Prognosen
Der russisch-ukrainische Krieg von 2022 und 2023 ist ein Krieg, der in jedweder Hinsicht überraschend ist. Und einer, der seine Richtung stetig ändert. Er stellt ein deutliches Beispiel dar, wie sämtliche Prognosen in sich zusammenfallen, die sich auf rationale Argumente stützen. Und wie der technische Fortschritt den Kriegsverlauf überraschend und schnell verändert. Dieser Fortschritt (in Bezug auf Mordmaschinerie und Kriegstechnologien) entwickelt sich besonders dann so schnell, wenn es einen echten und großangelegten Krieg gibt, der die Existenz von Staaten in Frage stellt.
Vor Beginn der Invasion gab es von verschiedenen Seiten eine Reihe von Prognosen darüber, welche Aussichten ein Angriff Russlands haben könnte. Allerdings waren die meisten – außer einer nicht sehr großen Zahl radikaler Vertreter der russischen Opposition (wie etwa Garri Kasparow), die von einer bevorstehenden umfassenden Konfrontation Russlands mit dem Westen sprachen, also von einem Großen Krieg – davon überzeugt, dass es um neue Kämpfe im Donbas gehen würde (oder allerhöchstens um den Versuch, die ukrainische Grenze im Nordwesten und Süden zu durchbrechen, um die Kräfte der Donezker Armeegruppe der ukrainischen Streitkräfte zu umzingeln). Es scheint, als sei die Regierung in Kyjiw vom Donbas-Szenario ausgegangen. Sie versuchte eifrig, dort Verteidigungsstellungen entlang der Kontaktlinie aufzubauen und hat nichts unternommen, um die übrigen Grenzen des Landes zu befestigen. Obgleich sie für den Fall eines russischen Durchbruchs einen Plan in Reserve hatte. Um ein Vorrücken aufzuhalten, wollte man mit halbwegs partisanenartigen Methoden in den Wäldern und auf den Feldern kämpfen, Brücken über die vielen ukrainischen Flüsse sprengen und dann Kolonnen, die durchkamen, in den Vororten von Städten wie Charkiw, Tschernihiw und Mariupol einen Kampf liefern. Diejenigen, die meinten, der Krieg könne nicht in Form einer massiven Invasion erfolgen, hatten ein rationales Argument. Die russische Armee, und auch die Verbände, die zum Februar 2022 hin an der ukrainischen Grenze zusammengezogen wurden, waren eigentlich zu klein für einen Überfall auf das gesamte Land. Viele waren auch überzeugt, dass in der Ukraine nach einer Besatzung die Partisanenbewegung so stark sein würde, dass die russischen Behörden nicht in der Lage wären, das Hinterland zu kontrollieren.
Phase 1 – Klassische Invasion und Gegenwehr
Im Kreml dachte man allerdings anders, und es wurde aus rund 20 verschiedenen Richtungen mit zerstreuten Kräften gegen die Ukraine losgeschlagen. Zu den 150.000 Mann der russischen Armeegruppe kamen noch mindestens 50.000 (womöglich bis zu 150.000) Mann starke Truppen der "Volksrepubliken" (die bereits im Dienst standen oder einen Monat vor dem Überfall mobilisiert wurden), Kämpfer privater Militärfirmen sowie zahlreiche Kräfte der Nationalgarde (russ.: "Rosgwardija") und des FSB hinzu, die aus ganz Russland zusammengerufen wurden. Wladimir Putin, Sergej Schojgu, Nikolaj Patruschew, Dmitri Medwedew und die anderen Mitglieder jenes engen Kreises, in dem die Entscheidung für den großangelegten Krieg gefällt wurde, gingen davon aus, dass das Überraschungsmoment der massiven Invasion funktionieren würde. Sie dachten, dass sie in den ersten Stunden und Tagen des Krieges die politische und militärische Führung der Ukraine würden vernichten, neutralisieren oder einschüchtern können. Und während sich die ukrainische Führung in den Westen retten würde, könne man mit "Dolchstößen" und "Panzerkeilen" das Land zerteilen und auf wenigstens zwei Dritteln des ukrainischen Territoriums die größten Städte erobern. Das ist ungefähr das Szenario, das zu Beginn der Invasion im Süden der Ukraine funktionierte, wo die von der Krim vorstoßenden russischen Verbände, ohne auf besonderen Widerstand zu stoßen, den Dnipro überquerten, Cherson eroberten und beinahe in Saporischschja und Mykolajiw einzogen. In zwei Tagen wurde ein riesiges Territorium in vier ukrainischen Gebieten (Oblasten) erobert, praktisch der gesamte Südosten des Landes. Proteste der Bevölkerung dort wurden schnell unterdrückt; sie mündeten nicht in eine massenhafte Partisanenbewegung. Es gab lediglich vereinzelte Anschläge des bewaffneten Untergrunds. Auch in den neu eroberten Gebieten im Osten des Landes entstand keine Partisanenbewegung.
