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Analyse: Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Verhältnis zur belarusischen Opposition (28.11.2024) Analyse: Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition dekoder: "Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt" Umfragen: Meinung in der Ukraine zu Belarus’ Kriegsbeteiligung Umfragen: Unterstützung in Belarus von Russlands Krieg gegen die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Energieversorgung / Grüne Transformation (09.10.2024) Analyse: (Wie) Lässt sich die Energiekrise in der Ukraine abwenden? Analyse: Eine stärkere Integration des Stromnetzes in die EU kann der Ukraine helfen, die nächsten Winter zu überstehen Statistik: Stromimporte aus EU-Staaten Analyse: Resilienz wieder aufbauen: Die Rolle des ukrainischen Klimabüros bei der grünen Transformation Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik EU-Beitrittsprozess (29.07.2024) Analyse: Die Ukraine und die EU: Erweiterungspolitik ohne Alternative? 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Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? 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Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. 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Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition Ukraine-Analysen Nr. 307

Boris Ginzburg

/ 11 Minuten zu lesen

Das Plakat bei einer Demonstration der belarusischen Diaspora in Polen im August 2024 drückt die Solidarität der belarusischen Opposition mit der Ukraine aus. (© picture-alliance, NurPhoto | Artur Widak)

Zusammenfassung

Nachdem das Lukaschenka-Regime im Februar 2022 den Kreml bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine logistisch unterstützt hatte, wäre es erwartbar gewesen, wenn die Ukraine auf eine engere Zusammenarbeit mit der belarusischen (Exil-)Opposition gesetzt hätte. Doch obwohl beide Seiten nun dasselbe Feindbild hatten, ist dies nicht geschehen. Im Gegenteil: Kyjiw vermeidet sogar, mit der belarusischen Exilopposition rund um Swjatlana Zichanouskaja assoziiert zu werden. Woher kommt Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition?

Die Wahl des belarusischen Kooperationspartners

Mitte Oktober 2022 wurde die ukrainische Onlinezeitung "Ewropejska Prawda" zum Austragungsort einer lebhaften Debatte. Thema war der Umgang des offiziellen Kyjiws mit der belarusischen Exilopposition und dem Lukaschenka-Regime seit dem vollumfänglichen russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022, in welchem Minsk als Ko-Aggressor agiert hat. Als Hauptkontrahenten der Diskussion fungierte auf der einen Seite der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit, Bohdan Jaremenko, auf der anderen Seite stand der Redakteur der "Ewropejska Prawda", Jurij Pantschenko.

Jaremenko vertrat die Position, dass es für Kyjiw angebracht sei, auf belarusische Akteur:innen zu setzen, die eine reale Bedrohung für das Lukaschenka-Regime darstellen würden. Die belarusische Exilopposition rund um ihre Anführerin Swjatlana Zichanouskaja müsse hingegen als ineffektiv und kraftlos angesehen werden. Dies sei unter anderem ihrem Exil und der daraus resultierenden fehlenden Einflusskanäle auf die belarusische Innen- und Außenpolitik geschuldet. Folglich müsse Kyjiw deshalb verstärkt das sogenannte "Kastus-Kalinouski-Regiment (KKR)" fördern. Diese paramilitärische Gruppe – bestehend aus Exilbelarus:innen – kämpft als Bestandteil der ukrainischen Streitkräfte gegen Russlands Armee. Die Aufgabe Kyjiws sei es daher, so Jaremenko, das KKR von einer militanten Gruppierung zusätzlich in eine politische Partei zu transformieren.

