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dekoder: Serhij Zhadan | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

dekoder: Serhij Zhadan

Kateryna Stetsevych

/ 7 Minuten zu lesen

Serhij Zhadan ist einer der populärsten ukrainischen Schriftsteller und Musiker, der sich zudem auch sehr stark gesellschaftlich engagiert.

Der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan bei einem Besuch eines Krankenhauses in der Region Charkiw. (© picture-alliance, EPA | SERGEY KOZLOV)

Zusammenfassung

Da steht er in einer Charkiwer Metrostation, vor ihm die Menschen, die sich vor den russischen Raketen in Sicherheit gebracht haben. Er singt und schreit: "Hej, los macht mit!" Kinder hüpfen im Takt der Musik, Frauen und Männer klatschen im Rhythmus. Serhij Zhadan beschreibt in seiner Lyrik und Prosa nicht nur das Leben in der Ukraine, er gestaltet es mit, auch in Zeiten des Krieges. In einem Interview sagte er: "Es ist sehr wichtig, dass die Menschen ihre Werte nicht verlieren, sich selbst nicht verlieren. Kultur ist so ein Wert. Und die Besatzer haben es nicht geschafft, dieses Leben zu stoppen." Serhij Zhadan ist ukrainischer Lyriker, Prosaschriftsteller, Musiker und Übersetzer. Wie lässt sich sein vielseitiges und kreatives Schaffensfeld verorten, wo liegen die Ursprünge eines Werdegangs, der ihn zu einem der gegenwärtig bedeutendsten literarischen Akteure der Ukraine werden ließ, mit zahlreichen Preisen geehrt?

Charkiw nonkonformistisch

1974 in Starobilsk, Gebiet Luhansk, geboren, kam Serhij Zhadan zum Studium der Germanistik und Ukrainistik 1991 nach Charkiw, der multikulturellen Metropole im Osten der Ukraine, Anfang der 1990er Jahre war die Stadt stark russifiziert. "Wer in Charkiw ankommt, weiß sofort, dass er sich in einer Stadt großen Formats befindet", urteilte Karl Schlögel während einer Reise in der Ukraine. Charkiw, im 19. Jahrhundert eine Handelsstadt im Westen des Russischen Reiches, wurde zur Metropole des sowjetischen Konstruktivismus, der Wissenschaft und der ukrainischen Avantgarde in den 1920er Jahren. Die Stadt, ihr Raum und ihre Geschichte haben das Werk Zhadans, der zur Kultfigur des ukrainischen Futurismus Mychail Semenko promoviert hat , enorm beeinflusst.

Zugang in die literarischen Kreise der Stadt fand Zhadan durch seine Tante Olexandra Kowaljowa, eine ukrainische Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Deutschen, die sich 1983 mit ihrem ersten Lyrikband Stepowi osera (dt. Steppenseen) als literarische Stimme etabliert hatte. Externer Link: "Meine Tante wurde für mich zum ersten Vorbild einer lebenden Dichterin". Durch sie entdeckte er in Charkiw die damals noch kleinen literarischen Netzwerke, in denen vorwiegend Ukrainisch gesprochen und geschrieben wurde.

Zhadan hat mit Lyrik begonnen, seine frühen Gedichte schrieb er noch in seiner Heimatstadt Starobilsk als Schüler der elften Klasse. Im Studium in Charkiw setzte er das Schreiben von Lyrik fort und konnte dadurch seine außergewöhnliche literarische Begabung weiterentwickeln. Die genaue, lyrische Beobachtung ist Teil des Zhadan-Stils, die Gabe, mit sprachlichen Mitteln eine enorme atmosphärische Dichte zu erzeugen und Bilder zu schaffen, die nachwirken – was auch in seinen Prosawerken zu spüren ist.

Doch ein Poet an der Schwelle von zwei Systemen zu sein, war nicht einfach: Während die sowjetischen Strukturen im Literaturbereich nach 1991 erstarrten bzw. nach und nach verschwanden, etablierte sich ein literarisches Feld in der unabhängigen Ukraine nur langsam. Der literarische Markt war bei Weitem nicht so ausdifferenziert wie heute. Die jüngere Generation der Literat:innen und Kulturschaffenden agierte deshalb vor allem nonkonformistisch. So gründete Zhadan 1992 zusammen mit zwei Kommilitonen und späteren künstlerischen Wegbegleitern Rostyslaw Melnykiw und Ihor Pylyptschuk die literarische Gruppe Tscherwona fira (dt. Rotes Fuhrwerk), die im studentischen Milieu – in der "Zeit der Jugend und der Poesie"  – entstand. Sie arbeitete mit dem Charkiwer Literaturmuseum zusammen, löste sich allerdings fünf Jahre später wieder auf. 1992 kehrte auch Ossyp Synkewytsch, ein prominenter Förderer der ukrainischen Kultur, aus den USA zurück und verlagerte die Tätigkeit des Verlags Smoloskyp (1968) in die Ukraine, der junge Autorinnen und Autoren förderte. In diesem Verlag erschienen 1994 erstmals Gedichte Zhadans in der Anthologie für junge Dichter Molode wyno (dt. Junger Wein).

