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Analyse: Welche Rolle ein "Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine" für die Opfer des Krieges spielen könnte | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Welche Rolle ein "Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine" für die Opfer des Krieges spielen könnte Ukraine-Analysen Nr. 272

Oksana Senatorova Regensburg) Von Oksana Senatorova (Nationale Jaroslaw-Mudryj-Rechtsuniversität Charkiw; Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung

/ 16 Minuten zu lesen

In diesem Beitrag werden Szenarien für ein Sondertribunal aufgezeigt, das den Opfern des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ein Recht auf Wiedergutmachung einräumen könnte.

Zusammenfassung

Im Zusammenhang mit der russischen Invasion in die Ukraine werden aktuell unterschiedliche Optionen diskutiert, wie die militärische Aggression Russlands juristisch aufgearbeitet und sanktioniert werden kann. Dabei nehmen Überlegungen über ein "Sondertribunal" nach Vorbild der "Nürnberger Prozesse" eine wichtige Rolle ein. Welche Möglichkeiten würde solch ein "Sondertribunal" bieten und worin liegen die Herausforderungen der juristischen Sanktionierung?

Am 24. Februar 2022 begann die "militärische Spezialoperation" Russlands in der Ukraine. Die Reaktion der Welt erfolgte unmittelbar: Nahezu alle Länder verurteilten die Invasion als einen Akt der Aggression. Das gilt übrigens auch für Belarus, das durch die Beihilfe gemäß Art. 3 Abs. f) der Resolution Nr. 3341 der UN-Vollversammlung ebenfalls als Aggressor einzustufen ist.

In Wirklichkeit begann die Aggression Russlands bereits acht Jahre früher, am 27. Februar 2014, als russische Streitkräfte die ukrainische Halbinsel Krim besetzten, was einen internationalen bewaffneten Konflikt auslöste. Dieser Konflikt setzte sich in den Regionen Luhansk und Donezk – dem ukrainischen Donbas – fort, wo irreguläre bewaffnete Einheiten, die von der Russischen Föderation kontrolliert wurden, öffentliche Gebäude besetzten und eine stellvertretende Besatzung vollzogen. Gleichzeitig beschossen russische Streitkräfte von russischem Territorium aus regelmäßig grenznahe ukrainische Städte und unternahmen Vorstöße in die Ukraine, um an der Seite der irregulären bewaffneten Formationen zu kämpfen.

Daher ist der jetzige Krieg eine weitere Eskalation im russisch-ukrainischen Konflikt, der mit der Besetzung der Krim begann, sich dann in die Ostukraine ausweitete, und jetzt die Phase einer offenen Invasion und von Angriffen auf das gesamte Territorium der Ukraine erreicht hat. Weder gibt es zwei voneinander getrennte Konflikte, noch gibt es parallel einen internationalen und einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Daraus ergibt sich, dass in diesem Konflikt die strafrechtliche Zuständigkeit hinsichtlich des Verbrechens der Aggression und anderer völkerrechtswidriger Verbrechen spätestens mit dem 27. Februar 2014 beginnt.

In diesem Krieg haben Russland und seine Stellvertreter seit Beginn des Konflikts zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen (Externer Link: ICC Office of the Prosecutor Report on Preliminary Examination Activities 2020, Abs. 278–281). Allerdings hat sich der Charakter der russischen Kriegsverbrechen seit Beginn der großangelegten Invasion am 24. Februar 2022 erheblich gewandelt. In dieser neuen Phase haben russische Streitkräfte vorsätzlich Zivilist:innen in den besetzten Gebieten getötet, gefoltert, erzwungenermaßen verschwinden lassen, haben bewusste und wahllose Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur unternommen, mehrstöckige Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen und Objekte des Kulturerbes beschossen, die Hungersituation der Zivilbevölkerung als Kriegsmittel eingesetzt, in den neu besetzten Gebieten die Zivilbevölkerung terrorisiert, vergewaltigt und sexualisierte Gewalt eingesetzt, haben Zwangsdeportationen von Zivilist:innen aus den neu besetzten Gebieten nach Russland vorgenommen, vor allem über Filtrationslager in der Nähe zur ukrainischen Grenzen. Zudem sind Tausende Kinder deportiert worden (Externer Link: OSCE Moscow Mechanism Report On Violations of International Humanitarian and Human Rights Law, War Crimes and Crimes Against Humanity Committed in Ukraine Since 24 February 2022).