Im Gegensatz dazu argumentierte Pantschenko, dass der von Jaremenko vorgeschlagene Ansatz nicht ausreichend durchdacht sei. Er berge das Risiko, der belarusischen Autokratie unbewusst in die Karten zu spielen. Denn er habe drei inhärente Schattenseiten: Erstens, das offizielle Kyjiw könne hierdurch die belarusische Exilopposition (zu denen Pantschenko sowohl den politischen Flügel der belarusischen Opposition – das Übergangskabinett unter Leitung von Zichanouskaja, den Koordinierungsrat – als auch den bewaffneten Flügel – das KKR – zählt) weiter spalten und somit schwächen. Zweitens, dies könne fatale Implikationen auf die zukünftigen Beziehungen zwischen der Ukraine und eines post-Lukaschenka Belarus haben. Die Belarus:innen könnten dies nämlich als ein Aufzwingen eines bestimmten politischen Modells bzw. Einmischung von außen auffassen. Dies ähnele der Außenpolitik des russländischen Aggressors gegenüber dem "nahen Ausland". Daraus folge, drittens, ein internationaler Imageschaden für die Ukraine. Vor allem in den westlichen Demokratien seien die ukrainischen Soft Power-Kapazitäten seit Beginn des ukrainischen Verteidigungskrieges im Februar 2022 stark gestiegen. Diesen Vorteil dürfe man nicht einfach riskieren zu verlieren, so Pantschenko.

Diese Debatte liegt nun zwei Jahre zurück. Durch aufmerksame Beobachtungen der Kyjiwer Belarus-Politik kann festgehalten werden, dass sich der Jaremenko-Ansatz (nicht in allen, so doch) in vielen Aspekten der ukrainischen Außenpolitik durchgesetzt hat. Doch wie genau sieht die Politik Kyjiws gegenüber der belarusischen Opposition aus? Und auf welchen Grundlagen beruht sie?

(Zu) Späte Abwendung vom Kreml

Schon während der Massenproteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 blieb in Kyjiw nicht unbemerkt, dass sich selbst führende belarusische Oppositionelle nicht vom Kreml distanzierten. Im Gegenteil, diese versuchten, Moskau nicht gegen sich aufzubringen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Proteste einen anti-Kreml Charakter haben könnten. Es war auch ein präventives Bemühen der demokratischen Kräfte in Belarus, Moskau davon abzuhalten, sich an der Niederschlagung der Proteste zu beteiligen, wozu Wladimir Putin im September 2020 seine Bereitschaft erklärt hatte. So äußerte sich Zichanouskaja lange Zeit nur äußerst vage zum Thema Krim-Annexion. Die Krim sei "de jure ukrainisch" aber "de facto russisch", so Zichanouskaja im September 2020. Logischerweise ist diese Aussage in Kyjiw kritisch aufgefasst worden. Der damalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba riet deshalb Zichanouskaja im Dezember 2020, ihre Aussagen zur ukrainischen territorialen Integrität ab sofort "genauer" zu formulieren.

Auch andere führende belarusische Oppositionelle zu dieser Zeit hatten einen eher gemischten Ruf in der Ukraine. Dem ehemaligen Chef der "Belgazprombank" – einer Tochtergesellschaft des vom Kreml kontrollierten Energiekonzerns "Gazprom" – und späteren Präsidentschaftsanwärter Wiktar Babaryka, wurde oft eine Verbindung zum Kreml nachgesagt, ohne dass es dafür jedoch ernsthafte Beweise gibt. Seit Juni 2020 sitzt Babaryka jedoch als politischer Gefangener in belarusischer Haft (ein Indiz für das schwierige Verhältnis zwischen Lukaschenka und Putin).

Erst nach Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022, welcher von Swjatlana Zichanouskaja und ihrer Anhängerschaft scharf verurteilt worden ist, nahmen die belarusischen Demokratiekräfte im Exil allmählich eine klare Haltung gegen Moskau ein. Diese politische Kursänderung traf aber nicht auf Reziprozität seitens Kyjiws.

Die fehlende Differenzierung der politischen Systemumstände

Die innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine sind ebenso relevant. Sowohl 2004/05 als auch 2013/14 gelang es der ukrainischen Zivilgesellschaft bekanntermaßen erfolgreich, gegen ihre politischen Eliten zu protestieren.

