Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahl am 24. April zwar souverän gewonnen, allerdings geht er geschwächt daraus hervor. 42 Prozent der Macron-Wähler gaben in einer Externer Link: Umfrage an, dem jüngsten Staatsoberhaupt in der Geschichte Frankreichs ihre Stimme nur gegeben zu haben, um einen Sieg Marine Le Pens zu verhindern. Diese wiederum konnte im Vergleich zur Stichwahl 2017 (33,9 Prozent) deutlich zulegen und erreichte mit 41,45 Prozent ein historisch gutes Ergebnis. Hinzu kommt der seit der letzten Wahl vor fünf Jahren nochmals leicht gestiegene Anteil Externer Link: (28,01 Prozent) an Nichtwählern. Der Druck, der auf dem französischen Präsidenten lastet, ist groß. Er hat einen Neuanfang versprochen, aber wird er das Versprechen auch einhalten können?
Damit Macron seine geplanten Reformen umsetzen kann, muss das Bündnis um seine Partei La République en Marche - gerade umbenannt in Renaissance - bei der Parlamentswahl im Juni erneut die Mehrheit gewinnen. Der Politikwissenschaftler Jérôme Fourquet hält dies für gesichert. Wie in der Vergangenheit würden die Wähler auch dieses Mal mit ihrer Stimme den frisch gewählten Amtsinhaber unterstützen, prophezeit er in einem Interview mit Externer Link: Le Figaro (24.04.2022): "Die 'Katerstimmung', die nach der Wahl bei denjenigen herrscht, deren Kandidaten ausgeschieden sind, ist nicht zu unterschätzen. Das wird der Wählerschaft des wiedergewählten Präsidenten zugutekommen." Der Historiker und Politikberater Maxime Tandonnet (Externer Link: Le Figaro 25.04.2022) hingegen glaubt, dass die Bürger in diesem Jahr entgegen ihrer Gewohnheiten für andere Parteien stimmen werden: "Tatsächlich könnte die lahm gelegte Präsidentschaftswahl, in der keine Debatte stattfand und die von Anfang bis Ende als zutiefst langweilig empfunden wurde, zu einem erneuten Interesse an der Parlamentswahl im Juni führen – sozusagen als Nachprüfung in französischer Demokratie."
Starker Gegenwind für Macron kommt wenige Wochen zuvor von der linken Seite des politischen Spektrums. Externer Link: Denn vier Parteien - La France Insoumise, Parti Socialiste, Europe Écologie Les Verts, Parti Communiste – haben ein als historisch geltendes Bündnis geschlossen. Ihr erklärtes Ziel: die Mehrheit in der Nationalversammlung erlangen und so das Staatsoberhaupt dazu zwingen, einen Premier aus ihren Reihen zu ernennen. Jean-Luc Mélenchon, der mit La France Insoumise die Allianz anführt, hatte bereits am Abend des zweiten Wahlgangs zur Präsidentenkür Ansprüche Externer Link: auf das Amt des Regierungschefs angemeldet. Im gleichen Atemzug hatte er die Parlamentswahl als dritten Wahlgang bezeichnet. Externer Link: Ouest France (06.05.2022) äußert sich skeptisch zu dem Linksbündnis, das sich Nupes (Neue ökologische und soziale Volksunion) nennt. Es sei instabil und würde nach kurzer Zeit zerbrechen, gibt die regionale Tageszeitung zu bedenken: "Die Allianz wird zu inhaltlichen Bruderkämpfen zurückkehren, sobald die Parlamentswahl vorbei ist. Kritiker werden in ihrer Annahme bestätigt, dass es sich dabei um ein Abkommen handelt, das nur von der Angst der Grünen, Kommunisten und Sozialisten bestimmt wird, eine weitere Niederlage nicht zu überleben." Über eine neue Zukunftsperspektive für die linken Parteien freut sich hingegen Externer Link: Politis (04.05.2022) – unabhängig vom Ausgang der Wahl: "Was zählt, ist der Aufbau einer pluralistischen, ökologischen und sozialen Linken, die sich langfristig als wichtigste alternative Kraft etablieren kann."
Die Präsidentschaftswahl hat nicht nur Diskussionen über die neue politische Landschaft Frankreichs, sondern auch über die Schwächen des präsidialen Regierungssystems entfacht. Externer Link: Experten kritisieren die Übermacht des Präsidenten und die vergleichsweise geringe Bedeutung des Parlaments. Kurz vor der Wahl zur Assemblée Nationale wird vor allem das Mehrheitswahlrecht in Frage gestellt (vgl. Externer Link: La Tribune 19.4.2022; Externer Link: Mediapart 26.4.2022). Es führe dazu, dass die Sitzverteilung im Parlament die Meinung der Bevölkerung nicht angemessen zum Ausdruck bringe. Gerade die Unterrepräsentation extremer Parteien "sorgt dafür, dass die Nationalversammlung zur Abnickkammer wird", kritisiert Externer Link: Le Monde (21.04.2022): "Deshalb entladen sich Frustration und Widerstand logischerweise viel stärker auf der Straße."
Darüber hinaus hat Präsident Macron Externer Link: Libération (24.04.2022) zufolge mit seinem Regierungsstil dazu beigetragen, dass die Französinnen und Franzosen das Vertrauen in die Politik verloren haben: "Vertikale Machtausübung, mangelnde Wertschätzung, … die ‘großen Debatten’ [Anm.: groß angelegte Bürgerbefragung als Reaktion auf die Gelbwestenbewegung] oder der Klimakonvent waren eher Teil einer Kommunikationsstrategie, als dass sie neuen Wind in die Politik gebracht haben."
Dem Präsidenten stehen in seiner zweiten Amtszeit zahlreiche Möglichkeiten offen, die Bevölkerung wieder mit dem politischen System zu versöhnen. Externer Link: Debattiert wird unter anderem die Einführung des Verhältniswahlrechts bei Parlamentswahlen. Die wirksamste Methode wäre allerdings, die Bürger stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen, betont der Rechtswissenschaftler Denis Baranger in einem Interview mit Externer Link: Le Point (27.04.2022): "Eine Lösung wäre die Einrichtung von Bürgerausschüssen innerhalb des Parlaments, sodass deren Überlegungen bei der Entscheidung, die weiterhin den Verfassungsorganen vorenthalten bleiben muss, berücksichtigt werden." Welche Externer Link: Maßnahmen Emmanuel Macron auch wählt, die Zeit drängt. Wut und Frustration der Bürger könnten sonst wie bei der Gelbwestenbewegung vor drei Jahren in Gewalt umschlagen.