Das Verbrechen der Aggression wurde von den russischen Machthabern begangen, die die russische Aggression nach dem 27. Februar 2014 und in deren neuer Phase seit dem 24. Februar 2022 geplant, vorbereitet, angeordnet bzw. durchgeführt haben. Der erwähnte OSZE-Bericht kommt zu dem Schluss: "Russland ist der Aggressor und somit verantwortlich für das menschliche Leid in der Ukraine, ganz gleich ob es sich aus Verletzungen des humanitären Völkerrechts ergibt, und selbst wenn es unmittelbar durch die Ukraine verursacht wurde, weil das nicht erfolgt wäre, wenn sich die Ukraine nicht gegen die Invasion Russlands hätte verteidigen müssen." (S. 5). Das bedeutet, dass das Leid der Bevölkerung aufgrund des Beschusses und der Bombardierungen erfolgt (und seien diese auch gegen militärische Ziele gerichtet), aufgrund der zerstörten Häuser, des Verlusts von Wohnraum, der Notwendigkeit zu kämpfen und im Kampf zu sterben, den Wohnort zu verlassen (mehr als 13 Millionen Ukrainer*innen Externer Link: sind geflüchtet), aufgrund des Wegfalls normaler Bildung, normaler Gesundheitsversorgung und von Arbeitsplätzen – all das sind Folgen des Verbrechens der Aggression, das all die Jahre verübt, der Weltöffentlichkeit aber erst nach dem 24. Februar 2022 sichtbar wurde.

Der rechtliche Rahmen

Das Verbot von Aggression ist ein Pfeiler der internationalen Ordnung. Es ist als Regel des ius cogens (zwingenden Rechts) für alle Staaten bindend, und eine Verletzung kann von jedem Staat angezeigt werden, nicht nur von dem Staat, der unmittelbar zum Opfer wurde. Jeder Staat muss auf eine Aggression reagieren, indem gegen die Führung des Landes, das die Aggression unternimmt, strafrechtlich vorgegangen und der Staat nach internationalem Recht zur Verantwortung gezogen wird. ImBarcelona Traction -Fall hat der Internationale Gerichtshof (IGH) das Verbot der Aggression als erstes Beispiel einer solchen Pflicht erga omnes ("für alle") Externer Link: aufgeführt.

Die Tribunale in Nürnberg und Tokio waren praktisch die ersten und einzigen Gerichte, die Personen, die Verbrechen gegen den Frieden begangen hatten, zur Verantwortung zogen. Die Externer Link: Nürnberger Prinzipien, die als Teil des Völkergewohnheitsrecht verabschiedet wurden, ordneten Verbrechen gegen den Frieden (Prinzip VI(a)) als völkerrechtlich strafbar ein, doch haben sich die Vereinten Nationen (UN) bei der Verhinderung von Aggression als nicht sonderlich effektiv erwiesen. Die UN-Charta sieht zwar ein System der kollektiven Sicherheit vor. Die fünf ständigen Mitglieder (P5) des UN-Sicherheitsrates (UNSC) Russland, die USA, Großbritannien, Frankreich und China sind allerdings "gleicher" als andere UN-Mitglieder und haben ein Vetorecht, mit dem sie Entscheidungen gegen sich selbst blockieren können – und damit den kollektiven Sicherheitsmechanismus des UNSC untergraben. Die Externer Link: Resolution 3314 (XXIX) "Definition der Aggression" der UN-Vollversammlung von 1974 wurde zwar vom Internationalen Gerichtshof als Norm des Völkerrechts Externer Link: anerkannt, wurde aber nicht zu einem allgemeinen Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens der Aggression weiterentwickelt, das eine klare Mitgliederschaft oder Mechanismen zur Anmahnung von Verantwortung und einer Umsetzung vorsehen würde.

