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Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Ukraine-Analysen Nr. 291

Jochen Kleinschmidt

/ 8 Minuten zu lesen

Die Positionierung einiger lateinamerikanischer Regierungschefs zeigte, dass diese Russland zumindest rhetorisch unterstützen. Dieser Beitrag analysiert die Beweggründe für solche Aussagen.

Selenskyj auf einer Pressekonferenz mit lateinamerikanischen Medienvertreter:innen. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Pool /Ukrainian Presidentia)

Zusammenfassung

Die Positionierung einiger Präsidenten Lateinamerikas zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gravierende Fragen hinsichtlich ihrer außenpolitischen Orientierung aufgeworfen. In diesem Beitrag soll dargestellt werden, dass die Ursachen dieser Haltung eher in den aktuellen innenpolitischen Krisen lateinamerikanischer Länder zu suchen sind.

Außenpolitische Reorientierung?

Bereits existierende Befürchtungen über die außenpolitische Orientierung der lateinamerikanischen Länder haben im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine an Virulenz gewonnen. Einige der Staatsoberhäupter der Region äußerten sich dabei in manchmal geradezu bizarrer Weise, die darauf angelegt schien, Kontroversen und Missstimmungen mit westlichen Ländern hervorzurufen. Bei autoritär regierten Ländern der Region wie Nicaragua oder Venezuela war dies zu erwarten gewesen; einige stimmten etwa in der UN-Generalversammlung russlandfreundlich ab. Überraschend war jedoch für viele Beobachter:innen die Vehemenz, mit der demokratische Politiker wie der brasilianische Präsident Lula da Silva oder der kolumbianische Präsident Gustavo Petro in einigen Aspekten die russische Rhetorik zu übernehmen schienen. Ähnliches traf auf den mexikanischen Staatschef López Obrador zu.

Während ihre offiziellen Repräsentanten in der UN-Generalversammlung bei den wichtigsten Resolutionen meist mit der übergroßen Mehrheit ihrer Mitglieder die Invasion verurteilten, erweckten manche Statements der Präsidenten den Eindruck, sie würden sich zumindest rhetorisch auf die Seite Russlands schlagen. Lulas Aussagen zum angeblichen Desinteresse westlicher Länder an einer Friedenslösung und seine zynische Aufforderung an die Ukraine, doch eine Verhandlungslösung anzustreben, führten zu Applaus seitens des russischen Außenministers und zu harscher Kritik aus den USA. Noch ignoranter muteten die Äußerungen seines Beraters Celso Amorim an, der eine denkbare Niederlage Russlands mit den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags gleichsetzte, den er wiederum für die Aggression Nazideutschlands verantwortlich machte.

Bisherige Versuche, die lateinamerikanische Kriegsdiplomatie zu erklären

Zahlreiche Erklärungsversuche von wissenschaftlichen Expert:innen für lateinamerikanische Politik führten meist ins Leere. Weder besitzen die meisten lateinamerikanischen Länder, wie häufig behauptet wird, eine lange Tradition der Neutralität. Ganz im Gegenteil: ihre Mehrheit ist über den Rio-Pakt sicherheitspolitisch bei den USA rückversichert. Noch sind die wirtschaftlichen Verbindungen der Region mit Russland von außerordentlicher Bedeutung. Die häufig angeführte Bedeutung der russischen Düngemittelexporte in die Agrarstaaten des Cono Sur ist ebenfalls nur eine scheinbar plausible Begründung, schließlich könnte Russland es sich kaum leisten, diese einfach einzustellen. Die Düngemittelexporte wären zudem von den aktuellen Sanktionsmaßnahmen nicht betroffen, da diese den Nahrungsmittelsektor ausdrücklich ausnehmen. Andere wirtschaftliche Motive sind nicht erkennbar, zumal auch nicht klar wird, wie skandalöse Äußerungen lateinamerikanischer Politiker:innen zu einem Ende der Sanktionsmaßnahmen beitragen könnten. Die durch den Krieg ausgelösten erhöhten Rohstoffpreise sind für manche Länder in der Region eher vorteilhaft.

