Im Jahr 2014 überlagerten sich in der Ukraine zwei weltpolitische Großereignisse nach dem Ende des Kalten Krieges. Zum ersten begann Ende 2013 eine bis dato anhaltende soziopolitische Revolution im territorial größten vollständig in Europa gelegenen Flächenstaat und einem geopolitischem Schlüsselland der Erde. Zum zweiten folgte darauf Ende Februar 2014 eine zunächst verdeckte und später immer offenere militärische Intervention des russischen Staates auf der Krim und im Donbass. In der Wahrnehmung vieler Beobachter verbinden sich diese beiden nachhaltigen Koordinatenverschiebungen europäischer Politik strukturell – ja in manchen Darstellungen zwingend – miteinander. Die Fokussierung vieler Beobachter auf den ukrainisch-russischen Link ist maßgeblich auf die Rolle kremlkontrollierter Massenmedien und Frontorganisationen bei der Prägung westlicher Interpretationen des Konfliktes zurückzuführen.
In etlichen europäischen intellektuellen, politischen und medialen Diskursen, nicht zuletzt in den deutschen, taucht häufig die Denkfigur von der Reaktivität des Moskauer Verhaltens im Lichte der ukrainischen innenpolitischen Entwicklungen Anfang 2014 auf. Nicht selten wird, darauf aufbauend, eine zumindest partielle Verständlichkeit – manchmal gar Unausweichlichkeit – des ungewöhnlichen außenpolitischen Handelns Moskaus eingeräumt. Meist verbindet sich solche Apologetik mit der Idee einer dominanten, wenn nicht entscheidenden Rolle des Westens bei der Heraufbeschwörung der ukrainischen Ereignisse vom Winter 2013/2014. Eine angeblich weitgehende und scheinbar inkompetente Einmischung von EU, NATO, USA, CIA, Soros-Stiftung usw. in der Ukraine hätte Russland zu seinem erratischen Handeln getrieben.
Innere Bestimmungsfaktoren der so genannten Ukraine-Krise
Der Euromaidan war jedoch trotz seiner Bezeichnung ein wenn auch nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich innenpolitisch und nationalgeschichtlich determiniertes Ereignis. Zum ersten rekurrierten die ukrainischen Revolutionäre in ihrer Programmatik, Rhetorik und Symbolik unentwegt auf protodemokratische Referenzpunkte in der ukrainischen Geschichte, so auf die mittelalterlichen Ortsbürgerversammlungen witscha (Räte) der Kiewer Rus oder die kosakischen Männerrepubliken des Dniprogebietes der Neuzeit. Beide Traditionsstränge sind nicht nur der rechtsufrigen, das heißt eher westlich beeinflussten, sondern auch der linksufrigen, das heißt stärker russisch beeinflussten Ukraine, ja teils auch dem Territorium der heutigen Russischen Föderation zuzuordnen. Dies war einer der Gründe dafür, dass der Euromaidan ein stärker gesamtnationales, das heißt von vielen russophonen Ukrainern mitgetragenes Ereignis war als die teils ethnonational orientierte Orange Revolution knapp zehn Jahre zuvor.
Zum zweiten war das Ziel einer EU-Mitgliedschaft, das für den Euromaidan tatsächlich ein Leitbild war, mitnichten eine der Ukraine von Brüssel angetragene Vision. Vielmehr stellte das 2014 unterzeichnete Assoziierungsabkommen seit dem Beginn seiner Verhandlung 2007 für die ukrainische Elite nur eine Option zweiter Wahl dar. Alle ukrainischen Parlamente und Regierungen seit der Unabhängigkeit des Landes – auch diejenigen unter den relativ prorussischen Präsidenten Leonid Kutschma und Wiktor Janukowitsch – haben einhellig und uneingeschränkt die Vollmitgliedschaft der Ukraine in der EU und nicht nur eine Assoziation zwischen Kiew und Brüssel befürwortet. Dem dutzende Male mit teils erheblicher Emotionalität vorgetragenen Anliegen Kiews nach einer wenigstens langfristigen Beitrittsperspektive für die Ukraine ist Brüssel bis heute nicht nachgekommen. Von einer Einmischung der EU in die komplizierte Geopolitik Osteuropas kann vor dem Hintergrund der andauernden Zurückhaltung Brüssels gegenüber dem anhaltenden Mitgliedschaftsbegehren der Ukraine, die vollständig in Europa liegt, keine Rede sein.