Die Resolution wurde als Grundlage genommen, um im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Aggression unter Strafe zu stellen. Aber selbst dort dient es nicht dem Prinzip der universalen Zuständigkeit, der eineerga omnes -Pflicht zugrunde liegt. Mehr noch: Die Zuständigkeit des IStGH ist bei Verbrechen der Aggression stärker begrenzt als bei anderen Verbrechen. Sie kann nur dann zum Zuge kommen, wenn der Staat, dessen Führung ein Verbrechen der Aggression begangen hat, sich dem Römischen Statut angeschlossen hat (was bei Russland und Belarus nicht der Fall ist), oder wenn der Sicherheitsrat die Situation dem IStGH zuweist, was wegen des erwähnten Vetos nicht möglich ist. Das ist Folge eines Kompromisses, der so zu beschreiben wäre: "Wie kann Aggression ein Tatbestandteil des Völkerstrafrechts sein, ohne dass die Führer der Großmächte dann belangt werden". Die gesamte internationale Gemeinschaft und – wichtiger noch – die Opfer der Aggression gegen die Ukraine sind Geiseln dieser juristischen Frage. Für die Opfer dieses blutigen Krieges in der Ukraine und zum Wohle zukünftiger Generationen ist es erforderlich, jede Anstrengung zu unternehmen, um sicherzustellen, dass dieses Problem nicht zu einem Patt führt, wie es nach dem russisch-moldauischen Krieg 1990–1992, den russisch-georgischen Kriegen 1992–1993 und 2008 sowie seit 2014 während des aktuellen Konflikts der Fall war und ist.

Reaktionen auf die Aggression Russlands

Das Europäische Parlament verabschiedete am 1. März 2022 eine Externer Link: Resolution, in der es "aufs Schärfste den rechtswidrigen, unprovozierten und ungerechtfertigten militärischen Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine und ihren Einmarsch in das Land sowie die Beteiligung von Belarus an dieser Aggression" verurteilt.

Am 2. März 2022 kam die Vollversammlung der UNO wegen der Handlungsblockade des Sicherheitsrates zu einer Sondersitzung nach dem "Externer Link: Uniting for Peace"-Mechanismus zusammen. Externer Link: 141 Mitglieder (von 193) stimmten für eine Externer Link: Notstandsresolution, die "die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine" aufs Schärfste verurteilt. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ruft in ihrer Resolution vom 28. April 2022 unter dem Titel "Externer Link: The Russian Federation’s aggression against Ukraine: ensuring accountability for serious violations of international humanitarian law and other international crimes" alle Mitgliedsstaaten des Europarates und Länder mit Beobachterstatus dazu auf, "dringend einen internationalen ad hoc-Strafgerichtshof einzusetzen".

Außerdem wird aktuell diskutiert, ein Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine zu schaffen, damit Mitglieder der russischen Führung strafrechtlich zu Verantwortung gezogen werden können.
Die unzureichende Zuständigkeit des IStGH hat die Wissenschaft und Politik dazu bewegt, alternative Wege zur Beseitigung dieser Lücke zu beschreiten, die der Straflosigkeit begünstigt. Hierzu sind folgende zu zählen:

  1. Änderungen am Römischen Statut des IStGH;

  2. Ausschluss Russlands vom Vetorecht der P5 im UN-Sicherheitsrat, damit dieser die Situation an den IStGH verweisen kann, und zwar mit Hilfe einer Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs hinsichtlich möglicher Beschränkungen des Vetorechts;

  3. Überweisung des Falls einer Aggression an den IStGH durch die UN-Vollversammlung im Rahmen desUniting for Peace -Mechanismus;

  4. Einrichtung einesSondertribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine durch einen internationalen Vertrag oder einen Vertrag zwischen der UNO und der Ukraine oder einen Vertrag per abschließender Bestätigung durch die UN-Vollversammlung;

  5. Einrichtung eines Sondertribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine durch eine Entschließung der UN-Vollversammlung im Rahmen des Uniting for Peace -Mechanismus;

  6. Einrichtung eines regionalen Tribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine unter der Ägide des Europarats;

  7. Einrichtung eines hybriden Tribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine im Rahmen eines Vertrags zwischen dem Europarat und der Ukraine;

  8. Einrichtung eines hybriden Tribunals zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine im Rahmen eines Vertrags oder aufgrund einer Resolution der UN-Vollversammlung;

  9. Über innerstaatliche Rechtsprechung der Ukraine in Ausübung ihrer territorialen Jurisdiktion (ist bereits auf dem Weg);

  10. innerstaatliche Rechtsprechung in anderen Ländern nach dem "Weltrechtsprinzip" (14 Staaten verfolgen beretis internationale Straftaten, die in der Ukraine begangen wurden, darunter auch Deutschland);

  11. innerstaatliche Zuständigkeit gemäß einem internationalen Abkommen zwischen mehreren Staaten.

