Dem ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan wurde am 23. Oktober 2022 in Frankfurt am Main der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 verliehen. Die Ukraine-Analysen dokumentieren seine vielfach gelobte Dankesrede sowie die Begründung der Jury, in der es heißt:
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2022 Serhij Zhadan. Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten.
Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.
Serhij Zhadan: Lass es einen Text sein, aber nicht über den Krieg
Seine Hände sind schwarz und abgearbeitet, das Schmieröl hat sich in die Haut gefressen und sitzt unter den Nägeln. Menschen mit solchen Händen wissen eigentlich zu arbeiten und tun es auch gern. Was sie arbeiten, ist eine andere Sache. Klein, still und besorgt steht er da und erzählt von der Situation an der Front, von seiner Brigade, von der Technik, mit der er – der Fahrer einer Einheit – unterwegs ist. Plötzlich fasst er sich ein Herz und sagt: "Ihr seid doch Freiwillige", sagt er, "kauft uns einen Kühlschrank." "Was willst du denn an der Front mit einem Kühlschrank?" Wir verstehen nicht. "Aber wenn du ihn brauchst, dann fahren wir zum Supermarkt, du suchst dir einen aus, und wir kaufen ihn." "Nein", erklärt er, "ihr habt mich falsch verstanden: Ich brauche ein Fahrzeug mit einem Kühlschrank. Einen Kühlwagen. Um die Gefallenen abzutransportieren. Wir finden Leichen, die schon länger als einen Monat in der Sonne gelegen haben. Wir schaffen sie mit einem Kleinbus weg, da kriegst du keine Luft mehr." Er spricht über die Leichen – seine Arbeit –, ruhig und gemessen, ohne Wichtigtuerei und auch ohne Hysterie. Wir tauschen unsere Nummern. Eine Woche später haben wir in Litauen einen Kühlwagen gefunden und bringen ihn nach Charkiw. Unser Bekannter und seine Kämpfer rücken mit der ganzen Mannschaft an, feierlich nehmen sie das Fahrzeug in Empfang und machen mit uns ein Selfie für einen Post. Dieses Mal trägt unser Bekannter eine Waffe und saubere Kleidung. Die Hände sind – wenn man genauer hinsieht – so schwarz wie zuvor, die tagtägliche schwere Arbeit, das sieht man den Händen am meisten an.
Was ändert der Krieg vor allen Dingen? Das Gefühl für Zeit und das Gefühl für Raum. Die Konturen der Perspektive, die Konturen der zeitlichen Ausdehnung ändern sich unglaublich schnell. Wer sich im Raum des Krieges befindet, macht keine Zukunftspläne, denkt nicht weiter darüber nach, wie die Welt morgen aussehen wird. Nur das, was jetzt und hier mit dir passiert, hat Bedeutung und Gewicht, nur Dinge und Menschen, mit denen du spätestens morgen zu tun hast – wenn du überlebst und aufwachst – haben Sinn. Die wichtigste Aufgabe ist es, unversehrt zu bleiben und sich den nächsten halben Tag durchzukämpfen. Irgendwann später wird sich zeigen, wird sich herausstellen, was man unternehmen und wie man sich verhalten muss, worauf man sich in diesem Leben verlassen kann und wovon man sich lösen muss. Das betrifft im Grunde genommen sowohl die Militärangehörigen als auch jene, die sich als "Zivilisten", also unbewaffnet, in der Kontaktzone des Todes aufhalten. Genau dieses Gefühl ist es, das dich vom ersten Tag des großen Krieges an begleitet – das Gefühl der gebrochenen Zeit, des Fehlens von Dauer, das Gefühl der zusammengepressten Luft, du kannst kaum atmen, weil die Wirklichkeit auf dir lastet und versucht, dich auf die andere Seite des Lebens, auf die andere Seite des Sichtbaren abzudrängen. Die Überlagerung von Ereignissen und Gefühlen, das Aufgehen in einem zähen blutigen Strom, der dich erfasst und umfängt: diese Verdichtung, der Druck, die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen, das ist es, was die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Friedens unterscheidet. Doch sprechen muss man. Selbst in Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges.
