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Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Ukraine-Analyse Nr. 281

Galyna Kotliuk

/ 9 Minuten zu lesen

Eine Frau tauscht am 8. März in Kostjantynywka (Oblast Donezk) ein zerstörtes Fenster aus. (© picture-alliance/AP, Evgeniy Maloletka)

Zusammenfassung

Der Wiederaufbau in der Ukraine muss auch die soziale Infrastruktur umfassen. Dafür sprechen nicht nur humanitäre Gründe. Es ist auch die Voraussetzung, um einen Rückfall in traditionelle Geschlechterrollen zu vermeiden. Ein Interview von Anna Antotina Lysiak mit Galyna Kotliuk, Koordinatorin des Programms Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine.

Der Sieg der Ukraine über die russische Aggression ist eine notwendige Bedingung für einen nachhaltigen Wiederaufbau im Land. Dennoch darf die Diskussion über die Vision und konkrete Schritte des Wiederaufbaus nicht aufgeschoben werden. Normale Lebensbedingungen für die Bevölkerung zerstörter Städte sowie Millionen von Binnen- Vertriebenen müssen schon jetzt, während der Krieg noch andauert, geschaffen werden. Die ukrainische Gesellschaft braucht Resilienz auf ganz verschiedenen Ebenen. Das Interview verdeutlicht eine feministische Perspektive auf die Prioritäten des Wiederaufbaus sowie die Bedeutung internationaler Solidarität.

Anna Antonina Lysiak: Was sind aus feministischer Sicht die größten Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau?

Galyna Kotluik: Externer Link: 2,4 Millionen Menschen haben durch den russischen Krieg in der Ukraine ihr Zuhause verloren. Daher wird die Bereitstellung von Wohnungen für Binnenvertriebene und aus dem Ausland zurückkehrende Flüchtlinge – zumeist Frauen – eine der wichtigsten Aufgaben sein, denen wir uns stellen werden. Was den Wiederaufbau beschädigter bzw. den Bau neuer Häuser angeht, ist es sehr wichtig, eine gendersensible Vorgehensweise zu gewährleisten, um die Bedürfnisse von Frauen mit Kindern, LGBTQ+ Gemeinschaften sowie behinderten und älteren Menschen zu berücksichtigen.

Außerdem ist es äußerst wichtig, die von der russischen Armee zerstörten Einrichtungen der sozialen Infrastruktur wieder aufzubauen – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Altersheime. Ohne diese Infrastruktur – dessen müssen wir uns bewusst sein – würde die Last der zumeist von Frauen geleisteten unbezahlten Pflegearbeit wieder stark ansteigen. Auch müssen wir uns um die Bedürfnisse von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt kümmern. Die Mehrheit von ihnen sind Frauen, doch sind uns auch Fälle bekannt, in denen Männer und Jungen geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben. Das bedeutet, Hilfszentren zu eröffnen, um diesen Menschen medizinische, rechtliche und psychologische Unterstützung zu bieten und zu helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dies erfordert sowohl entsprechend eingerichtete Räume als auch geschultes Fachpersonal. Um etwa auch Bedürfnissen von LGBTQ+ Menschen gerecht zu werden, müssen sich die Einrichtungen ebenso spezielle Kompetenzen aneignen. Nur so können wir sicherstellen, dass wir inklusive, nichtdiskriminierende Ansätze verwenden, um den Opfern der geschlechtsspezifischen Gewalt zu helfen.

Glauben Sie, dass sich das Rollenverständnis von Frauen in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Krieg ändern wird? Wenn ja, dann auf welche Weise? Sehen Sie hier mehr Herausforderungen oder mehr Chancen?