Die Liste dieser möglichen Reaktionen ist nicht abschließend. Jede der genannten Optionen hat ihre Vor- und Nachteile. Klar ist, je einflussreicher ein Forum ist, das dieses Verbrechen der Aggression gerichtlich bewertet, desto mehr Staaten werden es unterstützen. Und je effizienter die internationale Zusammenarbeit ausfällt, desto mehr kann bei der Verhinderung zukünftiger Aggressionen erreicht werden. Das wichtigste ist, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Weltgemeinschaft hier und jetzt reagieren muss und nicht erst das Ende des bewaffneten Konflikts abwarten darf, weil der Zweck eines Sondertribunals nicht die Durchführung eines Siegerprozesses ist, sondern ein fairer Prozess, bei dem die Opfer im Mittelpunkt stehen. Die Einrichtung eines Tribunals, das sich auf die Vertretung und Entschädigung der Opfer konzentriert könnte die beste Antwort sein, und es könnte schon jetzt umgesetzt werden.

Die Bedeutung des Sondertribunals für die Opfer dieses Krieges

Bei der Erörterung von Gegenmaßnahmen als Reaktion auf das Verbrechen der Aggression, das von den Entscheidungsträgern in Russland und Belarus begangen wurde, sollte man bei der Frage ansetzen, wie die internationale Gemeinschaft und die Ukraine die Mission eines solchen Tribunals auffassen. Der IStGH hat Untersuchungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eines möglichen Völkermords aufgenommen. Die Ukraine und andere Länder werden die begangenen Gräueltaten strafrechtlich verfolgen. Werden aber die Opfer dieser Aggression zufriedengestellt, wenn der IStGH nach einer beträchtlichen Zeit einige Personen zur Verantwortung zieht? Wie viele Personen werden durch internationale oder ukrainische Gerichte eine unmittelbare Entschädigung erhalten? Wir wissen alle, dass es nicht viele sein werden.

Es ist auch so, dass nicht nur jene, die direkte Kriegs- oder andere völkerrechtliche Verbrechen erleiden mussten, Opfer dieses Angriffskrieges sind, auch wenn bereits deren Zahl in der Ukraine in die Zehntausende geht. Millionen Ukrainer*innen haben unter den Folgen dieses bewaffneten Konflikts zu leiden, etwa aufgrund von Beschuss und Bombardierung, durch Verletzungen und den Tod von Angehörigen, die in der Armee kämpfen. Und sie haben die Folgen legitimer und illegitimer Angriffe zu spüren bekommen, die zivile Objekte und Infrastruktur beschädigten. Von diesen Menschen werden nicht alle als Opfer ernster Verletzungen der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts betrachtet werden, und können somit nicht auf Entschädigung durch den IStGH oder nationale Gerichte hoffen. Nach dem Rückzug Russlands aus dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), kann man auch bei diesem Mechanismus nicht auf wirksame Rechtsmittel hoffen. Also könnte ein mögliches ad hoc -Tribunal zum Verbrechen der Aggression ein adäquates Mittel sein, welches die Opfer der Aggression an den Verfahren beteiligt, ihnen eine Bühne böte, auf der ihre Stimmen gehört würden und wo sie Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden fordern könnten.

Ein wichtiges Argument für die Einrichtung eines Sondertribunals zum Verbrechen der Aggression besteht darin, dass in den nationalen Jurisdiktionen Schutzmittel für Opfer einer Aggression fehlen. Nationale Rechtsprechungen schützen keine Personen, die keine Verletzungenin concreto des humanitären Völkerrechts erlitten haben, da das Entstehen eines bewaffneten Konflikts als solcher (ius ad bellum ) außerhalb des humanitären Völkerrechts liegt (ius in bello ), und letzteres sich nicht mit der Unrechtmäßigkeit des Konflikts an sich befasst.