Sobald das offizielle Kyjiw oder auch "einfache" Ukrainer:innen auf die Opposition in Belarus angesprochen werden, lässt sich oft Unverständnis für die angebliche Machtlosigkeit der Oppositionsbewegung heraushören – schließlich hätten die Menschen in der Ukraine ja schon zweimal erfolgreich bewiesen, dass Massenproteste Machtwechsel bewirken können.

Wenn der außenpolitische Berater des ukrainischen Präsidenten Mychajlo Podoljak auf X/Twitter das Nobelpreiskomitee dafür kritisiert, dass der Friedensnobelpreis 2022 nicht nur an das ukrainische "Zentrum für bürgerliche Freiheiten" verliehen wird, sondern zusätzlich an den belarusischen inhaftierten Menschenrechtler Ales Bjaljazki und die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial", wirkt das auf viele wie eine Art Überlegenheitsgefühl.

Ein solches Auftreten ist aber vor allem aus folgendem Grund problematisch: Im Gegensatz zur Ukraine waren im belarusischen politischen System keine oppositionellen Akteur:innen und Parteien verankert, die – wie in der Ukraine – im Kontext zentraler innenpolitischer Wandlungsprozesse in der Lage gewesen wären, ihre Anhängerschaft effektiv gegen die Regierung zu mobilisieren. Podoljaks Rhetorik ignoriert daher den politischen Kontext, denn es gibt große systemische Unterschiede zwischen der "defekten Demokratie" in der Ukraine und der personalistischen Autokratie in Belarus, was direkte Auswirkungen auf die Mobilisierungskapazitäten der Oppositionskräfte hat.

Aufbau eines politischen Profils der bewaffneten belarusischen Exilopposition

Die Ukraine fokussiert ihre Politik eher auf diejenigen Akteure der belarusischen Opposition, die aus ukrainischer Sicht nicht nur rhetorisch Kritik äußern, sondern auch militärisch agieren. Gemeint ist vor allem das bereits erwähnte "Kastus-Kalinouski-Regiment" mit bis zu 1.500 Soldaten, welches seit März 2022 an der Seite Kyjiws gegen Russland kämpft.

Interessant ist hier, wie die Ukraine versucht das KKR – wie im Jaremenko-Ansatz gefordert – nicht nur in ihrer militärischen Form, sondern auch politisch zu etablieren. So veranstaltet das offizielle Kyjiw (unter der Ägide des Militärgeheimdienstes HUR) in regelmäßigen Abständen "Konferenzen" der belarusischen Exilopposition (beider Flügel) auf seinem Territorium. Die letzte Zusammenkunft dieser Art verlief unter dem Namen "Der Weg zur Freiheit" in Kyjiw im November 2023. Ziel ist es hier offenbar, dem KKR ein "demokratisches" Gesicht in der Öffentlichkeit zu verleihen. Reputationsbelastend für das KKR ist nämlich, dass einzelne ihrer Mitglieder ihren Ursprung in rechtsnationalen Kreisen hatten. Zwar werden die Führungspersonen der Exilopposition – wie Zichanouskaja – nicht explizit ausgeladen, aber auch nicht offiziell eingeladen. Dementsprechend haben Mitglieder aus Zichanouskaja’s Team bei der Konferenz in Kyjiw mehrfach signalisiert, dass jegliche unterschriebenen Vereinbarungen zwischen beiden Oppositionsflügeln keine rechtliche Bindung hätten. Hierfür müssten führende Politiker:innen aus der belarusischen Exilopposition anwesend sein – gemeint war vor allem Zichanouskaja.