Zum dritten war der Euromaidan sowohl in der Wahrnehmung vieler Ukrainer als auch bezüglich seines Führungspersonals nicht eine Fortsetzung westlicher Außenpolitik, sondern der antisowjetischen Kiewer "Revolution auf dem Granit" des Jahres 1990 und des Wahlaufstandes von 2004, das heißt der Orangen Revolution. Er stand ebenfalls in der Tradition im Ausland weniger bekannter, aber ebenfalls großer Protestaktionen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, etwa der "Ukraine ohne Kutschma"-Kampagne von 2000/2001 oder des Steuermaidans von 2010. Während dieser früheren Massenaktionen zivilen Ungehorsams spielten außenpolitische Themen wie der Abschluss eines EU-Assoziierungsabkommen und eine mögliche künftige Nato-Mitgliedschaft eine noch geringere Rolle als beim Euromaidan – bzw. sie waren gänzlich abwesend. Diese und andere innere Impulse der Großdemonstrationen in Kiew und anderen ukrainischen Städten zwischen dem 21. November 2013 und dem 21. Februar 2014 waren wichtiger als die von vielen verschwörungstheoretisch interessierten Diskutanten betonte Rolle der EU und/oder der NATO bei der Zuspitzung in der Ukraine.
Die Interpretation der jüngsten Ereignisse in Kiew als schicksalhafte Geschichte eines geopolitischen Objektes und nicht als Richtungsentscheidung eines selbstbestimmten Subjektes hat wesentlich mit der bis vor kurzem weitreichenden Unkenntnis in den politischen und intellektuellen Eliten des Westens über Vergangenheit, Kultur, Politik und Gesellschaft der Ukraine zu tun. Die rudimentäre Ukrainistik in der Europäischen Union stellt bislang keine konsolidierte Disziplin dar. Daher war die Fixierung vieler Beobachter auf aus dem Kalten Krieg bekannte geopolitische Interpretationsmuster und nicht auf aktuelle regionalwissenschaftliche Erkenntnisse zur Erklärung des Euromaidans sowie des russisch-ukrainischen Konfliktes zwar bedauerlich, aber verständlich.
Anders als Nordamerika verfügt die EU über kein einziges bedeutendes wissenschaftliches Forschungszentrum oder Publikationsorgan mit ausschließlichem oder hauptsächlichem Fokus auf die Ukraine. Gewisse Abhilfe schaffen in Deutschland etwa die "Ukraine-Analysen" der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, die Ukrainische Freie Universität München, die Deutsche Assoziation der Ukrainisten e. V., die Kiewer Gespräche e. V., die Ukrainicum-Sommerschule der Universität Greifswald und ähnliche Initiativen. Dies sind jedoch Einzelaktivitäten mit bislang beschränkter gesellschaftlicher Ausstrahlung oder/und fragiler institutionaller Basis. Trotz guter Berichterstattung deutscher Qualitätszeitungen von Taz bis Welt über die Ukraine besteht daher noch immer eine erhebliche Ignoranz vieler deutscher Entscheidungsträger und Meinungsmacher bezüglich des größten vollständig in Europa gelegenen europäischen Landes. Die "Black Box" Ukraine wird nach wie vor eher als gezeichneter Pufferstaat, tragische Hybridkreatur bzw. unfreiwilliger Spielball antagonistischer Großmächte und Staatenblöcke konzipiert statt als politische Nation mit eigenständiger Geschichte, Zusammensetzung und Kultur.