Das erklärt sich durch das Fehlen angemessener internationaler Instrumente zum Schutz von Opfern einer Aggression, sei es durch Verträge oder rechtlich nicht bindende Regelungen (soft law ). Das vertraglich gefasste Völkerrecht weist keine Definition des Begriffs "Opfer eines bewaffneten Konflikts" auf, auch nicht die einer "Person, die die Folgen eines bewaffneten Konflikts erlitten hat". Gleichzeitig arbeitet eine Reihe von Dokumenten mit dem Begriff "Opfer", der im Singular oder Plural in verschiedenen Kontexten und unterschiedlichen Bereichen des Völkerrechts auftaucht, insbesondere dem internationalen Menschenrechtsschutz, dem internationalen Strafrecht, dem humanitären Völkerrecht, dem Recht zur Verhinderung eines Krieges (ius contra bellum) und allgemein dem Recht über die internationale Verantwortung von Staaten. Die Normen all dieser Bereiche des Völkerrechts wirken parallel, manchmal einander ergänzend, öfter jedoch – aufgrund der Fragmentierung des Völkerrechts – sich widersprechend.

Vor kurzem erst sind einige nicht zwingende Rechtsinstrumente aus dem Bereich der Transitional Justice entwickelt worden, doch betreffen sie alle "Opfer grober Verletzungen des humanitären Völkerrechts und schwerer Verletzungen des humanitären Völkerrechts" sowie "Opfer bewaffneter Konflikte", nicht aber "Opfer einer Aggression". Die "Erklärung Internationaler Rechtsprinzipien zur Entschädigung von Opfern eines bewaffneten Konflikts" ("Declaration of International Law Principles on Reparation for Victims of Armed Conflict (Substantive Issues)", die 2010 vom Ausschuss für die Entschädigung von Opfern bewaffneter Konflikte bei derInternational Law Association entwickelt wurde, schließt die Möglichkeit einer Entschädigung für Opfer aus, die unter einem Akt der Aggression gelitten haben [Art. 3(2)(c)], auch wenn dies für die Zukunft nicht ausgeschlossen wird. Der Prozess der Einrichtung eines ad hoc-Tribunals könnte für die Ausarbeitung einer Definition von "Opfern einer Aggression" wie ein Katalysator wirken, wie auch für deren Kategorisierung, für die Definition von "Schaden durch das Verbrechen einer Aggression" und die Reichweite der Opferrechte. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, nicht an die Opferdefinition gebunden zu sein, wie sie in den Verfahrens- und Beweisregeln des IStGH festgeschrieben ist, sondern dessen passendste Bestimmungen und Rechtsprechungen zu nutzen.

Bislang gibt es ungeachtet einer breiten Diskussion kein klares Verständnis zur Definition der Opfer einer Aggression:

  1. Es gibt die verbreitete Auffassung, dass es weniger um Staaten geht als vielmehr um natürliche Personen und möglicherweise juristische Personen / Organisationen / Institutionen. Bei dem Opferstaat handelt es sich in diesem Fall um die Ukraine. Sollte sie in einem internationalen Strafverfahren oder bei einer Entschädigungsklage vor einem Sondertribunal als Opfer betrachtet werden? Ich teile diese Ansicht nicht, und zwar deshalb, weil es für Staaten andere Entschädigungsoptionen gibt. Bis zur Einrichtung des IStGH konnten Individuen kein Gehör finden; sie erhielten nach zwei Weltkriegen keine direkte Entschädigung – es gab lediglich Reparationszahlungen zwischen den Staaten.

  2. Die große Frage ist, welcher Kreis natürlicher Personen in Frage kommt und zu welcher Seite sie gehören. Sollten nur Bürger:innen und/oder Resident:innen des Opferstaates als Opfer anerkannt werden, oder sollte das auch jene Russ:innen und Belarus:innen umfassen, die wegen ihres Engagements gegen die Aggression gelitten haben? Diejenigen, die sich im Aggressorstaat dem Krieg entgegenstellen, sind ganz gewiss Opfer des autoritären Regimes. Angesichts von breit angelegten und systematischen Angriffen gegen sie können sie als Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten. Im Falle möglicher ukrainischer Angriffe auf russisches Territorium sollten die Betroffenen als Opfer von Kriegsverbrechen gelten, falls das humanitäre Völkerrecht ernstlich verletzt wird. Darüber hinaus sind sie aber, wenn sie direkt unter legitimen Angriffen der ukrainischen Armee gelitten haben, auch Opfer der Aggression Russlands. In der Diskussion ist es offen, ob sie dazugehören sollten.