Diese betonte in mehreren Interviews, sie sei jederzeit bereit, nach Kyjiw zu reisen. Jedoch erfordere ihr zufolge das diplomatische Etikett, dass Kyjiw ihr als gewählte belarusische Volksvertreterin eine offizielle Einladung zusende. Dieser Forderung kam die Ukraine bisher nicht nach. Denn das wiederum könnte in Minsk als Kyjiws indirekte Anerkennung Zichanouskajas als belarusische Präsidentin gedeutet werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass es bisher kein offizielles bilaterales Treffen zwischen Zichanouskaja und Selenskyj gab. Das letzte sporadische Aufeinandertreffen erfolgte bei der letzten Zusammenkunft der "Europäischen Politischen Gemeinschaft" in Großbritannien im Juli 2024. Wie auch beim ersten zufälligen Treffen bei der Aachener Karlspreis-Verleihung im Mai 2023 begrüßten sich beide nur kurz per Handschlag. Während Zichanouskajas Team Aufnahmen vom ersten Aufeinandertreffen in ihren Social-Media-Kanälen teilte, war das auf ukrainischer Seite aufgrund realpolitischer Motive nicht der Fall.

Der "Don’t lose Luka"-Ansatz

Mit dem "Don’t lose Luka"-Ansatz könnte man das – basierend auf realpolitischen Erwägungen – bis heute zu beobachtende selektive Engagement Kyjiws mit dem Lukaschenka-Regime beschreiben. Ziel ist hierbei, Lukaschenka nicht endgültig an den Kreml zu verlieren. Hauptmotive hierfür sind politische, humanitäre und ökonomische Aspekte. Aus Platzgründen wird dieser Aufsatz nur die politischen Motive kurz beleuchten. Sie verdeutlichen, warum das offizielle Kyjiw es meidet, zu sehr mit den belarusischen Demokratiekräften assoziiert zu werden. Zur selben Zeit stellt dieser außenpolitische Ansatz auch die wichtigste Änderung im beschriebenen Jaremenko-Konzept dar. Denn dort war von einem partiellen und parallelen Engagement Kyjiws mit dem Lukaschenka-Regime nicht die Rede.

Seit der Maidan-Revolution 2013/14 und der darauffolgenden ersten Invasion des Kremls in die Ukraine operierte Minsk als Austragungsort für die Vermittlungsbemühungen zwischen Kyjiw und Moskau. Dies erlaubte Lukaschenka, nicht nur Reputationsgewinne innerhalb der westlichen Staatenwelt zu machen. Er erntete zugleich innerhalb der ukrainischen Gesellschaft Lorbeeren. Der belarusische Autokrat genoss in der Ukraine vor 2022 lange Zeit hohe Zustimmungswerte bei den Ratings der beliebtesten ausländischen Politiker:innen. Das war auch seiner Ablehnung zu verdanken, die russländische Krim-Annexion anzuerkennen. Eine zu große Nähe Kyjiws zu Zichanouskaja und Co. barg somit vor der russischen Vollinvasion die Gefahr, die "Kommunikationsplattform Minsk" zu gefährden und im schlimmsten Fall Lukaschenka im Konflikt zwischen Kyjiw und Moskau dadurch endgültig auf die Seite Russlands zu treiben.

Am 29. Juli 2020, nur wenige Tage vor den manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August 2020, nahmen zudem belarusische Sicherheitskräfte in Minsk 33 Söldner der privaten russischen Söldnertruppe "Wagner" fest. Diese seien angeblich vom Kreml mit dem Ziel der Destabilisierung der innenpolitischen Lage in Belarus beauftragt worden. Auch wenn dieser Vorwand womöglich ausgedacht war, war und ist es ein weiteres Indiz für die konfliktreiche Beziehung zwischen Lukaschenka und Putin. Es gibt aber zugleich bis heute Gerüchte darüber, dass Lukaschenka hier in eine laufende Operation des ukrainischen Geheimdienstes interveniert hat. Das Ziel soll gewesen sein, die Söldner – denen Kyjiw Kriegsverbrechen im Donbas vorwarf – nach einem Zwischenstopp in Belarus in die Ukraine zu bringen und diese dort vor ein Gericht zu stellen. Fakt ist, dass die Ukraine (letztendlich vergeblich) sich um eine Auslieferung der Söldner bemühte.