Natürlich ändert der Krieg die Sprache, ihre Architektur und ihr Funktionsfeld. Wie der Stiefel eines Eindringlings, eines Fremden beschädigt der Krieg den Ameisenhaufen des Sprechens. Also versuchen die Ameisen – die Sprecher der beschädigten Sprache – fieberhaft, die zerstörte Struktur zu reparieren, das, was ihnen vertraut ist, was zu ihrem Leben gehört, wiederherzustellen. Irgendwann ist alles an seinem Platz. Aber diese Unfähigkeit, sich der vertrauten Mittel zu bedienen, genauer gesagt, die Unfähigkeit, mit den früheren – aus friedlichen Vorkriegszeiten stammenden – Konstruktionen deinen Zustand zu beschreiben, deine Wut, deinen Schmerz und deine Hoffnung zu erklären – ist besonders schmerzhaft und unerträglich. Besonders, wenn du es gewohnt warst, der Sprache zu vertrauen und dich auf ihr Potenzial zu verlassen, das dir bislang unerschöpflich schien. Plötzlich aber zeigt sich, dass die Möglichkeiten der Sprache begrenzt sind, begrenzt von den neuen Umständen, von einer neuen Landschaft: einer Landschaft, die sich in den Raum des Todes, in den Raum der Katastrophe einschreibt. Jeder einzelnen Ameise kommt die Aufgabe zu, die Kongruenz des kollektiven Sprechens, des Gesamtklangs, der Kommunikation und Verständigung wiederherzustellen. Wer ist in diesem Fall der Schriftsteller? Auch eine Ameise, verstummt wie alle anderen. Seit Kriegsbeginn holen wir uns diese beschädigte Fähigkeit zurück – die Fähigkeit, sich verständlich zu machen. Wir alle versuchen zu erklären: uns selbst, unsere Wahrheit, die Grenzen unserer Verletzlichkeit und Traumatisierung. Vielleicht ist die Literatur hier im Vorteil. Weil sie alle früheren Sprachkatastrophen und -brüche in sich trägt.
Wie soll man über den Krieg sprechen? Wie soll man mit den Intonationen umgehen, in denen so viel Verzweiflung, Wut und Verletzung mitschwingt, zugleich aber auch Stärke und die Bereitschaft, zueinander zu stehen, nicht zurückzuweichen? Ich glaube, das Problem mit der Formulierung der zentralen Dinge liegt derzeit nicht nur bei uns – die Welt, die uns zuhört, tut sich manchmal schwer, eine einfache Sache zu verstehen – dass wir, wenn wir sprechen, ein hohes Maß an sprachlicher Emotionalität, sprachlicher Anspannung, sprachlicher Offenheit zeigen. Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre Emotionen rechtfertigen, aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu erklären. Warum? Schon allein deshalb, damit sie den Zorn und den Schmerz nicht länger allein bewältigen müssen. Wir können uns erklären, wir können beschreiben, was mit uns geschehen ist und weiter geschieht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das kein einfaches Gespräch wird. Aber so oder so müssen wir dieses Gespräch schon heute beginnen.