Dies ist eine sehr komplexe Frage, die sich kaum eindeutig und endgültig beantworten lässt. Wir sehen alle, wie aktiv ukrainische Frauen zum Sieg der Ukraine über die russische bewaffnete Aggression beitragen: Zahlreiche Frauen, aber auch Mitglieder der LGBTQ+ Gemeinschaft haben sich den Streitkräften angeschlossen, um die Ukraine mit zu verteidigen. Externer Link: 56.000 Frauen dienen in den ukrainischen Streitkräften, – nur wenige NATO-Armeen haben so viel Frauen in ihren Reihen. Viele Frauen, darunter auch Vertreterinnen verschiedener feministischer Nichtregierungsorganisationen, und LGBTQ+ Menschen arbeiten aktiv als freiwillige Helferinnen und Helfer, um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. Das Engagement von Frauen im Militär und als freiwillige Helferinnen ist bereits auf staatlicher Ebene anerkannt worden. Ich persönlich hoffe, dass nach dem Sieg der Ukraine diese Anerkennung nicht zur Vergangenheit wird und dass der Beitrag von Frauen nicht nur auf der Ebene des Diskurses, sondern auch auf der Entscheidungsebene anerkannt wird, sodass ukrainische Frauen stärker in der Regierung und im Parlament vertreten sein werden. Auch hoffe ich, dass in der ukrainischen Armee Reformen eingeführt werden, um es Frauen zu ermöglichen, in der Nachkriegszeit eine Karriere im Militär zu machen. Andererseits ist ein großer Teil der sozialen Infrastruktur der Ukraine zerstört worden, und deren Wiederaufbau verlangt sowohl Geld als auch Zeit. Bis diese Infrastruktur wiederhergestellt ist, werden Frauen gezwungen sein, sich um ihre Kinder und betagte Familienangehörige zu kümmern, was den patriarchalischen Charakter der Rollenverteilung der Geschlechter nur noch verstärken wird. Daher ist es sehr wichtig, beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg eine geschlechtersensible Vorgehensweise zu gewährleisten. Sonst besteht das Risiko eines Rückfalls zu einer traditionellen Verteilung der Geschlechterrollen.

Und wie sieht die Situation für die LGBTQ+-Community aus?

Die allgemeine Einstellung gegenüber der LGBTQ+ Gemeinschaft in der Ukraine hat sich inzwischen Externer Link: bedeutend zum Besseren verändert: In den letzten sechs Jahren (2016–2022) ist die Zahl der Ukrainer*innen, die LGBTQ+ Menschen gegenüber negativ eingestellt sind, um das 1,5-fache gesunken (von 60,4 Prozent auf 38,2 Prozent), dabei hat sich die Zahl der positiv Eingestellten vervierfacht (von 3,3 Prozent auf 12,8 Prozent), und die Zahl der neutral Eingestellten ist von 30,7 Prozent auf 44,8 Prozent gestiegen. Am 8. Juli 2022 erreichte Externer Link: die Petition für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen 25.000 Unterschriften. Nach Beginn der umfassenden Invasion in der Ukraine gingen viele LGBTQ+ Menschen an die Front, um ihr Land vor den russischen Besatzern zu verteidigen. Somit sind LGBTQ+ Familien in der Ukraine verletzlicher denn je geworden: Nach der geltenden Gesetzgebung dürfen sie weder standesamtlich heiraten noch das Sorgerecht für Kinder bekommen oder das Vermögen des Partners erben. Ihnen wird sogar das Recht verweigert, die Beerdigung des verstorbenen Partners einzuleiten. Der Präsident hat zwar auf die Petition reagiert und als alternative Lösung die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften beantragt, trotzdem sind bisher keine einschlägigen Änderungen in der ukrainischen Gesetzgebung eingetreten. Meiner Meinung nach soll es die Aufgabe der ukrainischen Zivilgesellschaft sein, die Situation zu überwachen und für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften einzutreten. Jeder von uns sollte sich dafür einsetzen, dass alle ukrainischen Bürger, egal welchen Geschlechts, welcher sexuellen Orientierung, welcher ethnischen Zugehörigkeit und welchen religiösen Bekenntnisses, die gleichen Rechte und Freiheiten genießen können, denn darin liegt ja der Hauptunterschied zwischen der Ukraine und dem Aggressorstaat.

Der Wiederaufbau wird vor allem die ukrainische Gesellschaft vor Herausforderungen stellen. Aber auch die internationale Unterstützung spielt auch eine wichtige Rolle. Welche Art von Unterstützung ist aus feministischer Sicht am nötigsten?

