Die EU und die Ukraine vor Februar 2022
Unmittelbar vor der Vollinvasion Russlands vom 24. Februar 2022 hatten die Beziehungen der Ukraine zur Europäischen Union eine schwierige Phase durchlaufen. In Kyjiw waren Regierungsvertreter:innen angesichts der beachtlichen Reformanstrengungen des Landes unzufrieden mit dem mangelnden Fortschritt in Richtung einer echten Beitrittsperspektive. Der Hintergrund für die Vorbehalte der Union lag auf der Hand: In den Mitgliedstaaten bestand zu diesem Zeitpunkt kein Interesse an einer Erweiterungsdebatte, und die Ukraine wurde von der Mehrzahl der EU-Staaten auf absehbare Zeit als Nachbar betrachtet. Nur wenige Wochen vor der Vollinvasion ignorierte Brüssel die regionale Initiative des so genannten "Assoziierten Trios". Mit ihr wollten die Ukraine, Georgien und Moldawien ihre Beitrittsbestrebungen untermauern und klar machen, dass sie im Vergleich zu anderen Ländern der Nachbarschaft ernsthafte Reformen vorweisen konnten. Gleichzeitig gelang es der Ukraine trotz des andauernden russischen Truppenaufmarsches an ihren Grenzen nicht, größere Mitgliedstaaten wie Deutschland von mehr Investitionen in die Sicherheit des Landes zu überzeugen. Eine Ausbildungsmissionen für ukrainische Soldaten hatte die Bundesregierung noch wenige Monate vor der Vollinvasion abgelehnt (Schiltz, 2021).
In der Ukraine hatte sich allerdings seit 2014 – als das Land seinen unmissverständlichen Wunsch nach einer Mitgliedschaft in EU und NATO anstelle seiner bisherigen "multivektoralen" Außenpolitik zum Ausdruck brachte – ein ernsthafter Wandel in der Haltung gegenüber der EU-Integration vollzogen. Während seit der "Orangenen Revolution" von 2004 eine gewisse Form von öffentlicher Romantik und elitärer Instrumentalisierung den innenpolitischen EU-Diskurs geprägt hatte, führten der Abschluss des Assoziierungsabkommens und die innenpolitischen Veränderungen in der Ukraine nach der Euromaidan-Bewegung von 2014 zu einem zunehmend nüchternen und methodischen Ansatz im Umgang mit der EU. Anstatt vor allem das hehre Ziel der Mitgliedschaft zu betonen, setzte sich bei den politischen und bürokratischen Eliten sowie der Zivilgesellschaft sukzessive ein professioneller und aus realistischen Einzelschritten bestehender Ansatz durch, der sich auf den technischen Harmonisierungsprozess konzentriert. Bis ins erste Kriegsjahr 2022 konnten so laut einer regierungsunabhängigen Analyse bspw. 55 % der im Assoziierungsabkommen mit der EU vereinbarten Schritte umgesetzt werden (UCEP/KAS, 2023).
Kandidatenstatus als Paradigmenwechsel?
Nach der Vollinvasion Russlands und insbesondere nach den Erfolgen der ukrainischen Armee in der Schlacht um Kyjiw nahm das Verhältnis des Landes zur EU im Frühjahr 2022 eine entscheidende Wende. Die Verteidigung der Ukraine wurde von den europäischen Eliten und den westlichen Öffentlichkeiten zunehmend als Kampf für Demokratie und Freiheit gegen ein revanchistisches und repressives russisches Regime interpretiert – zentrale europäische Werte standen auf dem Spiel. Darüber hinaus waren die strategischen Interessen von EU und NATO in Gefahr. Zwar hatten Russlands Annexion der Krim und die Besetzung von Teilen der Ostukraine die europäische Sicherheitsarchitektur bereits erschüttert, der komplette Fall der Ukraine hätte allerdings zu einer tausende Kilometer langen direkten Grenze mit einem aggressiven Russland geführt. Dies hätte das Vertrauen in die Fähigkeit der EU und der NATO, ein strategisches Gleichgewicht auf dem Kontinent zu verteidigen, nachhaltig geschwächt. Dennoch waren viele Beobachter überrascht, als Kommissionspräsidentin von der Leyen am 24. Juni 2022 ankündigte, sowohl der Ukraine als auch der Republik Moldau den Kandidatenstatus zu verleihen.