Wichtig erscheint mir hier, dass sich der begriffliche Gehalt und die Nuancen unseres Vokabulars verschieben. Es geht dabei um die Optik, um die andere Sicht, den anderen Blickwinkel, aber vor allem eben um die Sprache. Manchmal kommt es mir so vor, als würde die Welt, wenn sie beobachtet, was sich da seit sechs Monaten im Osten Europas abspielt, von Wörtern und Begriffen Gebrauch machen, die das, was passiert, schon längst nicht mehr erklären können. Was zum Beispiel meint die Welt – ich weiß um das Irreale und Abstrakte der Bezeichnung, habe sie aber hier bewusst gewählt –, wenn sie den Frieden zu einer Notwendigkeit erklärt? Scheinbar geht es um die Beendigung des Krieges, das Ende der militärischen Konfrontation, um den Moment, wenn die Artillerie schweigt und Stille eintritt. Frieden sollte doch die Sache sein, die uns zur Verständigung führt. Was wollen die Ukrainer denn am meisten? Natürlich die Beendigung des Krieges. Natürlich Frieden. Natürlich die Einstellung der Gefechte. Ich, der ich im Zentrum von Charkiw im achtzehnten Stock wohne und vom Fenster aus beobachten kann, wie die Russen von Belgorod aus Raketen abfeuern, wünsche mir nichts sehnlicher als die Einstellung des Raketenbeschusses, die Beendigung des Krieges, die Rückkehr zur Normalität, zu einem natürlichen Dasein.
Warum werden die Ukrainer dann so oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. Die Zivilbevölkerung in Butscha, Hostomel und Irpen hatte überhaupt keine Waffen. Was die Menschen nicht vor einem furchtbaren Tod bewahrt hat. Die Bewohner von Charkiw, die von den Russen permanent und wüst mit Raketen beschossen werden, haben auch keine Waffen. Was sollten sie denn nach Meinung der Anhänger eines um jeden Preis schnell geschlossenen Friedens tun? Wo sollte für sie die Grenze zwischen einem Ja zum Frieden und einem Nein zum Widerstand verlaufen?
Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Es gibt verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, es gibt zeitweilig besetzte Gebiete, es gibt Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse, aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht. Und wenn manche Europäer (zugegebenermaßen nur ein sehr kleiner Teil) den Ukrainern ihre Weigerung, sich zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus anlasten, tun sie etwas Merkwürdiges – beim Versuch, in ihrer Komfortzone zu bleiben, überschreiten sie umstandslos die Grenzen der Ethik. Das ist keine Frage an die Ukrainer, das ist eine Frage an die Welt, an ihre vorhandene (oder nicht vorhandene) Bereitschaft, um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse zu schlucken.
Appelle an Menschen zu richten, die ihr Leben verteidigen, Opfer zu beschuldigen, Akzente zu verschieben, gute und positive Parolen manipulierend einzusetzen, ist für den einen oder anderen eine ziemliche bequeme Form, die Verantwortung abzuschieben. Dabei ist alles ganz einfach: Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen. Nur ist die uns unter dem Vorwand des Friedens angetragene, sanfte und diskrete Form der Kapitulation nicht der geeignete Weg zu einem friedlichen Leben und zum Wiederaufbau unserer Städte. Vielleicht müssten die Europäer weniger Geld für Energieträger ausgeben, wenn die Ukrainer kapitulierten, aber wie würden sich die Menschen in Europa fühlen, wenn sie sich bewusst machten (woran gar kein Weg vorbeiführt), dass sie ihr warmes Zuhause mit vernichteten Existenzen und zerstörten Häusern von Menschen erkauft haben, die auch in einem friedlichen und ruhigen Land leben wollten?
