Die letzte Ausgabe der Ukraine-Analysen vor der Sommerpause beschäftigt sich mit einem äußerst schwierigen und komplexen Thema: der Dokumentation und Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.
Die mediale Berichterstattung über Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung eines Landes hat mit dem Beginn des Krieges in Syrien 2011 und nun mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine bisher unbekannte Intensität und Unmittelbarkeit erreicht; vor allem in den sozialen Medien. Um Objektivität bemüht, ist in der journalistischen Berichterstattung häufig von "mutmaßlichen Kriegsverbrechen" die Rede, da diese vor dem Hintergrund akuter Kampfhandlungen oftmals nicht unmittelbar von unabhängiger Seite verifiziert werden können.
Die juristische Dokumentation und Analyse von Kriegsverbrechen ist aufwendig und braucht Zeit – doch wie genau werden auf dem Gebiet der Ukraine seit 2014 Beweise gesammelt, ausgewertet und analytisch so aufbereitet, dass sie vor nationalen und internationalen Gerichten Verwendung finden können? Vor welchen Herausforderungen sehen sich ukrainische Jurist:innen aktuell und welche Fragen diskutieren sie mit ihren Kolleg:innen auf nationaler und internationaler Ebene?
Diese Ausgabe der Ukraine-Analysen rückt die Perspektive ukrainischer Expert:innen des Humanitären Völkerrechts und des Internationalen Strafrechts in den Mittelpunkt. Sie geben einen Einblick in die Debatten und Herausforderungen, denen sie sich seit 2014 und insbesondere seit dem 24. Februar 2022 angesichts des nun erreichten Ausmaßes des russischen Angriffskriegs gegenübersehen.
Die drei Autor:innen sind seit geraumer Zeit mit einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt zu "Politiken des Völkerrechts im post-sowjetischen Raum" (PolVR, 01UC1901) am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) verbunden. Seit dem Frühjahr 2022 sind Kateryna Busol und Oksana Senatorova als Stipendiatinnen der VolkswagenStiftung am IOS tätig. Im Rahmen ihrer Projektarbeit widmen sich die beiden Völkerrechtlerinnen mit Unterstützung ihrer nationalen und internationalen professionellen Netzwerke der Dokumentation und Analyse von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine seit 2014.
In ihrem Beitrag reflektiert Kateryna Busol gemeinsam mit Dmytro Koval die Rolle von nationalen und internationalen NGOs in der Dokumentation von Kriegsverbrechen und der Verletzung von Menschenrechten auf dem Gebiet der Ukraine. Sie nehmen dabei das Zusammenspiel zwischen dem ukrainischen Staat und der ukrainischen Zivilgesellschaft in den Blick und machen auf Herausforderungen hinsichtlich der Koordinierung und Zielsetzung der verschiedenen Akteur:innen und Initiativen aufmerksam. Ein Leitmotiv ihres Beitrags lässt sich deutlich zwischen den Zeilen lesen: Sie mahnen einen reflektierten Umgang mit den Opfern des Krieges an, deren Retraumatisierung im Zuge der so wichtigen Dokumentation und Aufklärung vor allem zu vermeiden ist.
Eine Opfer-fokussierte Perspektive nimmt auch Oksana Senatorovas Beitrag ein. Sie diskutiert u. a. die Frage, welche natürlichen und juristischen Personen neben dem ukrainischen Staat als Opfer vor einem internationalen Sondertribunal für das gegen die Ukraine begangene Verbrechen der Aggression ihre Ansprüche geltend machen könnten. Sie weist die Leser:innen auch auf rechtliche Lücken hin, u. a. dass Stellung und Rechte von individuellen Opfern eines Angriffskriegs, im Gegensatz zu denen von Opfern von Verletzungen des Humanitären Völkerrechts, der Internationalen Menschenrechte und des Völkerstrafrechts, vor nationalen und internationalen Gerichten noch nicht klar geregelt sind. Die Autorin zeigt in ihrem Beitrag Szenarien auf, wie nicht nur ihre Stimmen Gehör finden könnten, sondern auch, wie ihnen ein Recht auf Wiedergutmachung eingeräumt werden kann.