Offensichtlich sahen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten in der Verleihung des Kandidatenstatus vor allem eine notwendige Geste gegenüber einem Land, das "für europäische Werte kämpft" (von der Leyen, 2022). Eine Debatte über die Machbarkeit einer "Erweiterung im Krieg" und über die schwerwiegenden möglichen Folgen einer Mitgliedschaft der Ukraine für die EU als Gemeinwesen wurde in die Zukunft verschoben. Wohl auch deshalb blieben viele der älteren EU-Mitgliedstaaten auch nach Juni 2022 skeptisch. Für ihre Vertreter:innen war die Verleihung des Kandidatenstatus vor allem ein "symbolischer Schritt", ohne größere materielle Bedeutung oder gar Verpflichtung von Seiten der EU. Für diese Form der zieloffenen Erweiterungspolitik gibt es genügend Vorlagen: Erweiterungskandidaten wie Albanien (Kandidat seit 2014, Verhandlungen erst seit 2022) befanden sich schon lange im "Wartesaal", und der de-facto abgebrochene Beitrittsprozess der Türkei (Kandidat seit 1999, Verhandlungen seit 2005, Stillstand seit 2018) zeigt, dass es für Kandidatenländer keine Garantie für eine spätere Mitgliedschaft gibt. Als offizieller Beitrittskandidat hatte die Ukraine so zwar eine Tür in Richtung Beitritt geöffnet, auf die sie ohne den Krieg vielleicht ein weiteres Jahrzehnt hätte warten müssen. Von einem Paradigmenwechsel in den Beziehungen zur EU konnte zu diesem Zeitpunktaber keine Rede sein.
In der Ukraine stärkte der Kandidatenstatus jedoch das neue Selbstbewusstsein der Regierung gegenüber der Außenwelt und insbesondere gegenüber ihren westlichen Partnern. Der Krieg wurde von Präsident Selenskyj und seinem Team als historisches Gelegenheitsfenster begriffen, den euro-atlantischen Organisationen beizutreten, und zwar in beschleunigter Form. Durch den Krieg genoss Kyjiw eine moralisch-politische Sonderrolle und wollte sie auch nutzen. Daher verstärkten ukrainische Vertreter:innen im Nachgang der EU-Entscheidung ihre Bemühungen, sowohl die geopolitische Bedeutung der EU-Mitgliedschaft ihres Landes für den Westen als auch die eigene Wahrnehmung als "Reform-Avantgarde" (Stefanishyna, 2022) innerhalb der östlichen Nachbarschaft zu betonen. Die Botschaft war klar: Die Ukraine hatte sich die Mitgliedschaft aufgrund ihrer beeindruckenden Reformleistungen und ihres Einsatzes zur Verteidigung der Freiheit des Kontinents bereits verdient. In einer solch emotionalen, vom Krieg geprägten Atmosphäre stellte sich die kritische Frage, ob die EU ihre bisherige Konditionalitätspolitik gegenüber der Ukraine überhaupt noch fortsetzen konnte oder ob sich die Logik der Beziehung bereits grundlegend geändert hatte.
Seit der Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine hat innerhalb der Union eine umfassendere Debatte darüber begonnen, was eine weitere "Big-Bang"-Erweiterung für die EU und die Beitrittsländer selbst bedeuten würde. Drei unterschiedlich stark ausgeprägte Debattenstränge lassen sich ausmachen. Der erste dreht sich um die Idee der "geopolitischen Erweiterung" als neues Hauptargument für den Beitritt der Ukraine und anderer Staaten zur Union. Eine zweite Debatte dreht sich um die Vorbereitung der EU auf die Erweiterung und die Dringlichkeit von Reformen in der Union selbst. In einer dritten, weniger prominenten Debatte geht es um die Bereitschaft der Ukraine zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und zur zügigen Umsetzung des Acquis.
Die Sicherheitsfrage: Ist die "geopolitische Erweiterung" durchführbar?
Es ist nicht überraschend, dass die stärksten Befürworter:innen einer Mitgliedschaft der Ukraine, wie die Vertreter:innen der baltischen und einiger MOE-Länder, für einen "beschleunigten" Beitrittsprozess von nur ein paar Jahren plädieren. Ihr Argument ist, dass der russische Krieg eine existenzielle geopolitische Bedrohung für das europäische Projekt darstellt und daher die Logik und Methodik der Erweiterungspolitik selbst geändert werden sollten. Durch die Aufnahme der Ukraine, so das Argument, würde die EU den kritischsten Teil der geopolitischen "Grauzone" Europas schließen, dem russischen Imperialismus klare Grenzen setzen und dadurch die eigene Sicherheit erhöhen.