Sollten ukrainische Kämpfer dazugehören? Solange wir das ius ad bellum , und nicht das ius in bello anwenden, lautet die Antwort "Ja", sie sind unmittelbar Opfer. Sollten die russischen Stellvertreter – Bürger:innen der Ukraine bzw. der sogenannten Volkrepubliken Donezk und Luhansk – dazugehören? Bedenkt man, dass einige von ihnen als Wehrpflichtige eingezogen wurden und sich Befehlen nicht widersetzen konnten, träfe das für sie zu. Was zu einer anderen Frage führt: Sollten russische Kämpfer dazugehören? Ich meine, dass diejenigen, die aufgrund eines Vertrages kämpfen, ausgeschlossen werden sollten. Wenn jedoch jemand als Wehrpflichtiger mobilisiert wurde, wird es um die Frage gehen, welcher Bereich des Völkerrechts als lex specialis gilt, das humanitäre Völkerrecht mit seiner "Legalisierung von Tötung", das ius contra bellum mit seinem blinden Fleck hinsichtlich natürlicher Personen oder das Völkerrecht zu Menschenrechten, das in der Externer Link: Allgemeinen Bemerkung Nr. 36 des UN-Menschenrechtsausschusses zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte feststellt, dass "Vertragsstaaten, die einen Angriffskrieg führen, wie er völkerrechtlich definiert ist, der zum Verlust an Menschenleben führt, […] ipso facto Artikel 6 des Paktes" verletzen.

Wie steht es mit juristischen Personen oder Organisationen/Institutionen, die diesen rechtlichen Status nicht haben? Punkt 85 der Verfahrens- und Beweisregeln des IStGH und die Rechtsprechung des IStGH wenden diese Regel an. In der Praxis muss eine Organisation folgende Kriterien erfüllen, um als Opfer zu gelten:
1) sie muss ihre Eigenschaft als Organisation belegen;
2) die Person, die im Namen der Organisation /Institution agiert, muss zeigen, dass sie berechtigt ist, die Organisation/Institution zu vertreten;
3) die Person, die im Namen der Organisation /Institution agiert, muss ihre Identität belegen;
4) die Organisation/Institution muss unmittelbar betroffen sein; und
5) der erlittene Schaden in Folge eines Ereignisses muss in den Bereich der bestätigten Klage fallen (IStGH:Al Mahdi , 8. Juni 2016, Abs. 23).

Das Sondertribunal könnte diesen Ansatz übernehmen. Wiederum besteht die Frage nach der Seite (Ukraine / Russland) und der Registrierung / Zugehörigkeit (ukrainisches oder ausländisches Unternehmen).

Die gleiche Unschärfe trifft auf die Definition von Schäden durch das Verbrechen der Aggression zu, auch wenn hier die rechtlichen Instrumente und die Rechtsprechung des IStGH hilfreich sind; darüber hinaus kann auch das nicht zwingende Recht der Transitional Justice sehr hilfreich sein. Wie aus dem oben zitierten OSZE-Bericht hervorgeht, können sogar durch Handlungen der Ukraine verursachte Schäden als Folgen der russischen Aggression gelten, wenn sie mit dem bewaffneten Konflikt zusammenhängen.

Ein weiter Diskussionsgegenstand besteht in der Frage, welche Finanzquellen für Reparationen gewählt werden sollten. Hier kommen die Vermögen der vom Tribunal verurteilten Schuldigen, beschlagnahmte Besitztümer der Russischen Föderation, sowie Spenden von internationalen Organisationen und staatlichen oder privaten Stiftungen in Betracht. Je mehr Finanzquellen, umso besser für die Opfer.