Zunächst einmal finanzielle Unterstützung. Laut Angaben der Externer Link: Weltbank werden die für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung benötigten Kosten zum Stand von Juni 2022 auf etwa 349 Milliarden US-Dollar geschätzt, man sollte aber mit einem noch höheren Betrag rechnen. Auf der Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz (Ukraine Recovery Conference) in Lugano hat die Ukraine den Externer Link: Wiederaufbauplan für die Ukraine präsentiert. Diesem Plan fehlt jedoch der geschlechtersensible Ansatz zum Wiederaufbau der Ukraine in der Nachkriegszeit. Es ist also absolut notwendig, sowohl die Regierung zu überzeugen, diese Komponente in den Wiederaufbauplan aufzunehmen, als auch lokale Initiativen und Nichtregierungsorganisationen zu unterstützen, die über die erforderlichen Fachkenntnisse und Erfahrung verfügen. Sehr wichtig ist auch die Unterstützung durch Expert*innen, die ihre bewährten Ansätze (z. B. auf dem Gebiet der Wiedereingliederung von Opfern der geschlechtsspezifischen Gewalt) mit Organisationen der ukrainischen Zivilgesellschaft teilen könnten. Drittens braucht es breite Informationsarbeit. Der umfassende Krieg in der Ukraine dauert jetzt schon fast ein Jahr. Und unsere Partnerländer und Verbündeten haben sich inzwischen daran gewöhnt. Aber das ist falsch, denn Krieg ist nicht normal, und er prägt den Zustand der Gesellschaft im höchsten Maße. Deshalb ist es wichtig, Menschen in der EU ständig an den Krieg zu erinnern und ihnen zu erklären, warum es wichtig ist, die Ukraine zu unterstützen.

Netzwerke und Gemeinschaften, die sich für dieselben Werte einsetzen, könnten und sollten Teil der internationalen Unterstützung sein. Die feministische Gemeinschaft als solche ist zwar sehr vielfältig und komplex, aber wie ist Ihr allgemeiner Eindruck: Fühlen sich Feminist*innen in der Ukraine ausreichend von der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen und unterstützt?

Im Allgemeinen – ja, und es ist wirklich herzerwärmend, die Unterstützung der Gemeinschaft zu spüren. Allerdings bekommen wir ab und zu pazifistische Parolen und Aufrufe zum Frieden zu hören, die nichts Konstruktives auf den Tisch bringen. Also noch einmal: Ukrainische Feminist*innen wollen Frieden, aber zu diesem Zeitpunkt hätten jegliche Verhandlungen mit Russland keinen Sinn – sie würden den Krieg nur verlängern und nicht beenden.

Uns entgehen nicht die Bemühungen unserer westlichen Kolleg*innen, ukrainische, russische und belarussische Feministinnen zusammen zu bringen, unsere dreiseitigen Diskussionen zu fördern und uns dazu zu bringen, "wieder Freunde zu sein". Aber solche Zusammenkünfte der Vertreter*innen von drei "Brudernationen" würden nur noch gekünstelt erscheinen und alle von der Realität ablenken. Die ukrainische feministische Gemeinschaft betrachtet solche Veranstaltungen nicht als ein effektives Instrument im Kampf gegen den Krieg. Wir leugnen nicht die Notwendigkeit, in Zukunft wieder miteinander zu kommunizieren, aber nicht bevor die Ukraine den Krieg gewonnen hat, Russland Reparationen zahlt und allen Kriegsverbrechern in Den Haag der Prozess gemacht wird. Wenn wir jetzt zur Teilnahme an solchen Treffen gezwungen werden, trägt das nicht zum Sieg der Ukraine bei.

Welche Unterstützung fehlt noch?

Erstens ist der antikolonialistische Ansatz erforderlich, um die historischen, kulturellen und politischen Verbindungen und Beziehungen zwischen Russland (als Imperium) und seinen Kolonien, zu denen auch die Ukraine gehört, neu zu überdenken. Viele westliche Intellektuelle weigern sich immer noch, Russland als Imperium und die Ukraine als Opfer seiner kolonialistischen Ambitionen anzusehen. Deshalb wäre dies ein wichtiger erster Schritt in der Wissensproduktion auf der Grundlage eines antikolonialistischen Ansatzes und Denkens. Dieser Ansatz sollte auf allen Ebenen des Diskurses, einschließlich akademischer und öffentlicher, integriert werden. Zweitens brauchen wir internationale Kooperationen und Projekte. Ich wünschte, es gäbe mehr internationale Zusammenarbeit zwischen feministischen Gemeinschaften und mehr internationale Sichtbarkeit für ukrainische Feminist*innen. Anfang Dezember veranstaltete das Gunda-Werner-Institut einen Instagram-Livestream mit zwei ukrainischen Expert*innen zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt in der Ukraine. Ich finde es sehr wichtig, dass es mehr solche internationalen Veranstaltungen gibt, bei denen ukrainische Expert*innen über die Ukraine und die aktuelle Situation sprechen könnten.

Was erwarten Sie von internationalen feministischen Netzwerken?

Ukrainische Nichtregierungsorganisationen blieben lange Zeit von internationalen Netzwerken ausgeschlossen, wobei russische Nichtregierungsorganisationen immer viele Möglichkeiten hatten, eine Verbindung zu diesen Netzwerken herzustellen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ukrainische Nichtregierungsorganisationen in diese Netzwerke eingebunden werden – dies würde den Wissens- und Erfahrungsaustausch fördern und die Integration der ukrainischen Zivilgesellschaft in den europäischen Raum sicherstellen.

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen der letzten Jahreskonferenz des Kyjiwer Dialogs war, dass es in Deutschland an Ukraine-Kompetenz mangelt. In derselben Zeit veröffentlichten Vertreter*innen der ukrainischen Zivilgesellschaft einen offenen Brief mit der Forderung: "(…) Internationale NROs sollten ihre eigene Kompetenz über unseren Kontext aufbauen." Welche Informationsquellen würden Sie denjenigen vorschlagen, die sich zu geschlechterpolitischen Fragen und feministischen Diskursen in der Ukraine informieren wollen?

Seit dem Beginn des umfassenden Krieges haben ukrainische Feminist*innen und Forscher*innen Zugang zu westlichen akademischen Ressourcen. Das ist ein gutes Zeichen. Und wir müssen sicherstellen, dass dieser Zugang auch nach dem Kriegsende nicht beendet wird, denn er kann und sollte eine Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und europäischen feministischen Gemeinschaften werden.

Heute zeigen unsere westlichen Kolleg*innen ein beispielloses Interesse an der Ukraine. Es gibt jedoch ein Problem mit der Wissensproduktion: Praktisch alle im Westen vorhandenen Materialien über die Ukraine stammen von westlichen Wissenschaftlern, und dies beeinflusst die Sicht auf die Ukraine und die ukrainische feministische Gemeinschaft bedeutend. Ukrainische Expert*innen schreiben über die ukrainischen Fragen meistens nur auf Ukrainisch und nicht auf Englisch. Wir sehen zwar eine zunehmende Nachfrage nach englischsprachigen einschlägigen Materialien seitens unserer westlichen Kolleg*innen, aber angesichts der Umstände ist es meistens alles andere als leicht, die Herstellung einer Übersetzung zu veranlassen. Das Team unseres Projektes "Gender in Detail" in der Heinrich-Böll-Stiftung hat einige ausgewählte Artikel ins Englische Externer Link: übersetzt – eine Initiative, die sowohl von ukrainischen Wissenschaftler*innen im Westen als auch von unseren westlichen Kolleg*innen sehr begrüßt wurde. Aber das ist ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein, dessen bin ich mir bewusst. Im nächsten Jahr wollen wir weitere Materialien übersetzen und auf unsere Website hochladen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview erschien am 21.02.2023 auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung und ist unter Externer Link: https://www.boell.de/de/2023/02/21/ukraine-der-wiederaufbau-braucht-einen-geschlechtersensiblen-ansatz frei zugänglich. Der Text wurde unter der Lizenz CC-BY-NC-ND 4.0 veröffentlicht.

Fussnoten

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