Diese Annahme ist unter mehreren Gesichtspunkten zumindest fragwürdig. Eine betrifft die geopolitische Handlungsfähigkeit der Union selbst: Wie kann der Beitritt von Ländern mit schwachen oder kriegsgeschädigten Volkswirtschaften, fragilen demokratischen Institutionen, weiter hohen Korruptionsraten und/oder anhaltenden militärischen Konflikten innerhalb ihrer Grenzen das geopolitische Profil eines kollektiven Akteurs stärken? Die Entscheidungsträger innerhalb der EU müssten nach wie vor davon ausgehen, dass die geopolitische Stärke der Union zunächst auf allgemeiner innerer Stabilität, politischer Einheit und Wohlstand beruht. Zudem hatte die EU zu Beginn der Amtszeit von Kommissionspräsidentin von der Leyen gerade erst angekündigt, eine "geopolitische Kommission" (von der Leyen, 2019) zu begründen. Bislang hinkt die EU diesem Ziel trotz ihrer jüngsten Maßnahmen zur sicherheitspolitischen Unterstützung der Ukraine – wie bspw. im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität oder der Beschaffung von Artilleriemunition – hinterher, sowohl was die Kapazitäten als auch die Entscheidungsstrukturen angeht. Die Union verfügt nicht über eine integrierte Kommandostruktur wie die NATO für die nationalen Armeen, und die Zusammenarbeit bei der Produktion und Beschaffung von militärischer Ausrüstung ist auf eine Handvoll Projekte beschränkt. Auch zuletzt aufgesetzte, hoffnungsvolle EU-Initiativen wie das Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) oder das Programm für die europäische Verteidigungsindustrie (EDIP) sind finanziell nur schwach untersetzt und werden sich auf den Krieg in der Ukraine nicht mittelfristig auswirken können.
Wie die Waffenlieferungen einzelner EU-Länder an die Ukraine gezeigt haben, verfügen die Mitgliedstaaten zudem – im Gegensatz zu anderen wichtigen Akteuren wie den USA oder Großbritannien – weder über ausreichende Waffenbestände noch über die notwendigen industriellen Kapazitäten, um Drittstaaten langfristig in bedeutendem Ausmaß militärisch zu unterstützen. Ein weiteres Risiko eines solchen, geopolitisch motivierten Erweiterungsansatzes ist offensichtlich: Inwiefern könnte dieser von Euroskeptikern und Reformgegnern innerhalb der Union instrumentalisiert werden, um das Funktionieren und jede weitere politische Vertiefung der EU zu behindern? So könnten Mitgliedstaaten wie Ungarn dem Beispiel des Vereinigten Königreichs folgen, das sich als Mitglied oft für die geographische Erweiterung der Union einsetzte, gerade um die politische Integration zu erschweren.
Eine weitere Dimension betrifft die geopolitische Wirkung (und Wirksamkeit) eines solchen Erweiterungskonzepts. Wie würden ein modifizierter Erweiterungsprozess und selbst die "beschleunigte" Gewährung der Mitgliedschaft der Ukraine helfen, ihr größtes Problem zu lösen – den Krieg gegen Russland zu gewinnen oder zumindest nicht zu verlieren? Die EU ist trotz der Beistandsklausel (Art. 42 (7) EUV) kein Verteidigungsbündnis und nur eine unterentwickelte Sicherheitsinstitution. Die Erweiterung braucht daher eine wirkliche sicherheitspolitische Dimension, um zu verhindern, dass die von Russland ausgehende Unsicherheit der Ukraine in die Union importiert wird. Was Lösungsvorschläge angeht, ist vor allem auf zwei kürzlich zu beobachtende Trends hinzuweisen: So ist es der Ukraine seit Ende 2023 gelungen, mit verschiedenen westlichen Ländern und zuletzt auch der EU selbst die im Kyjiwer Sicherheitspakt (Fogh Rasmussen und Yermak, 2022) vorgesehenen bilateralen Sicherheitsabkommen abzuschließen. Hier werden in der Regel langfristige Waffenlieferungen und enge sicherheitspolitische Kooperation zugesagt, wobei keiner der Partner eigene Truppen für einen erneuten Angriffsfall verspricht. Hoffnung dürfte der ukrainischen Regierung auch die Tatsache machen, dass die EU, deren Mitgliedstaaten und die G7 sowohl bei der militärischen als auch ökonomischen Unterstützung des Landes zuletzt von einem reaktiv-punktuellen zu einem eher strategischen, mittelfristigen Ansatz übergegangen sind. Allerdings bleiben diese Schritte klar hinter einer direkten militärischen Beistandsverpflichtung im Sinne des Art. 5 der NATO-Grundakte zurück – weshalb auch die ukrainische Regierung einen NATO-Beitritt nach Ende des Krieges weiter klar priorisiert. Die Erweiterung dieses Bündnisses ist jedoch nichts, was die EU-Mitgliedstaaten letztlich beschließen oder worauf sie sich derzeit selbst einigen könnten. Die grundsätzliche Frage lautet daher: Mit welchem Maß an "Unsicherheit" kann eine Union, die die Ukraine als Mitglied aufnimmt, leben, nachdem sie ihre eigenen, begrenzten Kapazitäten zur Investition in die Sicherheit des Landes und zur Stärkung ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgeschöpft hat?