Auch sollten die Präzedenzfälle beachtet werden, bei denen Opfer internationaler bewaffneter Konflikte direkte Entschädigungen erhalten haben, also die Praxis der ad hoc -Entschädigungsmechanismen, auch wenn jeder Fall für sich steht. So hat 1991 die Resolution 687 des UN-Sicherheitsrates die völkerrechtliche Verantwortung und Haftung des Irak festgestellt, da dieser "für alle unmittelbaren Verluste, Schäden – einschließlich Umweltschäden und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen – und sonstigen Beeinträchtigungen haftet, die fremden Regierungen, Staatsangehörigen und Unternehmen als Folge der unrechtmäßigen Invasion und Besetzung Kuwaits durch Irak entstanden sind". Mit dieser Resolution wurde die Externer Link: Entschädigungskommission der Vereinten Nationen (UNCC) eingerichtet. Wenn man diesen Präzedenzfall mit der russischen Aggression gegen die Ukraine vergleicht, ist zu beachten, dass der UN-Sicherheit im Unterschied zu heute die Aggression des Irak gegen Kuweit festgestellt und eine Friedensmission auf dem Gebiet des Irak auf den Weg gebracht hatte. Nach Erzwingung des Friedens wurde das Land zu Entschädigungen für die Aggression verpflichtet. Ein weiterer Präzedenzfall war die Ethiopia-Eritrea Claims Commission (EECC), die 2000 durch das Waffenstillstandsabkommen von Algier eingerichtet wurde. Diese sah ebenfalls Entschädigungen für die Verletzung des ius ad bellum vor. Beachtet werden sollte auch, dass diese beiden Mechanismen erst nach der Beendigung des bewaffneten Konflikts geschaffen wurden. Dem gegenüber streben wir eine umgehende Einrichtung eines Sondertribunals an.

Fazit

Ein zukünftiges Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression sollte opferorientiert sein. Millionen Menschen leiden unter Russlands Akt der Aggression. Von ihnen werden nur einige wenige vor dem IStGH und vor nationalen Gerichten als Opfer von Verletzungen international anerkannter Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts gelten. Sie können dort aber nicht auf Entschädigungen hoffen. Da Russland den EGMR missachtet und sich aus dem Europarat zurückgezogen hat, haben die Opfer auch hier keine Aussicht auf wirksame Rechtsmittel.

Das zukünftige ad hoc -Tribunal könnte zu einem grundlegenden Rechtsmechanismus werden, an dem Opfer dieses Verbrechens beteiligt wären, Gehör fänden und auf Entschädigung für ihr Leid und ihre Schäden klagen könnten. Bei der Schaffung des Tribunals sollte ein besonderer Entschädigungsmechanismus bzw. -verfahren vorgesehen sein. Gleiches gilt für die Definition des Begriffs "Opfer" und der Kategorien von Opfern der Aggression. Ebenso muss der Umfang ihrer Rechte festgelegt werden. Ein sui generis -Ansatz ist möglich, wodurch man nicht an die Opferdefinition in den Verfahrens- und Beweisregeln des IStGH gebunden wäre, und stattdessen nur gut anwendbare Bestimmungen und Elemente der Rechtsprechung übernähme.

Eine weitere wichtige Mission des Tribunals besteht darin, eine glaubwürdige Abschreckung und Strafbewehrung des Verbrechens der Aggression zu schaffen. In den letzten Jahrzehnten, in denen die Russische Föderation mehrfach Gebiete von Nachbarländern besetzte, ist diese Verletzung der Regeln des ius cogens von der internationalen Gemeinschaft hingenommen worden. Der blockierte UN-Sicherheitsrat, die enggefassten Zuständigkeiten des Internation Gerichtshofes und des IStGH, wie auch die frustrierenden Präzedenzfälle bei anderen Großmächten, deren Anwendung von Gewalt ohne Konsequenzen blieb, haben dafür gesorgt, dass die russische politische Führung für ihre Akte der Aggression nicht zur Verantwortung gezogen wird. "Aggression ist ein Nährboden für andere völkerrechtliche Verbrechen", sagte Benjamin Ferencz, der letzte noch lebende Ankläger des Nürnberger Tribunals. Die ganze Welt sieht seine Worte in Butscha, Kramatorsk, Charkiw und vielen anderen Städten der Ukraine bestätigt.

Die Völker der Welt, die demokratischen Nationen, sollten an das Verbot der Aggression durch das ius cogens erinnern. Und sie sollten die erga omnes- Pflicht zur Verfolgung der Aggression jetzt erfüllen, bevor es für die Menschheit zu spät ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Der Text basiert auf einem Vortrag auf der internationalen Konferenz "Strafrechtliche Verantwortung für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine: Welche Optionen gibt es für Gerechtigkeit? " vom 6. Mai 2022 in Vilnius. URL: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=nf0n4VXqR8w

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Oksana Senatorova ist Direktorin des "Forschungszentrums für Transitional Justice" (RCTJ) und Associate Professorin an der Nationalen Jaroslaw-Mudryj-Rechtsuniversität Charkiw; sie hat eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg inne, die von der Volkswagen-Stiftung finanziert wird.