Gleichwohl ging der Plan des Kreml nicht auf. Der Reserveplan der ukrainischen Regierung, mit dem die Invasion "in den Wäldern" und in den Vorstädten gestoppt werden sollte, hat im Großen und Ganzen funktioniert. Bei acht der neun wichtigsten Vorstoßrichtungen wurden die russischen "Panzerkeile" schließlich in den Vororten zum Stehen gebracht. Und sie wurden an den Flanken angegriffen, wobei Regierungs- und Sabotageeinheiten zum Einsatz kamen, wie auch Verbände der Territorialverteidigung, die vor dem Krieg aufgestellt worden waren. Nahezu überall waren die Aggressoren bereits anderthalb Monate nach Beginn der Invasion gezwungen, sich zurückzuziehen. Sie verloren viel Gerät, hatten heftige Probleme mit dem Nachschub von Munition, Nahrungsmitteln und Treibstoff. Damit endete die erste Phase des Krieges.
Phase 2 – Verteidigung und Stellungsaufbau
Damals hofften vor allem viele in der Ukraine, dass ein vollständiger Sieg der ukrainischen Streitkräfte nicht weit sei. Der Feind zog sich aus fast allen größeren Städten zurück und blieb in den im Frühling aufgeweichten Wegen irgendwo in den Wäldern und auf den Feldern der östlichen und südlichen Ukraine stecken. In Russland wurde das allerdings anders gesehen. Nachdem sich die russische Führung von der Idee verabschiedet hatte, alles auf einmal einzunehmen, beschloss man, in erster Linie um den Donbas zu kämpfen. Im Laufe des April stellte sich die russische Armee nicht mehr in Kolonnen auf, sondern bildete regelrechte Fronten. Sie kontrollierte jetzt weite Geländeabschnitte und nicht mehr nur wichtige Straßendämme, wie das zu Beginn der Invasion der Fall war. Dort gab es schon keinen Raum mehr für ukrainische Sabotagegruppen. Die russischen Verbände organisierten sich eine systematische Versorgung, vor allem mit Munition und Nahrungsmitteln. Und sie rückten vor, wobei sie auf ihrem Weg jeden Widerstand unter Einsatz mächtiger Artillerie- und Granatwerfersysteme vernichteten. Am 20. Mai 2022 war der Widerstand der ukrainischen Garnison in Mariupol, der beträchtliche Kräfte des Gegners gebunden hatte, gebrochen. Auf die gleiche Weise vollzogen die Streitkräfte der Russischen Föderation und andere russische Einheiten die Eroberung der nördlichen Hälfte des Gebietes Luhansk, einschließlich der wohlbefestigten Positionen im Siedlungsraum Sjewjerodonezk/Lyssytschansk. Nachdem sie diesen und die dichten Wälder im Osten des Gebiets Charkiw erobert hatten, rückten sie unter schweren Kämpfen auf die nördliche Vorderseite des "Donezker Bogens" vor, der von Slowjansk nach Osten bis Lyssytschansk, dann weiter nach Siwersk und nach Süden bis Donezk und weiter nach Westen bis Wuhledar verläuft. Dort wurden sie am linken bewaldeten Ufer des Flusses Siwerskij Donez von den Streitkräften der Ukraine aufgehalten.
Diese Kämpfe waren, das hat die ukrainische Regierung eingeräumt, die (bislang) schwersten im Verlauf des Krieges. An einigen Tagen betrugen die ukrainischen Verluste durch russischen Beschuss bis zu 300 Menschen am Tag. Allerdings änderte sich im Juli 2022 die Lage erneut drastisch und unerwartet, wodurch die dritte Phase eingeläutet wurde.