Schließlich ist da noch der Krieg selbst und sein unvorhersehbares Ende: Was passiert, wenn dieser endet, während sich der Beitrittsprozess noch in der Anfangsphase befindet oder aus irgendeinem Grund (noch) komplizierter geworden ist? Werden EU-Institutionen und vor allem Mitgliedstaaten dann plötzlich ihre Begeisterung für die Erweiterung verlieren? Was geschieht, wenn Russland bei möglichen Friedensverhandlungen darauf insistiert, dass die Ukraine weder der NATO noch der EU beitritt? Man sollte nicht vergessen, dass die russische Seite die klare Ausrichtung der Ukraine auf die NATO aus dem Jahr 2019 und die seitdem immer engeren Beziehungen zwischen der NATO und dem Land als eine – wenn auch vorgeschobene – Ursache für den derzeitigen Krieg anführt.
Wie viel Reform der EU ist für den Beitritt der Ukraine notwendig?
In den letzten Monaten hat die Debatte über den Zusammenhang zwischen Erweiterung und EU-internen Reformen deutlich an Dynamik gewonnen. Es besteht Einigkeit darüber, dass eine sukzessive Erweiterung um bis zu acht weitere Staaten – und selbst der Beitritt der Ukraine allein – die Union in vielerlei Hinsicht verändern würde. Derzeitige Nettoempfänger würden zu Nettozahlern in den EU-Haushalt, bei Abstimmungen in einem Rat mit bis zu 35 Mitgliedern würde der destruktive Gebrauch von Vetos sehr viel wahrscheinlicher werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wo die Beschlussfassung durch Einstimmigkeit immer noch die Regel ist. Mindestens ein Politikbereich, die Gemeinsame Agrarpolitik, müsste wohl vollständig überarbeitet werden. Generell könnte eine Erweiterung ohne Reformen die derzeitigen Governance-Probleme der EU noch weiter verschärfen, schon heute zeitintensive politische Prozesse im Mehrebenensystem weiter verlangsamen und euroskeptische Stimmen stärken.
Während zwischen den Mitgliedstaaten zumindest oberflächlich Einigkeit über den Sinn einer Erweiterung der Union besteht, gibt es derzeit keinerlei Einigung darüber, wie die Herausforderung der dafür notwendigen internen Reformen bewältigt werden soll. Die meisten Mitgliedstaaten wollen die europäischen Verträge nicht ändern und ziehen es vor, wesentliche strukturelle Änderungen zu vermeiden. Gerade einige der größten Befürworter der ukrainischen EU-Bewerbung – wie Polen oder die Tschechische Republik – haben sich in der Vergangenheit eher kritisch gegenüber EU-Reformen und einer weiteren Vertiefung der politischen Integration geäußert. Auf der anderen Seite scheint es innerhalb der EU-Institutionen die Hoffnung zu geben, dass die Erweiterung selbst die treibende Kraft für Reformen "auf dem Weg" zum Beitritt sein wird. Eine Minderheit ist sogar der Meinung, dass die Union ohne Reformen oder nur mit Änderungen am Haushalt erweitert werden könnte. Die Erweiterungsdebatte scheint so ähnlich wie bei früheren Erweiterungsrunden eher von abstrakten ideellen und historischen Argumenten als von einer ernsthaften Diskussion über die materiellen Vor- und Nachteile, die politischen und technischen Bedingungen und den Zustand der EU selbst bestimmt zu sein.