Doch dieses Unterfangen und der "Don’t lose Luka"-Ansatz standen mit der ausgebrochenen Protestwelle in Belarus 2020 plötzlich vor einem riesigen Dilemma: Gegenüber wem war nun die Solidarität der Ukraine größer? Gegenüber dem Lukaschenka-Regime, das jahrelang nicht bereit gewesen war, Moskaus Expansionspolitik auf Kosten der Ukraine anzuerkennen (vor allem aus Eigeninteresse natürlich)? Oder gegenüber der belarusischen Zivilgesellschaft, die – ähnlich wie die ukrainische in zwei Revolutionen – ihren Machthabern jetzt die Stirn bot?

Die Ukraine wählte einen Mittelweg: Einerseits keine offizielle Anerkennung der manipulierten belarusischen Präsidentschaftswahlen von 2020, andererseits Distanz zur Oppositionsbewegung. Einerseits eine ukrainische Teilnahme am ersten EU-Sanktionspaket gegen Minsk im Oktober 2020, andererseits keine Partizipation an darauffolgenden EU-Sanktionspaketen. Und einerseits die Gewährung von Zuflucht in der Ukraine für verfolgte Belarus:innen, aber andererseits kein offizielles politisches Asyl für die Geflohenen. Dieser diplomatische Dualismus Kyjiws ist von beiden Lagern in Belarus skeptisch gesehen worden: Lukaschenka betrachtete dies als Undankbarkeit und Verrat seitens der Ukraine. Und innerhalb der belarusischen Demokratiekräfte stieß Kyjiws Ansatz ebenso auf Unverständnis.

Folgen der russischen Vollinvasion

Seit Beginn der vollumfänglichen russländischen Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, in welcher Belarus als logistischer Kreml-Helfer diente, hält die Ukraine weitgehend an ihrem außenpolitischen Kurs gegenüber Minsk fest. Das realpolitische Gebot der Stunde ist, zum einen Lukaschenka nicht zu provozieren, direkt bzw. mit eigenen Soldaten in der Ukraine zu intervenieren, und zum anderen das Minsker Regime nicht zu sehr zu schwächen, sodass es kollabieren würde. Bei so einem Szenario ist nicht ausgeschlossen, dass Belarus vom Kreml absorbiert werden und (wieder) gegen die Ukraine "eingesetzt" werden könnte. Zu Beginn des Krieges erlaubte man Lukaschenka deshalb erneut, als Vermittler zu agieren. Dass sich die Delegationen aus der Ukraine und Russland kurz nach Kriegsbeginn am 28. Februar und danach noch zwei weitere Male im März 2022 ausgerechnet im Ko-Aggressorstaat Belarus zu Verhandlungen trafen, ist von der exilierten belarusischen Oppositionsbewegung kritisch gesehen worden. Denn diese setzt bis heute ihre Lobbyarbeit im Westen auf die völlige internationale Isolierung des Minsker Regimes.

Interessant ist auch, dass Kyjiw nach Kriegsbeginn darauf verzichtete, die diplomatischen Beziehungen zu Belarus zu kappen. Der damalige ukrainische Botschafter in Belarus, Ihor Kysym, ist nicht aus Minsk zurückberufen worden. Gleichzeitig bot laut Kysym die Ukraine der belarusischen Botschaft in Kyjiw angeblich an, diese nach Lwiw zu evakuieren. Als Minsk das Angebot aus Sicherheitsaspekten ablehnte, sei der belarusische Botschafter Igor Sokol persönlich von ukrainischen Sicherheitskräften (!) an die ukrainisch-belarusische Grenze gebracht worden. Ihor Kysym wurde zwar im April 2023 von Kyjiw zurückberufen (aus Protest, weil Lukaschenka einen führenden Separatistenführer aus dem besetzten Donbas empfangen hatte). Daraufhin aber ist Kysym im Februar 2024 zum "Ukrainischen Botschafter für besondere Aufgaben gegenüber Belarus" ernannt worden.

Im Übrigen beschuldigt das Zichanouskaja-Team Kyjiw seit Kriegsbeginn, im Westen für das Lukaschenka-Regime zu lobbyieren. So soll unter anderem das ukrainische Außenministerium dafür verantwortlich sein, dass bei der Sanktionspolitik gegenüber Belarus auf die Bremse gedrückt werde. Während Kyjiw diese Vorwürfe strikt von sich weist, sagten im Mai und August 2023 sowohl der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, als auch Lukaschenka persönlich, dass es weiterhin Kontakte zwischen Kyjiw und Minsk gebe. Dies sorgte sowohl in ukrainischen als auch belarusischen (Exil-)Medienkreisen für Aufruhr. Seither dementiert Kyjiw jegliche Kontakte zu Minsk.

Doch wenn der Sinn dieses Ansatzes darin besteht, Lukaschenka nicht zu (erneuten) Handlungen gegen die Ukraine zu provozieren, warum hält die Ukraine dann Kontakt zum bewaffneten Flügel der belarusischen Exilopposition? Aus zweierlei Gründen: Einerseits verleiht das Kastus-Kalinouski-Regiment der Ukraine ein höheres Drohpotenzial gegenüber dem Minsker Regime (nach dem Motto: "Man weiß ja nie"). Das KKR macht keinen Hehl daraus, das Lukaschenka-Regime stürzen zu wollen. Anderseits kann das Lukaschenka-Regime paradoxerweise auch aufatmen. Denn solange das KKR der ukrainischen Oberbefehlsgewalt untersteht und Kyjiw den bisherigen Ansatz weiterverfolgt, ist es unwahrscheinlich, dass Kyjiw das KKR gegen das Lukaschenka-Regime einsetzen wird.

Fazit

Die vorliegende Analyse der komplexen Beziehungen zwischen der Ukraine und der belarusischen (Exil-)Opposition zeigen eine strategische Distanz Kyjiws zur politischen belarusischen Exilopposition. Allerdings sind nicht die belarusischen Demokratiekräfte an sich ein Problem für das offizielle Kyjiw – vielmehr war es das Timing ihres Auftauchens als neuer politischer Akteur in den ukrainisch-belarusischen Beziehungen zu einer Zeit, in der die Ukraine auf Einflusskanäle des Lukaschenka-Regimes angewiesen war.

Die Ergebnisse offenbaren zudem ein präziseres Bild der Ukraine. Kyjiw schafft es – neben dem Aufbau des Images als eine Festung der Demokratie und ihrer Werte in Europa – gleichzeitig und im Stillen Realpolitik zu betreiben. Denn der ambivalente ukrainische Umgang mit der belarusischen Exilopposition verdeutlicht, dass die Ukraine aus pragmatischen Gründen auch konträr zu demokratischen Werten stehen kann. Für den Westen bedeutet dies, diesen politischen Kurs und die Schattenseiten des von Kyjiw adaptierten Jaremenko-Ansatzes nicht zu übersehen (siehe Jurij Pantschenko in der Einleitung).

Früher oder später wird es in Belarus eine Zeit nach Lukaschenka geben. Ob diese autoritär oder demokratisch geprägt sein wird, kann niemand vorhersagen. In beiden Fällen könnte die jetzige ukrainische strategische Distanz zur belarusischen Exilopposition sich für Kyjiw entweder als Vor- oder aber auch als sehr großer Nachteil erweisen.

Weitere Inhalte

Boris Ginzburg promoviert in Politikwissenschaften am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. In seiner Dissertation erforscht er die Kausalität zwischen Sanktionen demokratischer Staaten und Repressionen in autokratischen Zielstaaten am Beispiel der EU- und US-Sanktionen gegen Belarus. Zuvor studierte er Politikwissenschaft, Völkerrecht und internationale Konfliktanalyse an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, an der Freien Universität in Berlin und an der University of Kent in Canterbury (Vereinigtes Königreich). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Autokratieforschung im postsowjetischen Raum, die belarusischen und russischen nicht-systemischen Oppositionsbewegungen sowie die Außenpolitik Israels.