Phase 3 – Gegenoffensive und Patt
Das amerikanische Raketensystem HIMARS, das seit Anfang Juli 2022 eingesetzt wurde, erlaubte es den ukrainischen Streitkräften, die mit Raketenabwehrsystemen gespickten russischen Verteidigungsstellungen zu überwinden und die Waffenlager sowie die Einsatzstäbe der russischen Armee aus großer Entfernung punktgenau zu treffen. Bevor die russischen Einheiten auf die neue Gefahr reagieren konnten, zerstörten die HIMARS-Systeme im Donbas und im Süden der Ukraine mindestens zwei Dutzend große Militärlager und große Kommandostellen auf Armee- oder Divisionsebene. Das führte zu einem starken Rückgang der Artillerieunterstützung für die russischen Einheiten an der Kontaktlinie; und sie konnten auch nicht mehr so gut kommandiert werden. Zu jenem Zeitpunkt, nach einem halben Jahr intensiver Kämpfe, waren in vielen vorderen Infanterie-Einheiten der Besatzer nicht mehr als 30 Prozent des Personals übriggeblieben. Und die Frontlinie bestand auf russischer Seite aus einem Netz von "Stützpunkten", die mit recht großen Abständen verstreut lagen und nur über schwache mobile Reserven in der "zweiten Linie" verfügten. Das erlaubte es den Streitkräften der Ukraine Ende August 2022, zu einer erfolgreichen Gegenoffensive überzugehen, durch die in zwei Schritten das riesige Waldgebiet befreit wurde, in dem sich die Grenzen der Gebiete Charkiw, Donezk und Luhansk treffen, einschließlich der strategisch wichtigen Städte Isjum, Lyman und Kupjansk. Darüber hinaus wurde der Norden des rechtsufrigen Teils des Gebiets Cherson befreit, was die Möglichkeit eröffnete, die gesamte Gruppierung der russischen Armee am Ufer des Dnipro unter Druck zu setzen. Im Oktober 2022 war die russische Armee gezwungen, auch aus Cherson abzuziehen. Dadurch konnte sie nicht mehr darauf hoffen, von einem in den rechtsufrigen Gegenden eroberten Aufmarschgebiet aus auf Odessa oder die zentralen Gebiete der Ukraine vorzurücken.
Allerdings stellten sich Hoffnungen, dass jetzt eine Niederlage Russlands unausweichlich sei und die Streitkräfte der Ukraine die richtige Kriegsstrategie gefunden hätten, als vergeblich heraus. Die ukrainischen Streitkräfte verfügten nicht über ausreichend Kräfte, um im September 2022 die nicht sehr große Stadt Lyman schnell einzunehmen (die Belagerung dauerte drei Wochen) und "auf den Schultern des Gegners" in das Gebiet Luhansk durchzubrechen. Ende Oktober erstarrte die Front an der Grenze der Gebiete Luhansk und Charkiw und bewegt sich seither kaum. Die dritte Phase des Krieges war abgeschlossen. In Russland wurde erfolgreich eine Mobilmachung unternommen, durch die die Zahlenstärke der Truppen im Feld wiederhergestellt wurde. Sie hat die Armee darüber hinaus mit einer beträchtlichen Reserve ausgestattet. Russland greift erneut im Donbas an und erobert (wenn auch mit riesiger Mühe) Städte.
Phase 4 und Ausblick – Züge eines modernen Krieges
In der vierten Phase des Krieges richtete sich die Konzentration auf den Kampf mit modernen Hightech-Waffen. Russland versucht seit September 2022 mit Raketenangriffen und Angriffsdrohnen das ukrainische System der Energieversorgung zu zerstören. Die Ukraine versuchte, mit ihren Drohnen (fliegende Drohnen und "Unterwasser-Drohnen") Russland erheblichen und medienwirksamen Schaden zuzufügen, wie z. B. durch die zwei Drohnenangriffe auf den Stab der Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Oder die Angriffe mit Unterwasser-Drohnen auf Kriegsschiffe in der Bucht von Sewastopol. Die symbolträchtige Explosion auf der Krimbrücke am 8. Oktober 2022 war das Ergebnis einer erfolgreichen Sabotageaktion mit Hilfe eines verminten Lastkraftwagens. All diese Versuche erzielten ungeachtet einiger Teilerfolge keine aus militärischer Sicht relevanten Ergebnisse. Allerdings konnten dadurch neue militärische Technologien trainiert werden.
Nach Einschätzungen sowohl aus Kyjiw, wie auch aus Moskau, stehen wir vor einer neuen Phase des Krieges, in der neueste technische Mittel eingesetzt werden. In Moskau werden Angriffe Tausender fliegender Drohnen und Dutzender Unterwasser-Drohnen erwartet. In der Ukraine werden Angriffe mächtiger iranischer Raketen erwartet, und neue Vorstöße russischer Panzer. Dass Moskau für das Frühjahr oder den Sommer einen Vormarsch vorbereitet, wird nicht verhohlen. Das verschleiert womöglich einen Schlag, der am Ende des Winters erfolgen könnte.
Beide Seiten wollen kämpfen, auch wenn sie in diesem Krieg unterschiedliche Ziele verfolgen. Beide Seiten wollen dem Feind Überraschungen bereiten. Und wir, die wir an der Seite stehen, können nur der Ukraine helfen, die für uns das Opfer einer Aggression darstellt. Und wir können versuchen, Prognosen und Erwartungen à la "Wann wird das alles enden?" zu vermeiden. Was in dieser Situation klar ist: Dieser Krieg wird lange dauern. Und wir sollten unsere Prognosen und Handlungen realistisch und langfristig und nicht auf optimistische Aussichten ausrichten.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder