Einleitung
Der großangelegte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der im Februar 2022 begann, bewirkte in der Ukraine einen Stimmungsumschwung und eine neue gesellschaftliche Geschlossenheit, wie mittlerweile eine Vielzahl von repräsentativen Meinungsumfragen belegen. Russland diskreditierte sich bei der ukrainischen Bevölkerung endgültig (selbst im russophonen Osten) – und damit zumindest teilweise auch die russische Sprache und Kultur. Gleichzeitig stieg bei der ukrainischen Bevölkerung die Zustimmung zu einem EU-Beitritt innerhalb von zwei Monaten von 65 Prozent auf 91 Prozent. Ebenso erklärten nun 94 Prozent, dass es wichtig sei, dass die Ukraine "eine vollständig funktionierende Demokratie" werde. In beiden Fällen gibt es keine großen regionalen Differenzen mehr.
EU-Integration und Korruptionsbekämpfung
Auf Grundlage eigener Umfragedaten erklärt Olga Onuch die fast einhellige Zustimmung damit, dass die ukrainische Bevölkerung in Krisenzeiten Demokratie als Antwort auf die akuten Probleme begreift. Sie verweist gleichzeitig darauf, dass die auf Einheit und Handlungsfähigkeit zielenden Maßnahmen der politischen Akteure sowohl während der Corona-Pandemie als auch in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg diese Sichtweise bestärkt haben. Demokratie und EU-Integration sind damit in der Ukraine erstmals nicht nur mehrheitsfähig, sondern unumstritten.
Die EU fördert weiterhin die Demokratisierung in der Ukraine. Als sie im Juni 2022 der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmte, machte sie sieben vorrangige Externer Link: Empfehlungen für Reformen in der Ukraine. Alle hatten einen Bezug zu Demokratie, konkret ging es um Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und Rechte nationaler Minderheiten. Eine größere Bereitschaft der Ukraine, international etablierte rechtsstaatliche Prinzipien zu übernehmen, zeigte sich auch im Juni 2022 als das ukrainische Parlament die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt mit nur 8 Gegenstimmen ratifizierte, während die Ratifizierung 2016 noch gescheitert war.
Auch bei der Korruptionsbekämpfung gab es Externer Link: Fortschritte. Im Dezember 2022 wurde das skandal-umwitterte Kyjiwer Bezirksverwaltungsgericht Externer Link: aufgelöst, das wegen seiner Zuständigkeit für die Amtssitze nationaler politischer Organe häufig mit politisch motivierten Urteilen die nationale Politik beeinflusst hatte. Die führenden Behörden der Korruptionsbekämpfung wurden in aufwändigen Auswahlverfahren neu besetzt. Als im Januar 2023 mehrere Korruptionsskandale bekannt wurden, führte dies sofort zu umfangreichen Ermittlungen und Entlassungen hochrangiger Staatsbeamter. Die EU begrüßte den Schritt da er zeige, dass die Regierung die Korruptionsvorwürfe ernst nehme. Auch die Justizreform, sowohl für den Rechtsstaat als auch für die nachhaltige Korruptionsbekämpfung von zentraler Bedeutung, macht Fortschritte. Die Mitglieder der Auswahl- und Kontrollgremien für die Neubesetzung von über 3.000 Richterpositionen werden derzeit rekrutiert.
Kriegszustand
Die Verhängung des Kriegszustands brachte aber gleichzeitig Einschränkungen der Demokratie mit sich. In demokratischen Verfassungen sind häufig Sonderregelungen für akute Krisen vorgesehen, die der Regierung schnelleres Handeln ermöglichen sollen. Das deutsche Grundgesetz hat so z. B. Sonderregelungen für den Verteidigungsfall. Die ukrainische Verfassung sieht ebenfalls Sonderregelungen für den Kriegszustand vor, etwa bezogen auf den Wehrdienst (Mobilisierung), individuelle Rechte (z. B. Versammlungsfreiheit, Ausgangssperren etc.) oder die Verstaatlichung von Eigentum. Der Kriegszustand wird vom Präsidenten verkündet und vom Parlament bestätigt.
Zentrale Grundrechte bleiben aber weiterhin explizit geschützt. Das Parlament bleibt für den gesamten Zeitraum des Kriegszustandes im Amt, auch über ein mögliches Ende der Legislaturperiode hinaus, da unter Kriegsrecht keine Wahlen abgehalten werden dürfen (die Parlamentswahlen stehen eigentlich im Oktober 2023 an). Es muss über Verordnungen des Präsidenten innerhalb von zwei Tagen entscheiden. Während des Kriegszustandes darf die Verfassung nicht geändert werden. Die ukrainische Verfassung gibt so dem Präsidenten zusätzliche Kompetenzen und eine größere Machtfülle, um vor allem eine schnellere Beschlussfassung und damit die Landesverteidigung effektiv zu organisieren. Gleichzeitig setzt sie enge Grenzen für politische Reformen, um Machtmissbrauch zu verhindern.
Das ukrainische Parlament hat trotz des Kriegszustands (manche würden sagen, gerade im Kriegszustand endlich mal) effizient gearbeitet. Viele wichtige Gesetze zur Reaktion auf die dramatischen Folgen des russischen Angriffskriegs, von Wirtschaftshilfe über Arbeitsmarktreform bis zur Vorbereitung auf den EU-Beitritt, wurden zügig auf den Weg gebracht. Allein im Frühjahr 2022 verabschiedete das Parlament 229 neue Gesetze – damit wurden alle vorherigen Sitzungsperioden übertroffen. In Reaktion auf den im Januar 2023 publik gewordenen Korruptionsskandal bei der ukrainischen Armee verstärkte der zuständige Parlamentsausschuss nach einer Sondersitzung seine Kontrolle über den Verteidigungshaushalt.
Neue politische Landschaft
Für die politische Handlungsfähigkeit Selenskyjs waren aber weniger die Verfassungsregeln zum Kriegszustand relevant, als vielmehr die Tatsache, dass sowohl seine Externer Link: Popularität als auch die Unterstützung durch weite Teile von Politik und Gesellschaft in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg extrem gestiegen waren. In Externer Link: repräsentativen Umfragen im August und im Dezember 2022 erklärten jeweils etwa 80 Prozent der Befragten, dem Präsidenten zu vertrauen. Das Vertrauen in Gerichte oder politische Parteien blieb mit um die 20 Prozent aber gering. Die breite Zustimmung in der Bevölkerung ermöglichte Selenskyj auch einen größeren Einfluss auf die politische Landschaft.
Ab April 2022 wurden hochrangige Mitarbeiter von Regierung, Armee und Geheimdienst unter dem Vorwurf der Kollaboration entlassen. Im Januar 2023 folgte eine erneute Entlassungswelle in Reaktion auf Korruptionsvorwürfe. Gegen etliche Politiker wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Ergebnis konnte Selenskyj einige Schlüsselpositionen neu besetzen. Wie sich exemplarisch bei zwei Ernennungen Ende Juli 2022 zeigte, ist das Ergebnis gemischt. Während so der neu ernannte Generalstaatsanwalt als loyal aber ungeeignet gilt, wird der von ihm eingesetzte Sonderstaatsanwalt für die Korruptionsbekämpfung weithin als Idealbesetzung gesehen. Gemischt war auch die Einschätzung zum Anfang März 2023 ernannten neuen Leiter des Nationalen Anti-Korruptionsbüros (NABU): das aufwändige Auswahlverfahren (inkl. der Beteiligung internationaler Experten) war transparent, aber dem Gewinner Semen Krywonos wurde Nähe zum einflussreichen Präsidialamt zugeschrieben. Selenskyj versuchte außerdem bei der gesetzlichen Neuregelung sowohl für die Besetzung des Verfassungsgerichts als auch der Medienaufsicht die Kompetenzen des Präsidenten auszuweiten.
Bereits im Mai 2022 wurden alle pro-russischen Parteien verboten. Die Parlamentsfraktion der größten Oppositionspartei, der "Oppositionsplattform – Für das Leben", die bei den Wahlen 2019 einen Stimmenanteil von 13 Prozent erreicht hatte, wurde anschließend aufgelöst. Die Abgeordneten behielten aber ihre Mandate. Bis Juni wurden 11 weitere Kleinstparteien mit Verbindungen zu Russland verboten. Die Oppositionsparteien aus dem "national-konservativen Lager", vertreten etwa durch Petro Poroschenko oder Julija Tymoschenko, haben massiv an Zustimmung verloren und sind außerhalb des Parlaments keine relevante politische Kraft mehr. Es wird daher eine allgemeine Neusortierung der Parteienlandschaft erwartet. Solange diese nicht stattfindet, dominieren Selenskyj und sein Präsidialamt die politische Bühne – insbesondere, da die Oligarchen "hinter der Bühne" nicht mehr die Fäden in der Hand halten.