Für den wahrscheinlichen Fall, dass vor der Erweiterung nur halbherzige oder kosmetische Reformen der EU-Entscheidungsfindung durchgeführt werden, könnte sich die Situation von 2004 wiederholen. Damals fand die "Big-Bang-Erweiterung" trotz eines gescheiterten Verfassungsprozesses statt. Die Folgen sind bis heute spürbar, wenn man sich die bereits beträchtlichen Governance-Probleme der EU sowie den Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor allem in einigen neueren Mitgliedstaaten ansieht. Und es gibt noch ein weiteres Problem: Im Jahr 2030 – so stellen sich der amtierende Ratspräsident Charles Michel und andere EU-Vertreter den Zeitplan für die Erweiterung vor (Bayer, 2023) – würden postsowjetische und möglicherweise postjugoslawische Staaten der Union beitreten, deren wirtschaftliche und politische Entwicklung starke Unterschiede zu den Beitrittsländern von 2004 aufweisen. Letzteres ist zumindest im Falle der Westbalkan-Staaten aber auch partiell der EU anzulasten – die zwischenzeitliche Aufgabe der Erweiterungspolitik (trotz grundsätzlicher Zusagen) und Blockaden einiger Mitgliedstaaten haben hier den Abbruch von politischen und wirtschaftlichen Reformprojekten und autoritäre Tendenzen begünstigt.
Ist die Ukraine auf einen zügigen Beitritt vorbereitet?
Schließlich gibt es eine Debatte über die Vorbereitung der Ukraine auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und auf weitere systematische Reformen, die es dem Land ermöglichen, der Union innerhalb der nächsten sechs Jahre beizutreten – was allgemein als relativ kurze Zeitspanne angesehen wird (vgl. Grafik X, S. Y). Die meisten Beobachter:innen sind der Meinung, dass ein Mechanismus gefunden werden muss, mit dem zwei Ziele gleichzeitig erreicht werden können: die Integration der Ukraine in diesem ehrgeizigen Zeitrahmen und eine vollständige Übernahme des Acquis communautaire durch das Land ("merit-based enlargement").
Ob dies gelingen kann, ist verständlicher Weise umstritten. Einige Expert:innen argumentieren, dass die Ukraine und Moldawien bereits weiter fortgeschritten sind als ihre mittel- und osteuropäischen EU-Nachbarn zum Zeitpunkt der Eröffnung von Beitrittsgesprächen, da sie durch die Umsetzung der Assoziierungsabkommen bereits über umfangreiche Harmonisierungserfahrungen verfügen (Wolczuk, 2023). Andere Beobachter, z. B. Vertreter:innen älterer EU-Mitgliedstaaten, warnen dagegen vor dem beispiellosen Charakter dieser Erweiterungsrunde mit Ländern, die ein aus ihrer Sicht hohes Maß an Korruption, eine überbewertete demokratische Transformation und offene territoriale Konflikte aufweisen. Sie sind auch besorgt über eine wahrgenommene "Voreingenommenheit" der supranationalen EU-Institutionen: Insbesondere die erweiterungsfreundliche Kommission und das Europäische Parlament neigen zu einer eher optimistischen Einschätzung gerade der ukrainischen Reformbemühungen.
Es ist nach wie vor schwer zu sagen, wie gut die Ukraine in Bezug auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und auf die Umsetzung des EU-Besitzstands vorbereitet ist. Im Allgemeinen hat das Land seit der Euromaidan-Bewegung 2014 ein erhebliches Maß an Harmonisierung mit dem Acquis communautaire erreicht und war – vor der umfassenden Invasion – tatsächlich ein Vorreiter unter den reformorientierten Ländern der Östlichen Partnerschaft. Mit der Verleihung des Kandidatenstatus im Juni 2022 wurde der Regierung eine Liste von sieben zusätzlichen, konkreten Reformaufgaben übergeben, die sie (zumindest) durch die Verabschiedung der erforderlichen Gesetze erfüllte (New Europe Center, 2023). Seitdem wurden auch im kritischen Bereich der Korruptionsbekämpfung erhebliche Fortschritte erzielt und es konnten wesentlich mehr öffentlichkeitswirksame Gerichtsverfahren und Verurteilungen beobachtet werden. Einige Experten sprechen inzwischen sogar von einer "institutionalisierten Korruptionsbekämpfung" in der Ukraine (Huss, 2023).