Das Charkiwer Literaturmuseum entwickelte sich zu einem Raum für die neue Generation ukrainischer Kulturaktivisten, die sich auf der Suche nach eigenen Ausdrucksformen und Ästhetiken ausprobieren konnten, und vereinigte nicht nur Literat:innen, sondern auch Künstler:innen, Theaterschaffende und Musiker:innen. Mit Melnykiw und Pylyptschukuk initiierte Zhadan Festivals, Lesungen und Theaterstücke. "Unser Zuhause war das Literaturmuseum", sagte Zhadan Externer Link: in einem Interview, "um das herum sich eine Art Punk-Kommune von Charkiwer Losern zusammenfand. Ich schlief damals in diesem Museum, und ich begann auch dort zu schreiben." Die Verortung im Literaturmuseum sicherte auch die transkulturellen und -medialen Praktiken der Gruppe, was bis in die Gegenwart im Schaffen von Zhadan und bei gemeinsamen Auftritten mit Musikbands bzw. theatralischen Performances sichtbar wird.

Ästhetischer Pluralismus und verwurzelte Heimatlosigkeit

1995 erschienen die ersten beiden Gedichtsammlungen Zhadans – General Juda und Zytatnyk. Letztere gilt als "Manifest der Heimatlosigkeit" , in dem die sowjetische Tradition dekonstruiert und die klassische ukrainische Literatur neu gedeutet wird. Seine Protagonisten sind Heimat- und Obdachlose, Marginalisierte, Migrant:innen als moderne Nomaden, Nonkonformisten. Besonders deutlich werden sein Stil und der auffällige Rhythmus in den beiden Gedichtbänden Balladen über Krieg und Wiederaufbau (2001) und Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts (2003 auf Ukrainisch, 2006 auf Deutsch erschienen). Sein literarischer Protest ist ein "postproletarischer Postpunk" (Juri Andruchowytsch), der darauf zielt, nicht nur sein Heimatland, sondern auch "das alte Europa" als Ort der Sicherheit und Zuversicht zu demythologisieren.

"Der Kampf, den wir verloren haben, sagt keinem mehr was; in Irish Pubs greifen Männer in die Tasten und singen Hymnen auf die unbeschwerte Heimatlosigkeit."

2004 und 2005 erscheinen seine ersten Romane Depeche Mode und Anarchy in the UKR, die stark von der typischen Zhadanschen rhythmischen Lyrik – von "poetischer Prosa" (Bohdana Matijasch) – durchdrungen sind. Mit diesen beiden Texten, aufgrund ihrer nichtlinearen Sujetstruktur oft als Novellen bezeichnet, füllt er die Leere der Landschaften der 1990er Jahre, die einerseits fest im Osten der Ukraine lokalisiert sind, andererseits sich gleichzeitig der Verortung entziehen. Es sind eher Räume der Emotionen, der Zustände, der Dichte, "der Liebe, des Zweifelns oder der Verzweiflung, der Übelkeit und der Ausweglosigkeit" (Switlana Matwijenko), durch die seine Protagonisten wandern. Seine Prosa hat etwas Kinematographisches, besticht durch zahlreiche Details und unverkennbare Bilder: "Meine 1980er sind leicht zu verfilmen", behauptet der Held von Anarchy in the UKR, dort gibt es "Lastwagen, Eisenbahnhallen, Gras am Wegrand, sommerliche Fichten am Morgen, Supermärkte, lokale Bahnhöfe, kühle Kinos, Zeitungskioske, Schulsporthallen mit Matten und Trampolinen, leere Straßen, Wasserzapfsäulen mit eisigem Wasser, Kioske mit Schallplatten, Schaschlikverkauf, Schlangen vor Achterbahn, Kleinkriminelle, verrückte Alkoholiker, lokale Prostituierte …".

Durch seinen 2010 erschienenen Roman Woroschylowhrad (dt. Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass) zieht sich wie durch sein ganzes Schaffen das Nomadentum, die Protagonisten sind immer unterwegs, auf der Suche nach Sinnstiftendem – wie Herman, der in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, um die Tankstelle seines Bruders vor der Mafia zu retten. Oder wie Zhadan im Externer Link: Interview mit Marci Shore feststellt: "… er kehrt in die Vergangenheit zurück, wo für ihn die Zukunft beginnt."9 Jedoch bleibt der Autor den Handlungsorten treu: Sie liegen im Osten der Ukraine und oft in seiner Wahlheimat Charkiw, der er mit dem Roman Mesopotamien auf originelle Art ein Denkmal setzt. Und doch ist es paradox, denn obwohl viele Kritiker:innen behaupten, dass Zhadan den vergessenen ukrainischen Osten besingt, sind seine Gedichte und Romane universell, sie sind Zeugnisse der fragilen Zeit – immer am Rande einer Katastrophe – und seiner Generation, die in einer Orientierungslosigkeit aufgewachsen ist, auf der Suche nach Substanz und Lebenssinn, Wurzeln, Vorbildern, nach einer eigenen Sprache und Bildhaftigkeit.