Richtig ist zwar, dass der jüngste Kiewer Aufstand mit dem abrupten Stopp des EU-Ukraine-Assoziierungsprozesses durch das Janukowitsch-Regime im November 2013 seinen Anfang nahm. Zum einen war allerdings die damalige Abwendung eines Ostpartnerschaftsstaates vom Assoziierungsangebot Brüssels lediglich ein Wiederholungsfall. Wenige Wochen zuvor hatte Armenien, ein Staat mit gänzlich anderer geopolitischer Position, Bevölkerungsstruktur und internationaler Bedeutung als die Ukraine, ebenfalls unter russischem Druck, seine parallel laufende Vorbereitung eines Assoziierungsabkommens mit der EU überraschend eingestellt. Dies weist darauf hin, dass die scheinbare Schicksalhaftigkeit der ukrainischen Geo-, Ethno- und Demographie eine weniger relevante Rolle spielte als häufig behauptet.
Zum anderen wandelte sich der Charakter der ukrainischen Demonstrationen bereits in den ersten Wochen von einer kleinen Protestaktion Kiewer Intellektueller und Studenten gegen die Abwendung von Europa zu einer gesamtnationalen Massenaktion mit breiter definierten Zielen. "Europa" stellte für viele Ukrainer während des Euromaidans eher eine zielweisende Metapher denn eine konkrete Handlungsmotivation dar. Es ging für die meisten Ukrainer weniger um Reformen zur Vorbereitung eines EU-Beitritts als um die Vorbildrolle "Europas" dafür, wie eine erneuerte Ukraine auszusehen habe. Deshalb hat sich in der Ukraine letztlich die Formel von einer palingenetischen "Revolution der Würde" und nicht der außenpolitisch fixierte "Euromaidan"-Begriff zur Bezeichnung des dreimonatigen Aufstandes durchgesetzt.
Auf dem Weg zu neuen Fehleinschätzungen?
Das Ziehen falscher Schlüsse aufgrund lückenhafter Axiome bei der Gewichtung von Bestimmungsfaktoren der Revolution der Würde könnte sich demnächst wiederholen. Unkenntnis der Ergebnisse des Euromaidans und der tieferen Auswirkungen der russischen Intervention auf die ukrainische Wirtschaft könnte in der öffentlichen Interpretation der bislang ausbleibenden realen Ergebnisse der Reformanstrengungen Kiews zu neuerlich falschen Kausalbehauptungen führen. Während zur Erklärung des Euromaidans internationale Faktoren überbewertet und innere Triebkräfte unterbewertet wurden, deutet sich derzeit in etlichen Medienberichten und öffentlichen Debatten ein umgekehrtes künftiges Missverständnis an.
Da die Ukraine womöglich auf Jahre unter ökonomischer Stagnation bzw. sogar Depression leiden wird, könnte der Krisenzustand als Beweis ungenügenden Reformwillens, trügerischer Zuverlässigkeit und zweifelhafter Motivationen der neuen Machthaber in Kiew gelten. Eine fortgesetzte Krise könnte gar als Beleg für die mangelnde Bereitschaft der ukrainischen Gesellschaft zu tatsächlicher Europäisierung betrachtet werden. Im schlimmsten Fall könnte gesunde Skepsis gegenüber ukrainischen Politikern jedweder Couleur in eine abermalige Stereotypenbildunpg über das ukrainische Volk übergehen, welche an die von Russland geschürte Assoziierung der ukrainischen Nationalidee mit Ultranationalismus und Antisemitismus erinnern würde.
Grundfrage einer Identifikation der Gründe für die tiefe Rezession der ukrainischen Wirtschaft und die anhaltende Fragilität des ukrainischen Staates ist deren Rückführung auf äußere versus innere Bestimmungsfaktoren. Steht es um die Ukraine so schlecht, weil sie eine so korrupte und/oder unfähige Führung hat oder weil der ukrainische Staat durch den Hybridkrieg Russlands untergraben wird? Mit jedem weiteren Monat westlicher finanzieller Unterstützung für die Ukraine wird die Beantwortung dieser Frage im europäischen öffentlichen Diskurs an Bedeutung gewinnen. Offizielle und inoffizielle Vertreter des russischen Staates werden, so darf vermutet werden, alles in ihren Kräften Stehende versuchen, um die Ukraine als hoffnungslosen Staat mit einer moralisch und intellektuell degradierten Führung darzustellen.