Dennoch gibt es einige wichtige Vorbehalte. Zunächst einmal ist die eigentliche Bewährungsprobe für Reformen in der Ukraine die Umsetzungsphase, zumal auch der Aufbau effizienter staatlicher Strukturen hier erst 2014 ernsthaft begann. Selbst der Prozess der Dezentralisierung, der gewöhnlich als eine der wichtigsten Reform-Erfolgsgeschichten angesehen wird, ist noch nicht vollständig abgeschlossen, und auch die wichtige Verwaltungsreform ist noch in vollem Gange. Bei der Einordnung der Ukraine als Beitrittsland stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, welchen Bezugspunkt man nehmen soll. Nimmt man die Länder der Östlichen Partnerschaft als Referenz, scheint die Ukraine nach den Reformfortschritten nach 2014 tatsächlich gut aufgestellt für ein Beitrittsverfahren. Doch das Beispiel Georgiens – das erst kürzlich einen ernsthaften demokratischen Rückschritt erlebte, nachdem es in den Saakaschwili-Jahren selbst als Avantgarde in Sachen Reformen galt – ist ein Beispiel für den fragilen Übergangskontext selbst in den progressiveren Ländern der Östlichen Partnerschaft (de Waal, 2023). In Wirklichkeit macht nur ein Vergleich mit früheren EU-Beitrittskandidaten wirklich Sinn. Ist die Ukraine in etwa dort, wo bspw. Polen im Jahr 1998 war, als das Land die Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnahm? Im Vergleich zur Ukraine hatte Polen Anfang der 1990er Jahre eine Schocktherapie in Richtung Marktwirtschaft durchlaufen – oligarchisch-patrimoniale Strukturen hatten sich dort nie etabliert – und eine funktionierende staatliche Struktur hatte während der gesamten kommunistischen Ära bestanden. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Umsetzung von Gesetzesprojekten, die auf eine entscheidende Verringerung des politischen Einflusses von sog. Oligarchen zielen, in der Ukraine noch ausstehen. Wirtschaft und Politik sind hier generell noch zu stark miteinander verflochten. Daher ist die Ukraine – auch ohne den Krieg im Hintergrund – ein einzigartiger und herausfordernder Kandidat für einen Beitritt zur EU.
Schließlich ist auch der Kriegskontext zu erwähnen. Verfügt die Ukraine über die Mittel, den EU-Besitzstand einzuführen, während sie um ihre Existenz kämpft? Der Zusammenhang zwischen Beitritt und Krieg scheint von Brüssel immer noch ignoriert zu werden. Aufgrund des Kriegszustands ist von einer Kontinuität der derzeitigen Eliten auszugehen – was die Beitrittsverhandlungen für die EU im Grunde zu einer Wette auf Präsident Wolodymyr Selenskyj macht. Vor der Vollinvasion allerdings wurden sowohl dessen selektive und stark kontrollierte Reformbilanz als auch seine mangelnde Fähigkeit, einen komplexen Staatsapparat zu führen, von Experten eher skeptisch betrachtet (Haran, 2021). Ein kriegsbedingter Trend zu mehr Zentralisierung, populistischen Maßnahmen wie der Ankündigung einer radikalen Verkleinerung der staatlichen Bürokratie (Zerkalo Nedeli, 2022) und die stille, meist unbeabsichtigte Entmachtung des Parlaments (vgl. Ukraine-Analysen 299) werden ebenfalls Herausforderungen für einen effektiven Beitrittsprozess darstellen (Vedernikova, 2022).
Fazit: Die De-facto-Integration der Ukraine
Alle drei aktuellen Stränge der Debatte um den angestrebten EU-Beitritt der Ukraine lassen eine Fülle von Fragen offen. Die EU ist derzeit weder innenpolitisch noch mit Blick auf ihre geopolitische Handlungsfähigkeit auf einen Beitrittsprozess dieser Größenordnung vorbereitet. Das Niveau der Debatte über wichtige Fragen und Dilemmata wie den Nexus zwischen Krieg und Erweiterung ist immer noch oberflächlich, das Fehlen einer Strategie für jeden anderen Fall als einen bedingungslosen ukrainischen Sieg offensichtlich. Was die Ukraine und ihre eigene Vorbereitung auf den Beginn und den erfolgreichen Abschluss eines anspruchsvollen Beitrittsverfahrens betrifft, so scheint es auch, dass der Kenntnisstand über das politische System und die staatlichen Kapazitäten des Landes sowie über die Art und Weise, wie Reformen im Lande durchgeführt werden, in Brüssel selbst wesentlich dürftiger ist als in einigen Mitgliedstaaten.