Es geht hier, das möchte ich noch einmal betonen, um die Sprache. Darum, wie genau und zutreffend die Wörter sind, die wir verwenden, wie markant unsere Intonation, wenn wir über unser Dasein an der Bruchstelle von Leben und Tod sprechen. Inwieweit reicht unser Vokabular – also das Vokabular, mit dem wir gestern noch die Welt beschrieben haben – inwieweit reicht es jetzt aus, um über das zu sprechen, was uns schmerzt oder stark macht? Schließlich befinden wir uns heute alle an einem Punkt des Sprechens, von dem aus wir früher nicht gesprochen haben, wir haben ein verschobenes Wahrnehmungs- und Bewertungssystem, veränderte Bedeutungsbezüge, veränderte Maßstäbe für Angemessenheit. Was von außen, aus der Entfernung, womöglich aussieht wie ein Gespräch über den Tod, ist in Wirklichkeit der verzweifelte Versuch, am Leben, an seiner Existenz und seiner Dauer festzuhalten. Wo in dieser neuen, gebrochenen und verschobenen Wirklichkeit endet denn der Krieg, und wo beginnt der Frieden? Der Kühlwagen mit den Leichen der Gefallenen – geht es da noch um Frieden oder schon um Krieg? Wenn Frauen an Orte gebracht werden, an denen keine Gefechte stattfinden – wofür ist das eine Unterstützung? Für die friedliche Lösung des Konflikts? Das Tourniquet, das du für einen Soldaten gekauft hast und das ihm das Leben rettet – ist das noch humanitäre Hilfe oder schon eine direkte Unterstützung der Kämpfenden? Und wenn du jenen hilfst, die für dich, für die Zivilisten in den Kellern, für die Kinder in der Metro kämpfen, hast du dann die Grenzen eines achtbaren Gesprächs über das Gute und über Empathie überschritten? Müssen wir unser Recht auf Existenz in dieser Welt in Erinnerung rufen, oder ist dieses Recht offensichtlich und unantastbar?
Viele Dinge, Phänomene und Begriffe bedürfen derzeit, wenn nicht einer Erklärung, so doch mindestens einer Erwähnung, einer neuen Darstellung, einer neuen Akzeptanz. Wie immer legt der Krieg offen, was lange Zeit bewusst ignoriert wurde, der Krieg ist die Zeit unangenehmer Fragen und komplizierter Antworten. Dieser Krieg, den die russländische Armee begonnen hat, wirft auch eine ganze Reihe von Fragen auf, die weit über den russländisch-ukrainischen Kontext hinausgehen. Wir werden in den nächsten Jahren nicht umhinkommen, uns über heikle Themen zu verständigen – über Populismus und das Messen mit zweierlei Maß, über Verantwortungslosigkeit und politischen Konformismus, über Ethik, einen Begriff, den man seit langem vergeblich im Vokabular derer sucht, die in der heutigen Welt folgenschwere Entscheidungen treffen. Diese Themen, könnte man sagen, betreffen die Politik, und deswegen müssen wir über Politik reden. Aber Politik ist hier nur ein Deckmantel, ein Schlupfwinkel, eine Gelegenheit, scharfe Kanten zu umgehen und die Dinge nicht klar zu benennen. Dabei erfordern die Dinge genau das: dass man sie klar benennt. Ein Verbrecher ist ein Verbrecher. Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht. In Kriegszeiten klingen Lexemewie diese besonders deutlich und zugespitzt. Man kann ihnen kaum ausweichen, ohne sich zu verletzen. Und man sollte ihnen auch nicht ausweichen, ganz und gar nicht.
Es ist traurig und bezeichnend, dass wir über den Friedenspreis sprechen, während in Europa wieder Krieg herrscht. Der Krieg ist nicht weit von uns entfernt. Und er dauert auch schon etliche Jahre. In all den Jahren, die der Krieg nun schon andauert, ist auch der Friedenspreis verliehen worden. Natürlich geht es hier nicht um den Preis als solchen. Es geht um die Frage, inwieweit Europa bereit ist, sich dieser neuen Wirklichkeit zu stellen – einer Wirklichkeit, in der es zerstörte Städte gibt – mit denen man noch bis vor kurzem wirtschaftlich zusammenarbeiten konnte; einer Wirklichkeit, in der es Massengräber gibt – in denen Menschen aus der Ukraine liegen, die noch gestern zum Einkaufsbummel und Museumsbesuch in deutsche Städte kommen konnten; eine Wirklichkeit, in der es Filtrationslager für gefangen genommene Ukrainer gibt – Lager, Besatzung, Kollaborateure sind wohl kaum Wörter, von denen die Europäer in ihrer alltäglichen Sprache Gebrauch machen. Und es geht auch darum, wie wir alle in dieser neuen Wirklichkeit weiterleben – mit den zerstörten Städten, den ausgebombten Schulen, den vernichteten Büchern. Und vor allem mit den Tausenden Toten, mit denen, die noch gestern ein friedliches Leben geführt und Pläne geschmiedet, ihre täglichen Sorgen bewältigt und sich auf ihre eigene Erinnerung gestützt haben.