Paradox erscheint das Argument, es gäbe in Lateinamerika eben Verständnis für die Empfindlichkeit Russlands bei Verletzungen seiner legitimen Einflusssphäre in der Ukraine. Schließlich ist der Widerwille und zumindest rhetorischer Widerstand gegen die geopolitischen Kontrollansprüche der USA wie auch anderer historischer Großmächte gewissermaßen die normative Grundlage der autonomistischen Außenpolitiktraditionen, mit denen sich die lateinamerikanischen Außenpolitiker:innen, zumal solche progressiver Orientierung, auch heute noch identifizieren. Es stimmt aber auch, dass rechte und rechtsextreme Präsidenten, wie etwa Lulas Vorgänger Bolsonaro oder der salvadorianische Machthaber Najib Bukele, offen mit der russischen Position sympathisierten. Eine sich aus dem Links-Rechts-Spektrum ergebende ideologische Motivation – etwa von Sympathien aus Zeiten des Kalten Kriegs herrührend – ist demnach auszuschließen. Denn einer der wenigen lateinamerikanischen Staatschefs, der klar für die Ukraine Stellung bezog, war der chilenische Sozialist Gabriel Boric.

Die russische Informationskriegsführung hingegen kann als Einflussfaktor nicht ausgeschlossen werden. Der Fernsehkanal RT ist in Lateinamerika im Gegensatz zu seinen europäischen Pendants nicht von vornherein als krudes Produkt rechtsextremer Verschwörungstheoretiker zu betrachten. Er bietet gerade in seiner Berichterstattung über demokratische Missstände zunächst recht plausible Informationen von qualifizierten Journalist:innen, die in den politisch oder kommerziell beeinflussten regionalen und nationalen Sendern Lateinamerikas sonst oft fehlen, und es treten häufig prominente Medienpersönlichkeiten auf. Damit könnte natürlich auch für die strategischen Propagandabotschaften zu den russischen Kriegen in der Ukraine und in Syrien Plausibilität erzeugt werden. An Reichweite stechen RT und Sputnik ihre spanischsprachige Konkurrenz der amerikanischen Sender CNN oder Voice of America zumindest auf Plattformen wie YouTube oder Facebook deutlich aus.

Gegen eine solche kausale Rolle der strategischen Kommunikation Russlands spricht allerdings, dass die öffentliche Meinung in lateinamerikanischen Ländern keineswegs besonders USA-kritisch oder besonders russlandfreundlich ist. Tatsächlich zeigen in dieser Hinsicht verschiedene Meinungsumfragen der letzten Monate eine recht klare Tendenz: Russland ist in Lateinamerika eines der unbeliebtesten Länder, und es ist durch den Krieg gegen die Ukraine weitaus unbeliebter geworden. Laut einer Gallup-Umfrage vom April 2023 (Externer Link: https://news.gallup.com/poll/474596/russia-suffers-global-rebuke-invasion.aspx) war der Prestigeverlust Russlands in Lateinamerika sogar von allen Weltregionen am bedeutendsten. Zuvor genoss Russland etwas mehr positive als negative Einschätzungen, dieses Muster hob sich aber nicht von anderen Regionen des Globalen Südens ab. Nach einer anderen Umfrage von Latinobarómetro vom März 2022 (Externer Link: https://www.infobae.com/en/2022/03/28/study-reveals-that-russia-and-china-are-the-countries-with-the-worst-image-among-latin-americans/) war die Beliebtheit Russlands in allen zehn befragten Ländern der Region niedriger als die der Länder China, Deutschland und USA. In Brasilien sympathisierten gar nur vier Prozent der Befragten mit Russland.
Eine Umfrage vom August 2023 (Externer Link: https://globescan.com/2023/10/18/seven-in-ten-people-want-their-governments-to-support-ukraine/), die gemeinsam von GlobeScan und dem ukrainischen Umfrageinstitut Democratic Initiatives Foundation durchgeführt wurde, ergab für Lateinamerika niedrigere Unterstützungswerte für die Ukraine. Mit der Ausnahme von Mexiko sprach sich jedoch immer noch eine Mehrheit für eine Unterstützung der Ukraine aus. Hier mögen sowohl Befürchtungen um wirtschaftliche Auswirkungen als auch die Einsicht eine Rolle gespielt haben, dass es den Ländern schlicht an Möglichkeiten ermangelt, die Ukraine wirksam zu unterstützen. Denn von den lateinamerikanischen Streitkräften verfügen lediglich Brasilien, Chile sowie in geringerem Maße Kolumbien über Gerät, dass in der Ukraine sinnvoll eingesetzt werden könnte. In Brasilien hingegen lag der Anteil der Befürworter:innen einer Unterstützung der Ukraine allerdings bei 67 Prozent. Die überraschenden Positionierungen von Lula und anderen Staatschefs verwundern demnach umso mehr, wenn man sich dieses russlandskeptische Meinungsbild vor Augen führt.

