Den EU-Vorsitz in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfs ausüben? Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron sieht darin offenbar keine Überlastung, sondern vielmehr eine Chance. Die Landespresse ist skeptischer: Dass Macron den turnusmäßigen Vorsitz der Gemeinschaft nicht verschieben wollte, war "eine riskante politische Entscheidung", urteilt Externer Link: France Culture (01.01.2022), denn "Europa während einer nationalen Wahl zu promoten ist weniger leicht, als es zum Sündenbock zu machen. Doch dies ist ein politisches Kennzeichen, das Emmanuel Macron von seinen Gegnern unterscheidet, und für ihn ein Lieblingsthema". Auch Externer Link: Le Figaro (19.01.2022) wertet Macrons Engagement für Europa aufgrund "des Desinteresses für europäische Themen, wenn nicht gar noch mehr: Skepsis, Misstrauen oder Ablehnung", als riskant.
Provokanter Auftakt und Wahlkampf im EU-Parlament
Dass Macron Frankreichs EU-Präsidentschaft einläutet, indem er unter dem Triumphbogen in Paris Externer Link: die Europafahne hissen lässt – ohne die französische daneben – wird denn auch zum Eklat. Die rechte Opposition im Land betrachtet den Verzicht auf die Trikolore als Angriff auf die nationale Identität. Die Medien sind gespalten: "Indem wir einen Ort, der für die Größe Frankreichs steht, in Gold und Azurblau beflaggen, beweisen wir unsere Vitalität und unseren Widerstand", jubelt Externer Link: Le Point(04.01.2022). Externer Link: Slate (04.01.2022) dagegen hält die Aktion für taktisch unklug: "Mit dieser Beflaggung wird der scheidende Präsident keine föderalistischen Stimmen gewinnen, da diese bereits alle Macron-Anhänger sind. Dafür könnte der künftige Kandidat einen Teil der Wählerschaft verlieren, die es nicht mag, wenn man mit ihren Traditionen und Symbolen spielt."
Kontrovers wird auch Externer Link: Macrons Rede zum Auftakt von Frankreichs EU-Präsidentschaft am 19. Januar im Europaparlament Externer Link: aufgenommen. Um die Ideen, die Macron für Europa skizziert, geht es dabei weniger. Es sind vor allem Abgeordnete aus seinem Land, die ihn mit teilweise markigen Worten kritisieren; der Straßburger Plenarsaal werde zur Wahlkampfarena: Externer Link: Yannick Jadot, Präsidentschaftskandidat der Grünen, wirft ihm Tatenlosigkeit beim Klimaschutz und eine durch die extreme Rechte beeinflusste repressive Migrationspolitik vor. Externer Link: Jordan Bardella von Marine Le Pens Rassemblement National prangert ein Auslöschen der europäischen Nationen und eine Auslieferung an China und die Türkei an. Einig sind sich die Parteien von der Linksbewegung La France Insoumise bis zu den bürgerlichen Les Républicains im Vorwurf, Macron missbrauche den EU-Vorsitz zu Wahlkampfzwecken.
Frankreich innerhalb der EU stärken oder durch die EU?
Mit Macrons Rede wird Europa zum Wahlkampfthema im Präsidentschaftsrennen. Frontal gestaltete Marine Le Pen ihren Angriff auf die Europapolitik ihres Widersachers Macron, dem sie in der Stichwahl 2017 unterlegen war. Einen Tag vor seiner Rede im Europaparlament Externer Link: stellt sie ihre eigene Vision vor – als "Gegensatz zur Position, die Emmanuel Macron verteidigt. … Jener der Europäisten, die die Völker vergisst und die Nationen beherrscht". Trat sie 2017 noch für den Austritt aus dem Euro und ein Frexit-Referendum ein, richtet sich ihre Ablehnung nun gegen die Preisgabe von Souveränität, insbesondere im Bereich Verteidigung: Macrons Konzept einer europäischen Verteidigung gefährdet aus ihrer Sicht Frankreichs Unabhängigkeit und Wirtschaft. Die europäischen Staaten sollen ihr zufolge nur noch als Allianz freier Nationen zusammenarbeiten. Die Kandidatin des rechtsextremen Rassemblement National hat ihre Haltung zur EU also klar abgemildert. Begründet wird dies von ihrer Partei damit, dass sie innerhalb der Gemeinschaft jetzt mit den Regierungen in Budapest und Warschau mehr eurokritische Partner habe. So sieht mittlerweile auch Le Pen auf der europäischen Bühne Chancen, ihre Politik gemeinsam mit Gleichgesinnten durchzusetzen.