Über die Erinnerung zu sprechen, ist auch wichtig, und zwar aus folgendem Grund. Krieg bedeutet nicht einfach eine andere Erfahrung. Wer das behauptet, spricht nur über das Oberflächliche, über das, was offensichtlich ist, das, was nur beschreibt, aber wenig erklärt. Der Krieg verändert unser Gedächtnis und füllt es mit äußerst schmerzhaften Erlebnissen, äußerst tiefen Traumata und äußerst bitteren Gesprächen. Du kannst diese Erinnerungen nicht tilgen, du kannst die Vergangenheit nicht korrigieren. Von nun an ist sie Teil deiner selbst. Und natürlich nicht der beste Teil. Das Stocken und Wiedereinsetzen des Atems, die Erfahrung des Verstummens und der Suche nach einer neuen Sprache – dieser Prozess ist zu schmerzhaft, als dass du jetzt noch unbekümmert über die herrliche Welt da draußen sprechen könntest. Natürlich ist Dichtung nach Butscha und Isjum weiterhin möglich, ja, sie ist sogar notwendig. Aber der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen. Das ist die schmerzliche und zugleich unabdingbare Vergegenwärtigung, dass Massengräber und zerbombte Wohnviertel von nun an den Resonanzraum für die in deinem Land verfassten Gedichte bilden – das vermittelt natürlich nicht gerade Optimismus, aber ein Verständnis dafür, dass die Sprache unseres täglichen Wirkens, unserer täglichen Berührung, unserer täglichen Zuwendung bedarf. Was haben wir denn, um uns zu äußern, um uns zu erklären? Unsere Sprache und unsere Erinnerung.
Seit Ende Februar, seit dem Beginn des Massakers also, ist sehr deutlich zu spüren, wie die Zeit ihre normale Dimension, ihren Lauf verliert. Sie ähnelt jetzt einem Winterfluss, der bis auf den Grund durchfriert, sein Fließen einstellt und alle lähmt, die in diesen erstarrten Strom geraten sind. Wir stecken in dieser dichten Erstarrung, in der kalten Nicht-Zeit. Ich kann mich sehr gut an diese Hilflosigkeit erinnern – du spürst keine Regung, du verlierst dich in der Stille und kannst nicht erkennen, was da ist, vor dir, im Dunkel und in der Stille. Die Zeit des Krieges ist wirklich eine Zeit des verzerrten Panoramas, der abgerissenen Kommunikation zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine Zeit der äußerst scharfen und bitteren Wahrnehmung der Gegenwart, ein Versinken in dem Raum, der dich umgibt, eine Konzentration auf den Augenblick, der dich ausfüllt. Das sind durchaus Anzeichen von Fatalismus, du hörst auf, Pläne zu machen und an die Zukunft zu denken, du versuchst zuallererst, dich in der Gegenwart zu verwurzeln, unter diesem Himmel, der sich über dir wölbt und allein daran erinnert, dass die Zeit eben doch vergeht, dass Tag und Nacht wechseln, dass der Sommer dem Frühling folgt und dass das Leben trotz der Lähmung deiner Gefühle, trotz aller Starre weitergeht, dass es nicht einen Moment lang innehält und all unsere Freuden und Ängste, all unsere Verzweiflung und Hoffnung aufnimmt. Es hat sich einfach der Abstand zwischen dir und der Wirklichkeit verändert. Die Wirklichkeit ist jetzt näher. Die Wirklichkeit ist jetzt schrecklicher. Damit müssen wir leben.