Vorstellungen, die russlandfreundliche Rhetorik sei eben Ausdruck einer im Werden begriffenen und oft anhand der BRICS imaginierten "multipolaren" Welt gehören ebenso ins Reich der Fantasie verwiesen wie die russlandfreundliche Meinung lateinamerikanischer Öffentlichkeiten. Denn die Verwendung des Begriffs "multipolare Welt" stammt aus der russischen Regierungskommunikation, sie entspricht keineswegs der "Multipolarität" als politikwissenschaftlichem Fachbegriff. Tatsächlich sind die BRICS bis auf die mit ihnen verbundene Entwicklungsbank kaum institutionalisiert, und jene Entwicklungsbank setzt tatsächlich die gegen Russland verhängten Finanzsanktionen um. Die BRICS scheinen also bislang keineswegs Ausdruck einer strukturellen Machtverschiebung zu sein. Die tatsächlich beobachtbare und über die Verlagerung von Handelsströmen auch in Lateinamerika relevante Gewichtsverlagerung findet zugunsten Chinas statt, keineswegs aber zugunsten Russlands, und stellt daher auch keine plausible Ursache für prorussische Rhetorik dar.

Statusdispute und "soft balancing"

Überzeugender könnten hingegen solche Überlegungen sein, die auf Statusdispute verweisen, die durch Russlands Krieg verschärft wurden. In der Tat ist es denkbar, dass das Leid der ukrainischen Bevölkerung andere Katastrophen wie die Massenflucht aus dem nach wie vor autokratisch regierten Venezuela, die zahlreichen Toten durch Bandenkriege, die durch die internationale Drogenprohibition mit verursacht wurden, oder zu erwartende schwerwiegende Auswirkungen des Klimawandels auf die Länder Lateinamerikas in der weltpolitischen Problemhierarchie nach unten rücken lässt. Hinzu kommt erschwerend, dass im lateinamerikanischen Expertendiskurs wie auch in politischen und medialen Debatten der genozidale Angriffskrieg Russlands häufig mit anderen, in Lateinamerika anzutreffenden Gewaltkonflikten wie etwa den Grenzkonflikten zwischen Ecuador und Peru gleichgesetzt wird. Daraus wird geschlussfolgert, dass die in Lateinamerika etablierten intergouvernementalen Konsultationsmechanismen erfolgversprechend auch zwischen Russland und der Ukraine angewendet werden könnten. Vor einem solchen Hintergrund erscheinen dann auch Lulas Äußerungen zumindest teilweise erklärbar.

Dass derartige Gleichsetzungen allerdings in den jeweiligen Ländern keinen größeren Widerspruch hervorrufen, demonstriert eine problematische Tendenz im Elitendiskurs Lateinamerikas: Die Staaten grenzen sich instinktiv gegen die in westlichen Ländern dominierende Position ab, was in der Literatur denn auch als Mechanismus zur Bewältigung innerstaatlicher Legitimitätsdefizite gedeutet wird. Dies könnte auch das Auseinanderfallen von öffentlicher Meinung und politischer Rhetorik plausibel machen. Dementsprechend finden in der westlichen Fachgemeinschaft weithin kritisierte Mindermeinungen wie die Russland exkulpierenden Aussagen von John J. Mearsheimer in Lateinamerika ein dankbares Publikum. Russische Medien wie RT verstärken diesen Effekt natürlich noch. Die Attraktivität derartiger Dissidenz, die wie auch schon bei den Bemerkungen von Lula, Petro und anderen bisweilen an Verschwörungstheorien erinnert, wird vielleicht noch dadurch verstärkt, dass die Ukraine eigentlich vor der aktuellen Phase des Krieges in ökonomischer, politischer, und kultureller Hinsicht eine vielen lateinamerikanischen Ländern nicht unähnliche subalterne Position einnahm. Volodymyr Ishchenko zufolge "machen De-Modernisierung und Peripherisierung die Ukraine vielleicht zum besten Kandidaten für den Titel des nördlichsten Landes des Globalen Südens" (Externer Link: https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/256/die-ukraine-im-teufelskreis-der-post-sowjetischen-hegemonie-krise/).