EU-Austritt als kaschiertes Wahlprogramm?
Die Forderungen nach einem EU-Austritt Frankreichs sind damit jedoch noch nicht vollständig verschwunden, denn Marine Le Pen vertritt längst nicht die extremste Position. Überboten wird sie im extrem rechten Spektrum etwa von ihrem einstigen Vize Florian Philippot, der einen Austritt aus EU und Euro als Grundvoraussetzung für jede positive wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche und umweltpolitische Veränderung sieht. Philippot tritt mittlerweile mit seiner eigenen Partei Les Patriotes (LP) an.
Doch auch Präsidentschaftsbewerber, die den EU-Austritt Frankreichs nicht ausdrücklich fordern, stehen im Grunde genommen für nichts anderes, wie Externer Link: Le Point (09.10.2021) mit Blick auf Eric Zemmour analysiert: "Zemmour will die EU nicht verlassen, aber was er vorschlägt, läuft auf das Gleiche hinaus." Versteckte Frexit-Pläne macht das Wirtschaftsmagazin Externer Link: Challenges (18.01.2022) neben Le Pen und Zemmour auch beim linken Jean-Luc Mélenchon aus: "Zahlreiche der zentralen Vorhaben der drei Kandidaten erweisen sich als inkompatibel mit den europäischen Verträgen": die Beschränkung des Familiennachzugs und des Asylrechts bei den Rechtsextremen, die Annullierung von Frankreichs Schulden bei der EZB im Falle des Präsidentschaftsanwärters der Linkspartei La France Insoumise. EU-Verträge, die seinen Vorhaben entgegenstehen, will Mélenchon einfach ignorieren.
Bei den Ideen der Kandidierenden für eine europäische Migrations- und Finanzpolitik tritt das Rechts-Links-Schema besonders deutlich hervor. Während die Rechten und Konservativen, einschließlich Macron, einen Externer Link: Austritt aus dem Schengener Abkommen oder dessen Reform fordern, um Frankreichs Grenzen besser zu schützen, rufen ihre linken Widersacher nach einem menschlicheren Europa und Schutz für Geflüchtete. Beim Thema EU-Wachstums- und Stabilitätspakt tönen von links laute Rufe nach einer Lockerung der Defizit-Kriterien, während die Konservative Valérie Pécresse die Maastricht-Regeln einzuhalten verspricht.
Die EU ist trotz allem beliebt
Europakritik einerseits und der Rückgriff auf die EU als Lösung für nationale Sorgen andererseits – diese Kluft spiegelt die Spaltung der französischen Gesellschaft wider. Laut einer aktuellen Externer Link: Meinungsumfrage betrachtet ein Drittel der Franzosen die EU-Zugehörigkeit als nachteilig, für ein gutes Viertel überwiegen die Vorteile. Oder ist der Konsens in Sachen Europa doch größer, als es scheint? Der Zuspruch der Bevölkerung zu einzelnen Vorhaben der französischen Ratspräsidentschaft wie Regulierung der IT-Giganten, Besteuerung von umweltschädlichen Importprodukten und Einführung eines europäischen Mindestlohns ist mit rund Externer Link: 80 Prozent groß. 74 Prozent der Bevölkerung befürworten einer Externer Link: aktuellen Studie zufolge eine europäische Verteidigungsstrategie samt einer gemeinsamen Armee, wie sie Macron vorantreibt – selbst die Wählerschaft von Marine Le Pen, die sich vehement dagegenstellt, ist mehrheitlich dafür. Externer Link: France Inter (20.01.2022) resümiert: "Durchschnittlich drei Viertel der Franzosen sind sich über die politischen Gräben hinweg bei vielen Themen einig. … Das ist überraschend und könnte bedeuten, dass einige Parteien sich bei dem Thema nicht im Gleichklang mit ihrer Wählerschaft befinden."
Emmanuel Macron dagegen, der sonst vielen Beobachtern zufolge mit einem Credo des Weder-Rechts-Noch-Links ohne greifbare Ideologie navigiert, will und kann sich über sein europäisches Engagement klar positionieren. Vor allem gegenüber Marine Le Pen, die in der Stichwahl 2017 mitunter am Thema Europa gescheitert ist. So lässt sich auch erklären, warum die EU im französischen Wahlkampf eine sehr viel größere Rolle spielt als im deutschen Bundestagswahlkampf 2021.