Die jüngste Regierungsumbildung hatte sich seit Anfang des Jahres angedeutet und dennoch kam sie für viele westliche Beobachter überraschend. In Zeiten der russischen Vollinvasion sind Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments per Verfassung verboten. Der Regierungsumbau des halben Kabinetts und die Präsentation "neuer Gesichter" bieten dem Präsidenten aber eine Möglichkeit zu zeigen, dass gewisse Veränderungen dennoch möglich sind.
Lange wurde unter Insidern spekuliert, wer den wenig beliebten Premierminister Denys Schmyhal ersetzen könnte. Aber ausgerechnet Schmyhal überstand die Kabinettsumbildung mangels zur Verfügung stehender Alternativen. Sein Abgang, so heißt es, ist damit lediglich vertagt. Auch unter den neuen Ministerinnen und Ministern sind im Kern keine neuen Gesichter. Die meisten sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte Personen, die in erster Linie durch ihr Vertrauensverhältnis zur und ihre Erfahrung in der Präsidialverwaltung, der Bankowa, in Erscheinung getreten sind.
Das zentrale Prinzip der Auswahl der neuen Ministerinnen und Minister ist und bleibt also Loyalität. Wichtig ist zu verstehen, dass die Regierungsgeschäfte im Kern nicht von den Ministern oder gar dem nominellen Regierungschef Schmyhal geleitet, sondern aus der Präsidialverwaltung – und maßgeblich dessen Leiter Andrij Jermak und seinen engsten Vertrauten – gesteuert werden. Genau das schreckte fähige bzw. erfahrene Leute aus der Wirtschaft und Zivilgesellschaft ab, um die sich Selenskyjs Team teils bemüht hatte. Dass es Selenskyj und Jermak nicht gelungen ist, wirklich neue, kompetente Gesichter zu rekrutieren, ist in aller erster Linie als ein Zeichen der Schwäche zu werten. Die Personaldecke derjenigen, denen die Entscheidungsträger in der Bankowa vertrauen, ist dünn.
Gerade bei der anstehenden Eröffnung der EU-Verhandlungskapitel wirft das die Frage auf, wie realistisch das Ziel der Regierung, möglichst viel EU-Recht möglichst schnell umzusetzen. Mit Olha Stefanischyna hat die Ukraine zwar eine fähige Justizministerin, Vize-Premierministerin und Chefunterhändlerin im Amt. Sie und ihr Team koordinieren die Verhandlungen mit der EU und die Umsetzung innerhalb der Regierung. Bei der Umsetzung kommt es aber auf die Qualität, Professionalität und das Zusammenspiel von zahlreichen Ministerien und Behörden an. Wenn der EU-Beitrittsprozess nicht zügig auch durch die Fortsetzung der angestoßenen Reform der öffentlichen Verwaltung ergänzt wird, droht hier viel wertvolle Zeit vergeudet zu werden, da schlicht nicht genügend kenntnisreiche, ausgebildete und motivierte Bürokraten zur Verfügung stehen, die diesen Mammutakt der Umsetzung des EU-Rechts in nationale Gesetze und Rechtsakte in die Tat umsetzen können.
Ein Hauptargument für die Umbildung war laut Selenskyj zudem, dass die entscheidenden Ministerien vor dem anstehenden schwierigen Herbst und Winter gestärkt werden sollten. An den strukturellen Schwächen der Ministerien selbst, der Ausdünnung bei fähigem Personal, ändert sich kaum etwas. Gerade zwei der Schlüsselministerien blieben von den Veränderungen unangetastet. Zuletzt warfen führende Köpfe der Zivilgesellschaft dem Verteidigungsminister Rustem Umerow "administratives Chaos"
Auch im so wichtigen Energieministerium gab es trotz zum Teil scharfer Kritik an Energieminister Herman Haluschtschenko keine Veränderung. Das überraschte insofern, da vor Kurzem erst die rechte Hand des Ministers, Vizeminister Oleksandr Cheilo, auf frischer Tat bei einer Schmiergeldzahlung ertappt
Gleichzeitig gelang es Haluschtschenko im Zuge der Regierungsumbildung ausgerechnet Wolodymyr Kudryzkyj zu entlassen, der seit 2020 Chef des ukrainischen Netzbetreibers Ukrenerho war. Kudryzkyj selbst gilt als effektiver Manager und setze sich wie kaum ein anderer für Anreizsysteme zur dezentralen Energiegewinnung durch Unternehmen ein. Ohne konkrete Begründung wurde Kudryzkyj in einer Sondersitzung des Aufsichtsrates des Amtes enthoben. Das veranlasste die beiden einzigen internationalen, unabhängigen Mitglieder des Aufsichtsrates zum Rücktritt. In einem scharfen Statement
Der Ukrenerho-Skandal steht exemplarisch für Probleme mit der Corporate Governance der wichtigsten Staatsunternehmen. Nach 2014 versuchte die Ukraine, die Vorstände und Aufsichtsräte zu professionalisieren – auch durch die Einbeziehung internationaler Expertinnen und Experten in die Aufsichtsräte. Nun untersteht ein wichtiges Staatsunternehmen wieder größerer politischer Kontrolle.
Kritiker wie der Oppositionspolitiker Jaroslaw Schelesnjak mutmaßen,
Das ist kaum nachzuvollziehen, da der ukrainische Staat von westlichen Hilfszahlungen und Unterstützungsleistungen abhängig ist. Trotz des Krieges sollten Probleme in einzelnen Ministerien, verschleppte Reformen oder alarmierende innenpolitische Entwicklungen klar angesprochen werden, erst hinter verschlossenen Türen und dann notfalls öffentlich. Sollte das nicht helfen, muss notfalls der politische Einfluss der einzelnen Staaten, der G7 und der EU konsequent geltend gemacht werden. Zahlungen von Krediten und Zuschüssen sind an klare Kriterien gebunden, die es zu überprüfen gilt. Bei Rückschritten sollten Zahlungen auch ausgesetzt werden. Das Prinzip der Konditionalität erfordert ein klares Verständnis über die innenpolitischen Entwicklungen der Ukraine unter den westlichen Partnern und eine starke Rolle der EU. Geschwächte Institutionen und verschleppte Reformen bedrohen die gesellschaftliche Resilienz und das angestrebte Ziel, möglichst schnell der EU beizutreten. Zur Freundschaft mit der Ukraine gehört es daher auch, mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und einzuordnen und entsprechend gegenzusteuern.