In einigen bisherigen Stellungnahmen westlicher Journalisten und Politiker findet sich der vorrevolutionäre skeptisch-zynische Ansatz gegenüber dem ukrainischen Staat wieder. Diese Sichtweise läuft auf folgende Erklärung der gegenwärtigen ukrainischen Misere hinaus: "Die Namen der Entscheidungsträger in Kiew mögen sich geändert haben; die neuen Regierungsparteien mögen öffentlich für Reformen eintreten; neue Gesetze mögen in großer Zahl angenommen werden. Tatsächlich ändert sich die Struktur ukrainischer Politik aber nicht wesentlich. Oligarchie, Korruption und Hinterzimmerdeals bestimmen, wie auch vor der angeblichen Revolution der Würde, den ukrainischen Prozess. Kein Wunder, dass es der Ukraine weiterhin schlecht geht. Da die Ukrainer selbst für diesen Zustand verantwortlich sind, sollte sich westliche Hilfe für das Land in Grenzen halten." Zumindest aus dem Kreml wird diese Geschichte in den kommenden Jahren, so kann man risikofrei prognostizieren, ständig zu hören sein. Es ist auch zu befürchten, dass diese Story von etlichen Meinungsmachern in Europa teilweise oder gar vollständig übernommen wird.
Eine Ursachenforschung bezüglich künftiger und daher noch unbekannter Entwicklungserfolge bzw. -misserfolge kann hier noch nicht betrieben werden. Schon heute kann aber darauf verwiesen werden, dass die vor- und nachrevolutionären Strukturen der ukrainischen Politik wichtige Unterschiede aufweisen. Einige kontextuelle Voraussetzungen eines Erfolges der gegenwärtigen Reformwelle der Ukraine (weniger dagegen eines nachhaltigen Wirtschaftsaufschwungs) stellen sich heute besser dar als 2013. Nicht nur hat die Ukraine seit Ende 2014 ihr proeuropäischstes Parlament und ihre reformorientierteste Regierung seit Erlangung der Unabhängigkeit 1991, es gibt zumindest vier weitere innenpolitische Koordinatenverschiebungen, die in ihrer Summe eine pauschale Gleichsetzung vor- und nachrevolutionärer ukrainischer Politik als irreführend erscheinen lassen.
Der verbesserte Kontext ukrainischer Reformbemühungen
Die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft im ukrainischen Gesetzgebungs- und politischen Entscheidungsprozess hat sich im Ergebnis der Revolution der Würde deutlich erhöht. Offensichtlichstes Zeichen ist die Wahl von 19 prominenten Zivilgesellschaftern über verschiedene Parteilisten und Wahlkreise in das Parlament. Diese Euromaidan-Aktivisten bilden den Kern einer neuen interfraktionellen Gruppe, die sich "Eurooptimisten" nennt, aus 23 Abgeordneten besteht und sich die Implementierung des Assoziierungsabkommens sowie die Verhinderung von oligarchischem Einfluss auf die Legislative zur Aufgabe gemacht hat. Nicht nur die Präsenz zivilgesellschaftlicher Gruppen im öffentlichen Diskurs, sondern auch ihre Interaktion mit Staatsbeamten und ihr genereller Einfluss auf die Politik haben sich seit dem Euromaidan merklich verbessert.
Die Rolle westlicher Organisationen, sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher, bei der Vorbereitung, Formulierung, Durchführung und Bewertung der ukrainischen Wirtschafts-, Außen- und Innenpolitik hat sich seit 2013 ebenfalls erhöht. Dies gilt in erster Linie für die Europäische Union, die mit dem 2014 unterzeichneten und teilratifizierten Assoziierungsabkommen sowie den darin vorgesehenen gemeinsamen Institutionen (Assoziierungsrat, Assoziierungskomitee usw.) eine immer markantere Rolle im täglichen politischen Leben der Ukraine spielt. Auch hat die EU – zusätzlich zu ihrer Kiewer Delegation – jüngst eine spezielle und personell gut besetzte Beobachtungsmission in der Ukraine eingerichtet. Einer der wenigen positiven Aspekte der gegenwärtigen tiefen Wirtschaftskrise ist, dass sich der Hebel des Internationalen Währungsfonds bei der Durchsetzung überfälliger makroökonomischer Reformen durch die Notlage des ukrainischen Staatsbudgets verlängert hat. Auch andere westliche Organisationen, Medien, Stiftungen, Förderprogramme, Denkfabriken usw. haben ihr Interesse an der Ukraine im Zusammenhang mit dem Euromaidan und dem russisch-ukrainischen Krieg erhöht. Dies schafft eine neue Gemengelage in Kiew, stärkere ukrainische Interaktion mit dem Westen und daher bessere Voraussetzungen für nachhaltige Reformen in der Ukraine.