Andererseits sieht es tatsächlich so aus, als ob die Alternativen zur Erweiterung als grundlegend neuem Ansatz für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine rar und meist nicht überzeugend sind. Einer der Gründe für den neu entfachten Enthusiasmus der EU für die EU-Erweiterung ist die einfache Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine gezeigt hat, dass weder die Nachbarschaftspolitik von 2004 noch die geschärfte Östliche Partnerschaft von 2009 zur Entstehung der friedlichen und wohlhabenden Nachbarschaft beigetragen haben, die man sich davon erhofft hatte.
Es ist auch eine unbestreitbare Tatsache, dass die Integration der Ukraine in die EU bereits begonnen hat. Mit den erheblichen militärischen Investitionen der Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität, der über die neue Ukraine-Fazilität zu erwartenden Budgethilfe und dem Umfang der laufenden und geplanten Wiederaufbaubemühungen hat sich die Union der Existenz der Ukraine langfristig verschrieben. Nicht zuletzt tragen europäische Waffen und Gelder dazu bei, dass die Ukrainer:innen weiterkämpfen und im Zweifelsfall auch sterben – es ist daher schwer vorstellbar, dass die EU politisch in der Lage sein wird, eine künftige Ukraine außen vor bzw. in einem äußeren "konzentrischen Kreis" (Gruppe der Zwölf, 2023) ihrer evtl. reformierten Struktur zu belassen. Brüssel wird außerdem sowohl die beispiellosen Geldströme in die Ukraine als auch die politische Entwicklung einer Nachkriegs-Ukraine irgendwie kontrollieren müssen – und es ist schwer, dafür einen besseren Rahmen als die Erweiterung zu finden.
Dennoch sollten Vertreter:innen der Institutionen und Mitgliedstaaten darauf achten, klare Prioritäten zu setzen und die verschiedenen Ansätze zur Unterstützung der Ukraine nicht zu sehr miteinander zu vermengen. Die Argumentation, dass ein zügig beginnendes, während des Krieges stattfindendes Beitrittsverfahren und weitere tiefgreifende Reformen der beste Weg zur Existenzsicherung des Landes sind, darf zu Recht bezweifelt werden. Die Ukraine muss ihre schwindenden Ressourcen voll zur Abwehr der Invasion aufwenden – eine gleichzeitige Konzentration auf die systematische Übernahme des Acquis würde die Institutionen überlasten und wäre derzeit eher kontraproduktiv für den Kriegsverlauf. Und auch die EU sollte sich nicht überfordern und ihre begrenzten politischen und finanziellen Mittel vorrangig in die weitere Sicherung von Waffenlieferungen und ökonomischer Hilfe investieren. Auch sollte darauf geachtet werden, die starke Rolle von Konditionalität – also der Bedingung von Reformen für jegliche Fortschritte bei der Annäherung – im Erweiterungsprozess nicht zu sehr auf andere Instrumente wie die Ukraine-Fazilität auszudehnen. Warum sollte das Land für Hilfe bei der Beseitigung von durch Russland verursachte Kriegsschäden zunächst Reformen bspw. im Rechtsstaatsbereich durchführen?
Hinter der Debatte über die zukünftige Mitgliedschaft der Ukraine, Moldaus oder auch der Westbalkanstaaten steht schließlich die viel größere strategische Frage, wie die Union angesichts einer möglicherweise jahrzehntelangen Konfrontation mit Russland um die Vormachtstellung auf dem Kontinent am besten resilient gemacht werden kann, insbesondere im Hinblick auf ein möglicherweise geringeres Engagement der Vereinigten Staaten. Die offensichtliche Antwort lautet, dass das Mehrebenensystem der Union effizienter werden, d. h. zu schnelleren und besseren Entscheidungen befähigt werden muss. Für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich sollte dafür wie in anderen Politikfeldern v. a. danach gefragt werden, wo ein Mehr an Integration und institutioneller Zuständigkeit der Kommission wirklichen Mehrwert in der Sache schafft. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann die Erweiterung die generelle Widerstandsfähigkeit der EU um eine Dimension erweitern – andernfalls kann sie hinderlich werden.