. Obwohl von kleiner Statur, ist Dschemiljew ein Gigant. Als Kleinkind überlebte er die Deportation durch Stalin nach Zentralasien. Als junger Mann überlebte er den Gulag und Mitte der 1970er Jahre einen 303-tägigen Hungerstreik, der weltweit für Schlagzeilen sorgte. 1989 gehörte er zu denjenigen, die zurückkehrten, um sich auf der Krim niederzulassen, der angestammten Heimat, die für sein Volk zurückzuerobern er ein Leben lang gekämpft hatte.

Für Dschemiljew, Mitglieder der unabhängigen krimtatarischen Zivilgesellschaft und viele andere Ukrainer*innen auf der Krim ist das Versprechen von 1989 heute dem Zynismus von 1984 gewichen – ganz zu schweigen von den Menschen in den von Russland unterstützten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" im besetzten Osten der Ukraine. In Europa schauen wir derweil weg und stellen uns auf eine "neue Normalität" ein. Der Internationale Strafgerichtshof klassifiziert die Situation auf der Krim als "internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation", zwischen den beiden größten Ländern Europas. Doch die menschlichen Folgen dieser Tatsache haben wir in Westeuropa nur selten auf unserem politischen, sozialen oder kulturellen Radar. Die "Krimnesie" ist zu weit verbreitet.

"Es ist schrecklich, in Fesseln gefangen zu sein", schrieb der ukrainische Dichter Taras Schewtschenko 1845, "aber viel schlimmer ist es, in Freiheit zu schlafen". In den 30 Jahren seit 1989 sind wir zeitweise diesem Schlaf erlegen und haben vergessen, dass die Farben des Wandels ohne unser aufmerksames Bemühen und eine langfristige Vision verblassen. Heute brauchen die Krim sowie die ganze Ukraine uns – damit wir Briefe an die tatarischen politischen Gefangenen schreiben (siehe Externer Link: amnesty.org und Externer Link: khpg.org) und unsere politische Führung zum Handeln drängen. Sie brauchen uns ganz wach.

Fussnoten

Rory Finnin ist Professor für ukrainische Studien an der University of Cambridge. Er ist Mitbegründer einer Arbeitsgruppe an der Cambridge University, die sich mit Desinformation, Medienkompetenz und dem Umgang mit Fake News auseinandersetzt.