Bruchstellen: Maidan und Krieg

Mit dem Maidan 2014 und dem Beginn des russischen Krieges im Donbass verändern sich teilweise Stil und Bildsprache Zhadans. 2015 erscheint sein Lyrikband Shyttja Mariï (dt. Marias Leben), für den er auch Gedichte von Rainer Maria Rilke und Czesław Miłosz übersetzt hat, und 2018 die Gedichtsammlung Antena (dt. Antenne). 2017 wird sein viel beachteter Roman Internat veröffentlicht – ein trauriger Vorbote des brutalen großflächigen Angriffs Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann. Das Internat steht als Metapher pars pro toto für das ganze Land – ein Heim für elternlose Kinder als prägendes Bild einer inneren Heimatlosigkeit. Der Krieg bricht aus und der Hauptprotagonist Pascha, ein unentschlossener und orientierungsloser Lehrer für Ukrainisch, ist gezwungen, seinen Neffen aus dem in der Kriegszone gelegenen Internat herauszuholen. Mit seiner Reise durch den Nebel des Krieges findet eine innere Transformation statt: Pascha betritt den Raum "des historischen Bewusstseins" (Externer Link: Tanya Zaharchenko) – es ist der Zustand der ersten postsowjetischen Generation der Ukraine – und entschlüsselt durch Trauerarbeit die gewaltvolle Geschichte seines Landes.

Die vielschichtige, rhythmische und synthetische Literatur Zhadans wächst mit den Jahren zu einer großen Erzählung der ukrainischen Geschichte und vor allem der Unabhängigkeit seit 1991 heran, mit all den Kontinuitäten und Brüchen, mit einer Huldigung der einfachen Menschen und der identitätsstiftenden Liebe zum Leben.

Die Brutalität des Angriffskrieges und die tägliche Bombardierung seiner Stadt Charkiw, in der Serhij Zhadan bis heute lebt, nahmen ihm zunächst die Sprache: "Der Krieg bricht die Sprache, am 24. Februar war niemand mehr Poet." Auch in Zukunft wird er sicher neue Alben einspielen, Radiosendungen moderieren und Drehbücher schreiben, denn "Schweigen ist fahrlässig". Er tritt jetzt schon wieder mit seiner populären Skaband Zhadan i sobaky (dt. Zhadan und die Hunde) auf den Bühnen Europas und in den Kellern Charkiws auf – seit 2008 spielen und touren sie gemeinsam. Zhadan sammelt unermüdlich Spenden, verteilt Hilfsgüter oder technische Hilfsmittel an das Militär, versammelt freiwillige Helfer oder bringt Bücher mit seiner Stiftung in Dorfbibliotheken. All das hat er auch schon seit Beginn des Krieges im Donbass gemacht. Nachdem er sich in den ersten Kriegswochen allein der Volontärsarbeit gewidmet hat, veranstaltet er nun wieder Konzerte, organisiert Festivals, schreibt auf Facebook und Insta, er twittert und befindet sich im ständigen Austausch mit seinem Publikum. Wie Sophie Pinkham geschrieben hat, scheint er auch in der Situation des Krieges "immun gegen Verzweiflung" zu sein. "Pracjuemo", sagt er selbst – wir machen weiter, denn "morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher".

Der Text erschien kurz vor der Verleihung des Friedenspreises 2022 als Gnose auf Externer Link: www.dekoder.org und ist online zugänglich unter Externer Link: https://www.dekoder.org/de/gnose/serhij-zhadan.

Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt unserem langjährigen Partner Dekoder und der Autorin für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München 2015, S. 161.

  2. Serhij Viktorovyč Žadan, philosophisch-ästhetische Anschauungen von Mychajl Semenko. Dissertation, Charkiver staatliche pädagogische Hryhorij-Skovoroda-Universität, Charkiw 2000, 165 S.

  3. Ukrainische literarische Schulen und Gruppen der 1960er und der 1990er Jahre, L'viv 2009, S. 521.

  4. Tamara Hundorova, Post-Tschornobyl-Bibliothek. Ukrainischer literarischer Postmodernismus, Kyïv 2013, S. 255.

  5. "Der Gebrauchtwagenhändler", aus: Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts.

  6. Serhij Zhadan, Anarchy in the UKR, in: ders., Kapital, Charkiv 2006, S. 275.

  7. Auf Deutsch ist der Roman unter dem gleichen Titel 2018 erschienen.

  8. Serhij Zhadan, Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg, Berlin 2022, S. 31.

Weitere Inhalte

Kateryna Stetsevych studierte Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Czernowitz und der Freien Universität Berlin. Sie arbeitete als freiberufliche Kuratorin und Dozentin für internationale Mittlerorganisationen wie u. a. das Goethe-Institut und die GIZ sowie Kulturinstitutionen in Deutschland. Zudem war sie Koordinatorin des Programmschwerpunkts tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus bei der Leipziger Buchmesse (2012–2014). Gegenwärtig leitet sie die Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa in der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).