Die Rolle der großen Diaspora der ca. 20 Millionen Auslandsukrainer in Gesellschaft und Politik ihres Ursprungslandes hat sich durch ihre Mobilisierung während des Euromaidans und ihre anhaltende Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen seit Sommer 2014 ebenfalls erhöht. Der neue Grad der Involvierung der im Westen lebenden und häufig gut ausgebildeten Auslandsukrainer wird exemplifiziert durch die Neubesetzung des womöglich schwierigsten ukrainischen Regierungsamtes, das der Finanzministerin, mit Natalja Jaresko, einer US-amerikanischen Wirtschaftsexpertin mit ukrainischem Familienhintergrund. Nicht immer, so muss eingeräumt werden, ist der Einfluss der westlichen Diaspora auf die ukrainische Innenpolitik nutzbringend. Dies gilt insbesondere für die merkwürdig antieuropäischen Effekte des hauptsächlich aus Nordamerika reimportierten long-distance nationalism in der Ukraine, welcher im Frühjahr 2015 die Annahme der berüchtigten so genannten Dekommunisierungsgesetze begünstigte. Insgesamt ist jedoch die gestiegene Vernetzung zwischen den verschiedenen Diasporagemeinschaften rund um die Welt untereinander sowie zwischen diesen und der ukrainischen Zivilgesellschaft und Regierung zu begrüßen. Die neue Präsenz der Diaspora in der Ukraine verstärkt ebenfalls den Willen und die Fähigkeit zu tiefgreifenden Reformen.
Die Rolle des Krieges, den die Ukraine im Donbass seit Sommer 2014 de facto gegen Russland führt, ist für die ukrainische Gesellschaft zwar insgesamt hochgradig, jedoch nicht ausschließlich negativ. Die gesamtgesellschaftliche Kriegserfahrung hat größtenteils korrodierende, jedoch in mancher Hinsicht auch disziplinierende und konsolidierende Effekte. Man könnte sogar behaupten, dass der Krieg – abstrakt gesprochen – eine positive Rolle für die ukrainische politische Nationsbildung erfüllt. Nicht nur schafft der Krieg ein klassen- und gruppenübergreifendes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, eine patriotische Fokussierung der Bürger auf zentrale Staatsaufgaben und einen Zustand permanenter gesellschaftlicher Mobilisierung. Die im Krieg erbrachten Opfer erzeugen ebenfalls eine neue Ungeduld gegenüber einer schleppenden Erfüllung von Reformversprechen der Regierung sowie eine wachsende Intoleranz gegenüber Korruption und Vetternwirtschaft in der Exekutive, Legislative und Judikative. Der Krieg motiviert sowohl die Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft als auch die Kooperation verschiedener ukrainischer gesellschaftlicher Akteure über regionale, ethnische, religiöse, soziale, politische und andere Grenzen hinweg. Paradoxerweise übt der Krieg damit teilweise eine Funktion aus, die an die Effekte einer EU-Mitgliedschaftsperspektive für ein postkommunistisches Land erinnert. Nicht eine attraktive Zukunftsvision, sondern eine existentielle Gefahr schweißt heute verschiedene politische und gesellschaftliche Akteure der Ukraine zusammen.
Einige Schlussfolgerungen und ein trüber Ausblick
Die verbesserten politischen Begleitumstände und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für radikale Reformen bedeuten noch nicht, dass diese bereits in nächster Zukunft zügig und vollständig umgesetzt werden. Es ist vielmehr zu befürchten, dass der Reformverlauf schleppend sein, einem Zickzackkurs folgen und von vielen Skandalen sowie Rückschlägen begleitet sein wird. Andererseits erscheint es aufgrund der oben beschriebenen Neustrukturierung der ukrainischen Politik unwahrscheinlich, dass die Reformvorhaben, wie in den Jahren zuvor, einfach wieder versanden. Der soziale und politische Kontext hat sich derart tiefgehend verändert, dass eine bloße Wiederholung früherer Reformverwässerung durch die weiterhin vorhandenen Reformgegner, wie etwa Oligarchen und Bürokraten, schwieriger wird. Wahrscheinlich ist vor diesem Hintergrund, dass die Reformen früher oder später mehr oder minder konsequent durchgeführt werden. Ein Problem könnte im Weiteren allerdings sein, dass die implementierten Reformen aufgrund eines fortgesetzten russischen Hybridkriegs sowie eine dadurch erzeugte Instabilität und Verunsicherung nicht greifen werden. Bessere gesetzliche Konditionen für ausländische Investoren könnten etwa nutzlos verpuffen, solange der ukrainische Staat die physische Sicherheit finanzieller Einlagen in ukrainische Gebäude und Ausrüstungen nicht glaubhaft garantieren kann. Dies gilt in erster Linie für jene russischsprachigen Regionen der heutigen Rumpfukraine, die sich in geographischer Nähe regulärer und irregulärer russischer Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze, in den sogenannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken sowie auf der Krim befinden.
Ähnliches gilt für verbesserte Gesetze und Regelungsverfahren in anderen Bereichen, die angesichts mangelnder Souveränität des ukrainischen Staates letztlich irrelevant bleiben könnten. Sollte das gesellschaftliche, politische und geschäftliche Klima in der Ukraine auch weiterhin von Furcht vor russischer Subversion, Eskalation, Intervention, Invasion, Expansion, Okkupation, Annexion bzw. Expropriation geprägt sein, ist keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu erwarten. Ohne massive in- und ausländische Investitionen jedoch kann der ukrainische Staat – ob nun reformiert oder nicht – nicht lange überleben. Sollte Russland seine Unterwanderung gesellschaftlicher Stabilität und staatlicher Sicherheit in der Ukraine nicht einstellen, wäre selbst ein gründlich durchreformierter, ja formaljuristisch zur Aufnahme in die EU bereiter ukrainischer Staat letztlich dem Tode geweiht.
Lesetipps:
Juri Andruchowytsch, Hg.: Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Berlin: Suhrkamp, 2014.
Claudia Dathe, Andreas Rosteck, Hgg.: Majdan! Ukraine, Europa. Berlin: Tapeta, 2014.
Julie Fedor, Hg.: Russian Mass Media and the War in Ukraine (=Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society 1:1). Stuttgart: ibidem-Verlag, 2015.
Simon Geissbühler, Hg.: Kiew – Revolution 3.0. Der Euromaidan 2013/14 und die Zukunftsperspektiven der Ukraine (=Soviet and Post-Soviet Politics and Society 126). Stuttgart: ibidem-Verlag, 2014.
David R. Marples, Frederick V. Mills, Hgg.: Ukraine’s Euromaidan. Analyses of a Civil Revolution (=Soviet and Post-Soviet Politics and Society 134). Stuttgart: ibidem-Verlag, 2015.
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Hgg.: Zerreißprobe Ukraine. Konflikt, Krise, Krieg (=Osteuropa 64:5–6). Berlin: BWV, 2014.
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Hgg.: Gefährliche Unschärfe. Russland, die Ukraine und der Krieg im Donbass (=Osteuropa 64:9–10). Berlin: BWV, 2014.
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Hgg.: Zerrissen. Russland, Ukraine, Donbass (=Osteuropa 65:1–2) Berlin: BWV, 2015.
Manfred Sapper, Katharina Raabe, Hgg.: Testfall Ukraine. Europa und seine Werte. Berlin: Suhrkamp, 2015.