Durch die neue politische Geschlossenheit und aufgrund massiver wirtschaftlicher Verluste durch den Krieg ging der politische Einfluss der Oligarchen deutlich zurück. Ein Indikator hierfür war im November 2022 die Verstaatlichung von als kriegswichtig eingestuften Unternehmen mehrerer Oligarchen, darunter des als Selenskyj-Förderer bezeichneten Ihor Kolomojskyj. Einer der einflussreichsten Oligarchen, Rinat Achmetow, gab im Juli sein Mediengeschäft auf. Seine Media Group Ukraine übertrug die Sendelizenzen an den Staat.
Auch die Medienlandschaft ändert sich so. Kurz nach dem russischen Großangriff einigten sich die wichtigsten Fernsehsender auf ein gemeinsames Programm, das ausschließlich aus politischen Sendungen bestand, den sog. Telemarathon. Das nationale Kulturministerium wirkt bei der Auswahl der Interviewpartner mit. Der dem ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko nahestehende Sender "5. Kanal", der sich nicht am Einheitsprogramm beteiligen wollte, beklagt daraufhin den Entzug von Sendefrequenzen. Im Juli 2022 sahen immerhin 57 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal die Woche das Einheitsprogramm. Als Nachrichtenquelle lag es aber deutlich hinter sozialen Medien wie Telegram, die inzwischen eine deutlich größere Rolle spielen. Zum Herbst 2022 stiegen dann mehrere Sender aus dem Einheitsprogramm aus und erreichten höhere Einschaltquoten.
Ausblick
Der Krieg markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des politischen Regimes der Ukraine. In der Bevölkerung ist die Demokratie als angestrebte Regierungsform erstmals unumstritten. Ähnlich wie die Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland mit dem Wirtschaftswunder verknüpft wurde, wirkt jetzt die Perspektive der EU-Integration in der Ukraine als positive Verstärkung. Die EU fordert dabei explizit die von ihr gesetzten demokratischen Standards ein. Gleichzeitig hat sich die politische Landschaft im Laufe des Jahres 2022 vor allem durch die Konzentrierung der Macht in der Exekutive, das Verbot eines Teils des politischen Spektrums und durch den weitgehenden Ausstieg der Oligarchen aus dem Mediengeschäft (und vielleicht auch aus der Politik) nachhaltig verändert.
Eine erfolgreiche Demokratisierung ist jedoch kein Selbstläufer. Zum einen hängt über der Ukraine das Damoklesschwert des russischen Angriffskriegs. Es ist eine große Herausforderung unter diesen Bedingungen erfolgreich und langfristig Politik zu gestalten.
Zum anderen verfolgt Selenskyj bereits seit Beginn seiner Amtszeit eine populistische Personalpolitik. Selenskyjs Populismus wird in der wissenschaftlichen Literatur oft als "technokratisch" beschrieben. Es geht dabei nicht um "populäre Positionen", sondern um die Idee, dass Experten, also Technokraten, die alten, korrupten politischen Eliten ersetzen sollen. Selenskyj selber vertritt in dieser Perspektive das Volk gegen die alten Eliten. Da das Volk aber nicht selber regieren kann, holt Selenskyj im Auftrag des Volkes an Problemlösung orientierte und nicht von politischer Macht und Korruption besessene Experten (von außerhalb des etablierten Politikbetriebs) in sein Team – so die propagierte Idee.
Diese Position ist im Fall der Ukraine sicher nicht ganz unberechtigt. Die Antwort einer auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Demokratie auf diese Probleme sind aber geregelte, transparente und an Leistung orientierte Auswahlverfahren, nicht das Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Präsidenten. Wenn Selenskyjs Kompetenzen bei der Auswahl von Verfassungsrichtern und Medienaufsicht jetzt ins Gesetz geschrieben werden, dann kommt auch gleich noch das Vertrauen in die Urteilsfähigkeit zukünftiger Präsidenten hinzu, da Selenskyjs Nachfolger erst einmal dieselben Vollmachten haben wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass häufige Personalwechsel – wie bereits 2020 der Austausch der ersten Regierung nach nur gut einem halben Jahr im Amt – nicht immer die Umsetzung einer langfristig geplanten Politik erleichtern. Gleichzeitig handelt Selenskyj derzeit unter extremer Unsicherheit und großem Risiko. Ein zuverlässiges Team ist dabei von besonderem Wert.
Sowohl in seiner Personalpolitik als auch bei den Reformen für Korruptionsbekämpfung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss Selenskyj die Balance finden zwischen dem Vertrauen in sein eigenes Urteilsvermögen und der Übergabe von Kompetenzen an institutionalisierte – und damit von ihm nicht mehr direkt kontrollierbare – Verfahren, die nach allgemeinen Regeln funktionieren.