Die Performanz der Ukraine im Sinne des erfolgreichen militärischen Widerstands gegen ein allgemein als Großmacht angesehenes Land, aber auch die schnelle Formierung politischer Bündnisse mit USA, NATO und EU inklusive der Erlangung des Kandidatenstatus in der EU, sowie die Erlangung medialer und intellektueller Zentralität erscheint deswegen erstaunlich. Die Ukraine hält den lateinamerikanischen Eliten gewissermaßen einen Spiegel vor: Diese zeigten sich als unfähig, eine ähnliche politische Gewichtung und diskursive Zentralität auch für ihre eigenen Länder zu erlangen oder diese zumindest mit ähnlicher Vehemenz einzufordern. Ihnen gelang es somit nicht, aus ihrem subalternen Status auszubrechen. Wie bei so vielen außenpolitischen Manövern lateinamerikanischer Länder dürfte hier das sogenannte "soft balancing" eine Rolle spielen. Dieser Begriff bezeichnet den Versuch, eigene Politikziele zu erreichen, indem die Strategien anderer, gewichtigerer Akteure rhetorisch delegitimiert werden. Dabei dürfte es den Eliten Lateinamerikas – gleich welcher Ideologie sie ansonsten anhängen – in diesem Fall besonders um ihre eigene Legitimität gehen.

Was tun?

Wie sollen nun westliche Länder und die Ukraine selbst mit diesen rhetorischen Ausfällen lateinamerikanischer Präsidenten umgehen? In jedem Fall erscheinen Überreaktionen als wenig wünschenswert; bei UN-Abstimmungen über den Krieg haben sich fast alle lateinamerikanischen Länder als verantwortungsbewusst erwiesen, und strukturelle Faktoren wie das Ende des schnellen Wachstums in China verhindern eine militant antiwestliche Außenpolitik. Andererseits sollte der Westen rhetorisch dagegenhalten, denn auch die heimischen Bevölkerungen müssen davon überzeugt werden, dass die Unterstützung der Ukraine weiterhin notwendig ist. Darüber hinaus sollte verstärkt versucht werden, die Bedeutung des ukrainischen Verteidigungskampfes über neue Kanäle zu kommunizieren. So könnte die ukrainische Diaspora in Lateinamerika, die vor allem im brasilianischen Bundesstaat Paraná, aber auch in Argentinien und Paraguay ansässig ist, dabei unterstützen, mehr Verständnis für die Situation der Ukraine zu fördern.

Darüber hinaus wird es notwendig sein, gerade in die oben beschriebenen Elitendiskurse in Lateinamerika hineinzuwirken, und zwar insbesondere mit Stimmen aus der Ukraine selbst. Letztlich sind die in Lateinamerika zu beobachtenden Defizite ja lediglich eine durch die dortigen Umstände verschärfte Variante der problematischen Unwissenheit zahlreicher westlicher Öffentlichkeiten über die Geschichte der Ukraine und ihrer schwierigen Emanzipation von der Kolonisierung durch Russland. Eine wichtige Aufgabe von Think Tanks und politischen Stiftungen westlicher Länder könnte es sein, die notwendigen Mitteln und die Infrastruktur bereitzustellen. In der Ukraine selbst sind keine Mittel und auch nicht die notwendige Erfahrung vorhanden, um Lateinamerika gezielt anzusprechen. Gerade im Sinne einer Neuorientierung der intellektuellen Interpretation Osteuropas würden sich diese Maßnahmen aber langfristig auch für westliche Länder selbst auszahlen.

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Dr. Jochen Kleinschmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik der TU Dresden.