Was ist da noch außer Sprache und Erinnerung? Was hat sich an uns noch verändert? Was hebt uns jetzt aus jeder Gemeinschaft, aus jeder Menge heraus? Vielleicht die Augen. Sie fangen das äußere Feuer ein und haben von nun an immer diesen Widerschein. Der Blick eines Menschen, der über das Sichtbare hinaus geschaut, in die Dunkelheit geblickt und dort sogar etwas erkannt hat – dieser Blick ist für immer anders, denn darin spiegeln sich allzu bedeutsame Dinge.
Im Frühling, irgendwann im Mai, fuhren wir für einen Auftritt zu einer Armeeeinheit, die nach langen schweren Gefechten eine Kampfpause hatte. Wir kennen die Einheit schon lange, seit 2014 sind wir dort regelmäßig aufgetreten. Ein Charkiwer Vorort, frisches Grün, ein Fußballplatz, eine kleine Aula. Viele Kämpfer kennen wir persönlich. Viele Menschen, alte Freunde, Leute aus Charkiw sind in diesem Frühjahr an die Front gegangen. Es ist ungewohnt, sie in Uniform und mit einer Waffe in der Hand zu sehen. Und noch ungewohnter ist es, ihre Augen zu sehen – wie erstarrtes Metall, wie Glas, das Feuer spiegelt. Der große Krieg dauerte schon zwei Monate, sie alle hatten schon in den Schützengräben unter russischem Beschuss gesessen. Jetzt standen sie hier, lächelten und rissen Witze. Mit diesen Augen, in denen man zwei Monate Hölle lesen konnte. "Ich habe es schon bis ins Lazarett geschafft", erzählt einer. "Die Russen haben Phosphorbomben abgefeuert, mich hat‘s erwischt. Halb so wild, bin gesund und munter. Bald geht’s zurück an die Front." In so einem Moment weißt du nicht, was du sagen sollst – die Sprache lässt dich im Stich, die Sprache genügt nicht, die passenden Worte müssen erst noch gefunden werden. Und sie werden sich finden.
Wie wird unsere Sprache nach dem Krieg aussehen? Was werden wir uns gegenseitig erklären müssen? Vor allem müssen wir die Namen der Toten laut aussprechen. Die Namen müssen genannt werden. Sonst kommt es zu einer tiefen Zerrissenheit in der Sprache, zu einer Leere zwischen den Stimmen, zu einem Bruch in der Erinnerung. Wir werden viel Kraft und Glauben brauchen, um über unsere Gefallenen zu sprechen. Denn aus ihren Namen werden unsere Wörterbücher entstehen. Doch ebenso viel Kraft, Selbstvertrauen und Liebe werden wir brauchen, um über die Zukunft zu sprechen, sie zu vertonen, sie zu versprachlichen, sie zu beschreiben. So oder so müssen wir unser Gefühl für Zeit, unser Gefühl für die Perspektive, unser Gefühl für Dauer wiederherstellen. Wir sind zur Zukunft verdammt, ja, wir sind sogar für sie verantwortlich. Sie entsteht jetzt aus unseren Visionen, aus unseren Überzeugungen, aus unserer Verantwortungsbereitschaft. Wir werden uns das Gefühl für unsere Zukunft zurückholen, denn in unserer Erinnerung überdauert vieles, was morgen unsere Mitwirkung erfordert. Wir alle sind Teil von diesem Strom, der uns trägt, uns nicht loslässt, uns verbindet. Wir alle sind über unsere Sprache verbunden. Und auch wenn es einen Moment lang scheinen mag, als wären die Möglichkeiten der Sprache begrenzt oder unzureichend, werden wir uns wohl oder übel doch ihrer Mittel bedienen müssen, die uns hoffen lassen, dass in Zukunft keine unausgesprochenen Dinge oder Missverständnisse zwischen uns stehen. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Selbst wenn unsere Kehle von den Wörtern wund wird. Selbst wenn du dich von den Wörtern verlassen und leer fühlst. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe